www.personcentered.net


startseite

forum

chat

resonanz

musik

links

literatur

community

protokoll
personcentered net
personcentered chat
schwarzes Brett
für Persönliches
und Fachliches
personcentered community
gemeinsamer
Gedankenaustausch
zu einem Thema
Musikprojekt und
Lied der Woche
wissenschaftliche Texte
Essays
Buchtipps
Literaturliste
über 1.000 links
zu den Themen:
:: psychische Krankheit
:: Psychiatrie
:: Psychologie
:: Psychotherapie
mit Stichwortsuche
Neuerungen
Entwicklung

Inhaltsverzeichnis

Klientenzentrierte Psychotherapie in der Seelsorge

nächste Seite


4. Exkurs: Emmanuel Levinas: Der Vorrang des Anderen



Wie wir gesehen haben, liegt das Hauptaugenmerk der Kritiken aus dem Bereich der Psychotherapieforschung und Seelsorge auf dem Menschenbild der KP. Dies war mit ein Grund, dieses Menschenbild mit seinen philosophischen Wurzeln, als Hintergrund der Persönlichkeitstheorie und als mögliches Haupthindernis einer Rezeption der KP in der Seelsorge, ausführlich zu beleuchten. Es wurde gezeigt, daß die Theoriebildung der KP in diesem Bereich noch vieles offen läßt, obwohl hierzu schon einige über C. Rogers hinausgehende Versuche unternommen wurden. Die unterschiedlichen Auffassungen ergeben ein offenes Diskussionsfeld. Endgültige "Wahrheiten" oder "Weisheiten" können wohl nicht gefunden werden. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber: wie können Seelsorge und KP gemeinsam Heil für die Menschen ermöglichen? Antworten darauf werden auch davon abhängig sein, welches Bild vom Menschen, seinen Beziehungen, seinen Nöten und seinem Leid wir haben und wie sehr dies dem Geheimnis des Menschseins entspricht. Dieses Bild zu fassen und zu beschreiben wird eine der Hauptaufgaben sein, um Handlungsformen im oben angesprochenen Sinn zu erschließen. Eine Beschreibung bzw. Reflexion ohne praktische Fundierung wäre hier aber ebensowenig sinnvoll wie unreflektiertes Handeln. In diesem Sinne wird die Theologie ihr "unveränderliches", doch im Grad der Erkenntnis wandelbares Bild vom Menschen weiter zu erforschen trachten, genauso wie die KP das ihre. Einen Beitrag hierzu mag der Blick auf die philosophischen Entwürfe Emmanuel Levinas' leisten.

E. Levinas wurde 1905 in Litauen geboren und lebt seit 1923 in Frankreich, wo er an der Pariser Sorbonne lehrte. In seiner Philosophie finden sich Ansätze, die in ihrer Radikalität weit über M. Buber hinausweisen und "auch Aspekte einer personzentrierten Anthropologie zu erhellen vermögen, die bislang unterbelichtet geblieben sind. Darüber hinaus werden hier neue Zugänge zu einem Verständnis des Menschen als eines zutiefst dialogischen Wesens deutlich, dessen je 'absolute' Andersheit Levinas - weit radikaler als Buber - zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht hat, womit der Anspruch des Verständnisses einer wahrhaft personzentrierten Beziehung erneut und von einer neuen Position her akzentuiert werden kann." In unserem Zusammenhang ist vor allem die Transzendierung der Sicht der Begegnung als Beziehungsgeschehen von Zweien von Interesse. M. Buber versucht Menschsein dadurch zu erfassen, indem er den Menschen als dialogisches Wesen des Zu-zweien-Seins versteht. E. Levinas stößt hier weiter vor, zum Dritten, und zielt auf die Dreieinigkeit als Grundelement von Interpersonalität.


