3. Rezeption der KP in der Seelsorge
Wir haben oben unterschiedliche Beziehungskonstellationen bzw.
-paradigmen von Psychotherapie und Seelsorge besprochen. Im folgenden
sollen einige wichtige Aspekte der KP aus theologischem Blickwinkel
heraus betrachtet und verschiedene Fragen bzw. kritische Anmerkungen
an das Konzept der KP gestellt werden. Eine kritische Betrachtung soll
dabei keineswegs die "Methode des Heilens" abqualifizieren
und apologetisch aus dem Bereich der Seelsorge ausklammern. Versteht
sich die Praktische Theologie auch als Humanwissenschaft, muß sie
aber Interesse an einer gewissenhaften Auseinandersetzung zeigen und
Defizite bzw. mögliche Ungereimtheiten der KP diskutieren, um ihren
Beitrag zur Weiterentwicklung der KP leisten zu können. Hierzu werden
Fragen der Theoriebildung der KP sowie ihr Menschenbild besprochen und
im Hinblick auf ein christlich-theologisches Bild vom Menschen
untersucht. Anschließend werden verschiedene Autoren angeführt, die
wichtige Versuche der Rezeption der KP in der Seelsorge geleistet
haben.
3.1 Kritische Anmerkungen zum Konzept der KP
3.1.1 Fragen der Theoriebildung
Für C. Rogers war es wichtig, seine psychotherapeutischen
Erkenntnisse der experimentellen Wissenschaft zugänglich zu machen,
um Rechenschaft über die Wirksamkeit seiner Therapievariablen leisten
zu können. Hierfür führte er als erster Tonbandprotokolle in die
Psychotherapie ein. Damit wurde die Psychotherapie einer objektiven Überprüfung
zugänglicher gemacht.
Vermissen läßt C. Rogers dieses Anliegen in der Erfassung und Bestätigung
seiner übrigen Therapietheorie. Begriffe wie Selbstkonzept und
Aktualisierungstendenz, die als zentrale Begriffe der Theorie