4.1 Der Aufbruch zum Anderen


E. Levinas wird allgemein als der Denker "des Anderen" bezeichnet. Seine Philosophie ist im existentialistischen und phänomenologischen Umfeld anzusiedeln, wo er sich unter anderem mit E. Husserl und M. Heidegger auseinandersetzte, bei denen er studierte. Ein zentraler Aspekt ist für ihn die Frage nach dem Anderen und nach der Verantwortung, die sich für jeden aus der Beziehung zum Anderen ergibt. Er bezeichnet die Ethik - und nicht die Ontologie - als Grundlage jeder Philosophie, da die Verantwortung, die aus der Begegnung mit dem Anderen entspringt, allem vorausgeht. Zunächst bleibt E. Levinas ganz existentialistisch. Existieren heißt für ihn angekettet sein an sich selbst und in sich selbst verstrickt sein. Dabei ist ein Ausbrechen unmöglich. "Unser Sein selbst, nicht ein Anderer, legt uns eine Knechtschaft auf: Der erste Herr ist das Selbst, die erste Entfremdung ist, nicht von sich selbst loskommen zu können, in unserer Totalität gefangen zu sein." Das Streben nach "absoluter" Autonomie, nach Freiheit des Selbst, die Bildung von Selbst-Bewußtsein, das so angelegt ist, es bei sich selbst zu finden und durch sich allein zu erreichen, sieht E. Levinas schon als erste Entfremdung. Für ihn ist die Grundlage, Selbst-Bewußtsein zu erlangen, nicht die Selbst-Reflexion, sondern das In-Beziehung-Treten zu einem Anderen. 
Mit dieser Auffassung steht er im Widerspruch zur traditionellen und modernen Philosophie. Er kritisiert vor allem die Fixierung auf das Ich als Ort der Seinserkenntnis: "Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie. Aus diesem Grund ist sie wesentlich Philosophie des Seins, ist Seinsverständnis ihr letztes Wort und die fundamentale Struktur des Menschen. Aus diesem Grund auch wird sie Philosophie der Immanenz und der Autonomie oder Atheismus. Von Aristoteles bis Leibnitz über die Scholastiker ist der Gott der Philosophen ein der Vernunft entsprechender Gott, ein verstandener Gott, der die Autonomie des Bewußtseins nicht zu trüben vermöchte; durch alle Abenteuer hindurch findet sich das Bewußtsein als es selbst wieder, es kehrt zu sich selbst zurück, wie Odysseus, der bei all seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zugeht." 

Es gibt aber ein Verlangen des Menschen nach dem ganz Anderen, das außerhalb des Selbst liegt. Diese Verlangen richtet sich auf etwas, das anders ist als alles, anders in einer absoluten Weise. Dieses Andere erfordert aber eine Bewegung des Selben, des Selbst, zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt. Dies steht im Gegensatz zur Bewegung des Odysseus. Es ist eine Bewegung, die sich in der Geschichte des Abraham wiederfinden läßt, der sein Vaterland für immer verläßt und in ein unbekanntes Land aufbricht, ohne genau zu wissen, was ihn erwartet.

Die soziale Beziehung ist für E. Levinas mit der Entscheidung Abrahams zu vergleichen. Dabei ist der Andere der, der das Ich aus sich heraustreten läßt, sein Angekettetsein an sich selbst sprengt und somit das Ich von sich selbst entlastet. Durch diese Argumentation will sich E. Levinas von der Dialogischen Philosophie abgrenzen, obwohl er M. Buber in manchem zustimmt. M. Bubers Grundwort Ich-Du und der Gedanke, daß der Dialog der Ort ist, wo sich Transzendenz ereignet und daß von dort, vom Nächsten der Weg zu Gott führt, weisen für E. Levinas in die richtige Richtung. Aber er geht weit darüber hinaus. Die Ich-Du-Beziehung bezeichnet er - im Gegensatz zu M. Buber - nicht als harmonische Mitgegenwart von Angesicht zu Angesicht. Sie beinhaltet eine Verpflichtung. M. Buber betont in seiner Philosophie die Reziprozität, die Beziehung zwischen dem Ich und dem Du ist bei ihm von Gegenseitigkeit bzw. Ebenbürtigkeit bestimmt. E. Levinas hebt hingegen besonders die Dissymetrie hervor, in der das Ich in der Beziehung zum Anderen jeden Herrschaftsanspruch zugunsten des Dienstes aufzugeben hat. "Ein solcher Herrschaftsanspruch meldet sich, wo der Andere für die Befriedigung eigener Bedürfnisse mißbraucht wird - etwa als Ergänzung oder als Feind statt grundsätzlich als Mitmensch." 


4.2 Die Erfahrung des Anderen im Antlitz


Mit der Einführung der Dimension des Anderen ergeben sich Konsequenzen für die zwischenmenschliche Beziehung. In unserem Zusammenhang ist nun interessant, wie E. Levinas in seinem Denken die Entfaltung des autonomen Subjektes in der zwischenmenschlichen Beziehung erörtert. Zunächst ist es aber wichtig zu umschreiben, wer "der Andere" eigentlich ist. 

Die Beschreibung einer anderen Person, die von der äußeren Erscheinung, der Herkunft, den Verhältnissen usw. ausgeht, behandelt eine Person wie einen Text, der durch seinen Kontext gedeutet wird. Der Andere ist aber immer mehr als seine Verhältnisse. "Levinas weist darauf hin, daß auch dort, wo behauptet wird, ich selbst werde durch den Anderen, noch ein versteckter Solipsismus herrscht: Auch der Andere wird dabei vom Ich her verstanden, wird zu einem Alter ego. In der Totalität, das heißt in der Gesamtheit der Lebenssphäre des Ego, wird das Selbstbewußtsein nicht überwunden, bleibt alle Philosophie Egologie." 

Um dem Solipsismus zu entgehen, setzt E. Levinas anders - nämlich beim Anderen - an. "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.[...] Die Begegnung des Anderen besteht darin, daß ich ihn nicht besitze." In der Berührung durch den Anderen vollzieht sich erst die Subjektivität des Subjektes. Der Andere kommt von außen auf mich zu und begegnet mir im Antlitz. Ich kann mich diesem Antlitz nähern, es aber nicht vereinnahmen. Das Verlangen, dem Anderen zu begegnen, findet seine Erfüllung in der Erfahrung des Antlitzes. Das Antlitz offenbart sich dort, wo mein Blick vom Blick des Anderen getroffen wird und ist der Ort, an dem der Andere als der Andere erfahrbar wird. Der Andere ist dabei nicht Objekt, kann nicht auf Grund seines Kontextes erschlossen werden, er geht über die Idee des Anderen in mir hinaus, ist außerhalb von mir. "Das Verhältnis vom Selbst zum Anderen, von der Interiorität zur Exteriorität, von der Totalität zur Unendlichkeit ist 'Transzendenz', das Anerkennen des Anderen in seiner Freiheit. Das Selbst und das Andere bleiben dabei grundsätzlich getrennt." 

Die Existenz des Anderen ergibt sich nicht erst in bezug auf das Selbe, es ist das absolut Andere. Trotzdem kann das Andere als Anderes dem Selbst im Antlitz erfahrbar werden. "Zunächst gibt es da eine eigentliche Geradheit des Antlitzes, seine gerade, schutzlose Darbietung. Die Haut des Gesichtes ist die, die am meisten nackt, am meisten entblößt bleibt. Am meisten nackt, obgleich von dezenter Nacktheit. Auch am meisten entblößt: Im Antlitz gibt es eine wesentliche Armut; der Beweis dafür liegt im Versuch, diese Armut zu maskieren, indem man Posen, eine bestimmte Haltung annimmt. Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet, zu töten." 

"Der Blick des anderen, der aus dem Antlitz leuchtet, steht aber nicht in Augenhöhe mit mir, sondern trifft mich aus einer Höhe über mir und zugleich - und das ist kein Gegensatz zur Höhe - aus seiner Armut und Niedrigkeit, die nach mir verlangt. Ein solcher Blick läßt mich nicht erstarren, sondern erweckt mich. Es geht jetzt nicht mehr zuerst um mein Ich-Selbst, sondern um das menschliche Ich als Sich; nicht zuerst um Rück(und damit gerade Selbst)bezüglichkeit, nicht zuerst um Reflexion, sondern um Angesprochen(als Angeblickt)sein, um Betroffenheit, um Akkusation, um An-Klage. Also ist auch nicht mein Sehen (bzw. Sprechen) das entscheidende, sondern das Gesehen(bzw. Angesprochen)-werden. Dieses Gesehen- und Berührtwerden bricht meine Aktivität auf. Es verletzt mich unendlich und legt mich bloß in eine Empfänglichkeit und Verletzlichkeit, die nach Levinas passiver ist als alle Passivität. Aber nur durch diesen Bereich der offenen Wunde werde ich als Angeblickter vom anderen, vom Nächsten zu ihm gerufen. Ich kann ihm also nahe sein, weil er mir nahe ist. Allerdings kann meine Nähe zu ihm seine Nähe niemals erreichen. Würde nämlich der andere als der Nächste durch meine Näherung erreicht ( oder auch nur als erreichbar gewollt ), so würde sich die Wunde der Betroffenheit schließen, und ich wäre beim anderen als meinem anderen, meinem Nächsten schließlich doch nur wieder bei mir selbst." 

Wir sehen, bei E. Levinas hat sich die Perspektive grundsätzlich gewandelt. E. Levinas schreibt über seine Philosophie: "Was ich versucht habe zu beschreiben, ist ein ursprüngliches 'Nach ihnen mein Herr!'". Der Andere steht nicht mehr in meiner Optik, "sondern ich stehe in der Optik des anderen", da alles Denken, das vom Ich ausgeht, beim Ich und damit allein bleibt. Selbst-Verwirklichung passiert nun nicht einfach unter Einbeziehung des Anderen als eines Objektes, im Sinne eines Monologes, sondern führt auf Selbst-Annahme in Intersubjektivität hin. "Selbst-Annahme ist die personale Existenz aber insofern, als für sie die nicht machbare, freie Zuwendung eines Du lebensnotwendig ist." Die dialogische Begründung des Menschen wird bei E. Levinas daher zutreffend mit 'Du-Ich'(vgl. im Gegensatz Ich-Du bei M. Buber) bezeichnet. 


4.3 Dialogische Ethik: der Andere als Appell und Provokation


Wie versteht nun E. Levinas Beziehung, die der radikalen Transzendenz des Anderen gerecht wird? Der Andere läßt das Ich nicht gleichgültig, er fordert sein Begehren heraus. Hierbei trifft E. Levinas die für ihn wichtige Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Begehren. "Im Bedürfnis richtet sich das Ich auf sich selbst, im Begehren auf den Anderen. Der Andere kann nicht Gegenstand eines Bedürfnisses sein, womit das Subjekt nur zu recht einen Mangel kompensierte und damit sein Bedürfnis befriedigte - und womit wieder ein Herrschaftsanspruch vorliegt. Das Begehren hingegen hat seine Quelle nicht im Subjekt, sondern kommt vom Anderen her." Der Andere ist hierbei die Bedingung des Subjektes im Sinne eines Zieles. Ein Ziel allerdings, das nicht erreichbar ist, sondern unendlich bleibt. Das Unendliche bleibt so der Gegenstand des Begehrens. Ein Begehren, das aber niemals erfüllt werden kann, da es die Idee des Unendlichen in uns darstellt. Es wächst im Gegenteil in dem Maße, "in dem das Subjekt seinem 'Gegenstand' nach- und nahekommt. Das Begehrenswerte sättigt nicht das Begehren, sondern verstärkt es, 'nährt mit neuem Hunger'". "Das wahre Begehren ist dasjenige, das durch das Begehren nicht befriedigt, sondern vertieft wird. Es ist Güte." 

So ist der Andere nie ganz einholbar, bleibt immer absolut anders und ermöglicht dadurch erst einen Dialog. Die Erfahrung des Anderen bleibt immer 'asymmetrisch', weil der Andere nie Alter ego ist. Daß der Andere mir als Antlitz begegnet, ist für E. Levinas das 'Urphänomen einer Ethik'. Der asymmetrische Charakter der Beziehung bringt eine Verpflichtung und ruft mich vom 'Höchsten her' zur Verantwortung, ist Appell und Pro-vokation. "Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung[ ordre ] zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist die Aufforderung zur Antwort." 

"Insofern der Blick des anderen nicht so sehr leuchtet als vielmehr >spricht<, bedeutet die Empfänglichkeit, in die mich der Blick des anderen bloßlegt, Angerufensein, Aufgerufensein. Dabei stehe ich unter dem An-Spruch wie unter einer An-Klage. Das Aufgerufensein, das Angeklagtsein enthüllt mich somit als Ver-Antwortlichen auf das vorgängige Wort des anderen, des Nächsten. Verantwortlichkeit entspringt daher nicht mir selbst, sondern entsteht im Getroffenwerden durch den anderen als Nächsten. Ontologie in diesem dialogischen Sinn weist dann aber den Logos zutiefst als Ethos aus.[...] [Dieses Ethos bedeutet, Vf.], sich im Gehen auf den anderen einzurichten, Aufenthalt zu nehmen in der unaufhörlichen Wanderung auf den Nächsten zu, der sich selbst unendlich entzieht." 

Subjektivität bedeutet nicht ein Für-Sich-Sein, sondern ein ursprüngliches Für-einen-Anderen-Sein. Der Andere fordert mich zur Solidarität und Verantwortung und verlangt, daß ich für ihn sei und nicht nur mit ihm. So verschiebt E. Levinas die Moral. Das Gute steht nicht mehr am Ende ( im Himmel ), sondern am Anfang, in der Begegnung mit einem anderen Menschen.


4.4 Sprache als Für-Sprache


Sprache bildet das Medium der Begegnung mit dem Anderen. Das bedeutsamste ist für E. Levinas dabei nicht das Gesagte, sondern das Sagen. Die aufmerksame Sprache ist nicht dadurch gekennzeichnet, sich gegenüber dem Anderen zu behaupten oder sich durchzusetzen, sondern geschieht um des Anderen willen, in der Verantwortung ihm gegenüber. "Das Sprechen geschieht dann bei aller Offenheit und Deutlichkeit des Gehaltes in der Scheu, das Gesagte als unumstößlich, als unangreifbar feststehend hinzustellen. Es geschieht in der Bereitschaft der Zurücknahme. Ein Gespräch ohne Bereitschaft wäre kein Dialog, sondern der Kampf sich aufblähender Monologe um den Sieg." So wird jedes Sprechen zum Sprechen für den Anderen, zur Für-Sprache und zur Antwort im Sinne von Verantwortung. Der Dialog wird "zur Umkehr, die alle Brücken hinter sich abbricht in eine andere, unbekannt Zukunft - ein 'mouvement sans retour', wie dies auf Gottes Geheiß eben Abraham, nicht aber Odysseus getan hat." 

Umkehr im oben genannten Sinne ist auch notwendig, um das gegenwärtige Defizit an Mit- Menschlichkeit zu überwinden, durch das alles, was ist, schlecht gedacht wird. Hierzu muß der Schritt, die Umkehr vom abstrakten Blick auf 'den Menschen' und 'alle Dinge' zum einzelnen konkreten Mit-Menschen gewagt werden. "Wenn der Mensch den Menschen wieder in den Blick bekommt, 'dialogisch wird', wenn er in dieser neuen Optik ihn praktisch 'in die Gegenwart kommen läßt', kann der Andere (wieder) als Appell und 'Pro-vokation' erfahren werden." 
Durch den Anruf des Anderen wird sich das Ich seiner Verantwortung für den Anderen bewußt, Das Ich wird vom Anderen, vom Du, in den Dienst gerufen. "Dia-Konie vor jedem Dia-Log: Ich analysiere die zwischen-menschliche Beziehung so, als wäre in der Nähe zum Anderen - jenseits des Bildes, das ich mir von anderen Menschen mache - sein Antlitz, der Ausdruck des Anderen[...] das, was mir befiehlt, ihm zu dienen." 
Damit wird das Verhältnis zwischen Selbst-Bewußtsein und Sprache umgekehrt. Sprache ist nicht primär dazu da, die Bewußtseinszustände des eigenen Ichs auszudrücken und so in Kontakt mit dem Du zu kommen. Selbst-Bewußtsein hat als Voraussetzung seiner Möglichkeit die Begegnung im Dialog. "Die Verantwortung des Ich besteht im Abschied vom Selbst. Dialog ist die Nicht-Gleichgültigkeit des Du für das Ich. Im Dialog öffnet sich die Gnade des Auf-mich-Zukommens des Anderen. Diese Begegnung ist dann der ursprüngliche Ort des Ethischen, das in diesem Sinne seinem Ursprung nach Zuwendung, Liebe ist - Liebe, die weder im Ich noch im Du allein gegeben ist." 

Begegnung wird zum Akt der Liebe, der sich als unmittelbares Erleben im gegenwärtigen Augenblick manifestiert und in seiner unvergleichlichen Nähe zugleich immer Abwesenheit ist. H. Windisch charakterisiert diese Nähe folgendermaßen: "Nähe ist gleichzeitig Weggang, Gegenwart gleichzeitig Abwesenheit, Gemeinschaft gleichzeitig Unverfügbarkeit." So wird das Erleben des gegenwärtigen Augenblickes zum Ursprungspunkt für alles, Vergangenheit und Zukunft. 


4.5 Von dem Anderen zu den Anderen


In der Beziehung vom Du zum Ich entsteht ein Problem, das E. Levinas besonders hervorhebt. Es gibt nicht nur ein Antlitz, nicht nur ein Du, sondern viele, wo jedes für sich anders ist als die Anderen. Somit gibt es den Anderen in der Gegenwart des Dritten. "Mit dem Dritten wird die Unmittelbarkeit der Orientierung verloren, und es stellt sich erneut die ethische Frage. Die Präsenz des Dritten stellt das Subjekt nämlich vor das Problem der Gerechtigkeit [justice]: Der Dritte ist anders als der Nächste, aber doch nur ein anderer Nächster. So findet sich das Subjekt vor der Alternative, sich dem Nächsten oder Dritten zuzuwenden. Die Unmittelbarkeit der Orientierung am Anderen ist verloren und macht einer Ratlosigkeit Platz: Es gibt ja viele Andere." 

Auch wenn faktisch nicht immer ein dritter Mensch hinzutritt, ist er doch mit dem Antlitz des Anderen gegeben, da sein Antlitz im Antlitz des Anderen aufleuchtet. So ist für das Selbst ethische Orientierung ungemein kompliziert und das Handeln versteht sich nicht von selbst, da es nicht einen alleinigen Anderen gibt. "Es gibt einen Dritten, der ebenso sehr mein Nächster und der Nächste des anderen ist, der mir begegnete. Hinter der Einzigartigkeit der beiden Individuen steht eine Gesellschaft, das Menschengeschlecht. In dem Moment, da der Dritte hinzutritt - nennen wir ihn C im Unterschied zu B -, kann ich nicht umhin, mir, auch wenn ich B und C uneingeschränkt liebe, die Frage vorzulegen: Was ist wohl ihre gegenseitige Beziehung? Vielleicht hat B C ausgeraubt? Vielleicht hat B C zu Tode beleidigt oder bedroht? In dem Moment, da wir drei sind, gilt abzuwägen, zu vergleichen, zu urteilen, nicht mehr uneingeschränkt zu lieben." 
Ethisches Handeln erfordert so die Distanzierung von dem einen Anderen zugunsten eines anderen Anderen. Der einzelne muß sich zwischen verschiedenen Ansprüchen entscheiden, den Anderen zum Gegenstand der Entscheidung machen und als Subjekt zum Ich werden, das so "fähig der Gegenwart, fähig des Anfangs, Akt des Verstehens und der Freiheit" wird. 


4.6 Die Spur des Anderen: In der Spur des Ganz-Anderen dem Anderen begegnen


Einen weiteren Grund über das Du "hinauszugehen", gewinnt E. Levinas durch die Frage: Kann das Ich den Anderen überhaupt erreichen? Diese Frage ist mit einem eindeutigen nein zu beantworten. Der Andere ist nie ganz einzuholen, er entzieht sich unendlich und kommt nie zur Gegenwart. Jede Beziehung zum Anderen vermittelt den Hauch der Annäherung an das Unendliche, ist eine Art Gegenwart eines Abwesenden, der nie gegenwärtig wird, da er gleichzeitig immer schon vergangen, vorübergegangen ist. 

So kann auch meine Beziehung zum Anderen immer nur einer Annäherung gleichkommen und nie Erkenntnis sein. Beziehung zum Anderen ist demnach das Verfolgen der Spur des Vorübergangs. Sie ist die "Spur eines Vorübergangs (passage), der nie Gegenwart geworden ist; Spur dessen, der nicht eintreten (entrer) konnte, weil er wesenhaft außerhalb (exterieur) ist.[...] Das Du als er andere jedoch ist mehr als das Du - jenseits von Liebenswürdigkeit oder Nicht-Liebenswürdigkeit, jenseits der Gegenwart aller ihm zuschreibbaren Eigenschaften oder des ihm eigenen Wesens, jenseits der gemeinsamen Zeit von Ich und Du und wenn man so will, von Es: Denn Beziehung zum geliebten Du als anderem, zu seiner unendlichen Entfernung, ist nicht die der Synchronie, sondern die der Diachronie. Der andere ist deshalb nicht Ich in der 1. Person, auch nicht nur das Ich in der Form der 2. Person, also Du. Er ist vielmehr 'Er', das heißt, er spricht mich aus einer Jenseitigkeit an, die für Levinas Höhe (hauteur) ist." 

Diese Jenseitigkeit, die als Illeität bezeichnet wird, unterstreicht die Irreversibilität des ethischen Anspruches, den der Andere mir gegenüber hat und dem ich mich nicht entziehen kann. In der Spur der Illeität transzendiert sich die Totalität, die mir in der Begegnung des Anderen als Du, den Ganz-Anderen vorübergehen läßt. Das Du, das Antlitz, tritt so zwischen das Ich und den absoluten Er. Im Du nehme ich die Fährte des Unendlichen auf, das mir immer Rätsel sein wird und sich nicht vergegenwärtigen und in Begriffe fassen läßt. "Das Unendliche - der unsichtbare Gott - ist in seiner absoluten Transzendenz nicht einfach ein Du, das ich ansprechen kann, sondern ein Er [il]. Er ist jenseits des denkenden Zugriffs." 

E. Levinas sieht somit in der dialogischen Begegnung des Anderen als Nächsten Gott vorübergehen, in dem sich die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden. Nur die Beziehung zu Mitmenschen ermöglicht Erkenntnis Gottes. G. Vergauwen charakterisiert in Anlehnung an E. Levinas Gottesbegegnung so: "Man kann vom Unendlichen nur durch den Dienst am Anderen Zeugnis ablegen. In diesem Dienst - 'Hier bin ich' - geschieht seine Offenbarung." 



4.7 Anfragen 


Nach dieser knappen Darstellung wird deutlich, daß E. Levinas in höchst bedeutsamer Weise über die traditionelle Begegnungsphilosophie im Umkreis und in der Nachfolge M. Bubers hinausgeht. Er vermag damit auch für die KP und die Weiterentwicklung ihres Menschenbildes wichtige Aspekte menschlicher Beziehung neu zu erhellen. Eine umfassende Aufarbeitung der Philosophie E. Levinas' von seiten der Psychotherapie, aber auch der Theologie, steht noch aus und könnte auf Grund des radikalen Perspektivenwechsels, den E. Levinas durch seine Anthropologie einführt, wichtige neue Denkanstöße hinsichtlich der Beschreibung der menschlichen Existenz für die KP und die Seelsorge gleichermaßen ermöglichen. Ich möchte an dieser Stelle lediglich ein paar Punkte aufzeigen, ein paar Anfragen stellen. Mehr kann im vorgegebenen Rahmen nicht geschehen. 

Grundsätzlich wäre es interessant zu untersuchen, wieweit sich Annahmen E. Levinas' im therapeutischen setting oder seelsorglichen Gespräch wiederfinden, und ob sie einer empirischen Verifikation standhalten würden? Dabei könnte man z.B. untersuchen, inwieweit die Annahme der Dreieinigkeit als Grundelement von Interpersonalität in der therapeutischen wie seelsorglichen Praxis zu bestätigen sei. 

Ein Vorwurf, den die KP nie ganz zu entkräften wußte, ist jener, daß ihr Konzept zu individualistisch sei. Wie gezeigt wurde, ist dieser Vorwurf nur zum Teil berechtigt. Für die KP könnten sich durch einen völligen Perspektivenwechsel im Sinne E. Levinas' in der Beschreibung menschlicher Beziehungen möglicherweise neue Aspekte auftun. 

Ein besonders bedeutsamer Gesichtspunkt levinas'scher Philosophie zeigt sich darin, daß die Ethik als Grundlage jeder Philosophie allem vorausgeht. In der Beschäftigung mit der KP ist aufgefallen, daß der ethische Aspekt, sofern er nicht implizit im Konzept vorhanden ist, vernachlässigt wird. Kaum spielt eine ethische Betrachtung eine Rolle und werden Therapiekonzept, Therapiesituation oder Therapieziel auf ihre ethisch-moralische Bedeutung hin überprüft. Wie sehr wird in allzu harmonischer und "glatter" Weise die Beziehung zwischen Therapeut und Klient dargestellt und bleiben die Erfahrung von Grenzen, Frustration und Leid aus dem theoretischen Konzept ausgespart? Damit wird zum Teil ein Bild therapeutischer Kompetenz vermittelt, in dem der Therapeut, der die therapeutischen Grundhaltungen als Charakterhaltung internalisiert hat und sie in der therapeutischen Situation anwendet, den Anderen völlig verstehen und in seiner Lebenswirklichkeit wirklich erfassen könnte. Doch wievielmehr bleibt der Andere unverfügbar? Wiewenig ist vom Anderen letztlich zu erkennen? Er, der mir immer zu einem viel größeren Teil Rätsel bleiben wird, als ich ihn in der Beziehung je erfassen kann. Durch die Auseinandersetzung mit E. Levinas wird jene Perspektive der Wahrnehmung gestärkt, die die Demut und Achtung vor dem Geheimnis und der Würde des einzelnen wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. 

Der Aspekt der letztlichen Unverfügbarkeit und Transzendenz des Anderen sollte dem einzelnen Therapeuten - genauso dem Seelsorger - vor einer vermeintlichen Mächtigkeit gegenüber jedem Hilfesuchenden bewußt bleiben. Therapeutisches wie seelsorgliches Handeln ist dahingehend ständig zu überprüfen. Wird dies nicht berücksichtigt, so kann auch Empathie, das einfühlende Verstehen, einer Ideologisierung erliegen und zu einer Form der Vereinnahmung werden. Wie überhaupt jeder in einem helfenden Beruf Stehende durch den Umstand, daß jemand Hilfe sucht bzw. in Anspruch nimmt, in Versuchung gerät, sich überlegen und mächtig zu fühlen.

Ein wesentliches Defizit der KP ist ihre offensichtliche Transzendenzarmut. Die religiöse Dimension gehört wohl mit zu den Grundvollzügen menschlicher Existenz und ist in der Formulierung eines Menschenbildes nicht zu umgehen. So würde eine Beschäftigung mit den religiösen Sehnsüchten der Menschen, der vorhandenen religiösen und in unserer Gesellschaft vorwiegend christlichen Sozialisation, der Lebenswirklichkeit menschlicher Existenz eher entsprechen. Hierfür drängt sich dem "Begegnungsansatz" der KP eine Beschäftigung mit E. Levinas förmlich auf. Inwieweit gibt es das Verlangen eines jeden Menschen, nach dem ganz Anderen zu suchen, das außerhalb des Selbst liegt und sich nach seiner Gegenwart zu sehnen? Inwieweit kann ich den Anderen erreichen und in ihm den ganz Anderen, Gott, vorübergehen sehen, in dem sich laut E. Levinas die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden? 

Unabhängig von einer Rezeption der KP in der Seelsorge, sollte sich die KP diese Fragen stellen, um möglicherweise auch den Anforderungen der therapeutischen Situation besser entsprechen zu können.

Inhaltsverzeichnis

Klientenzentrierte Psychotherapie in der Seelsorge

nächste Seite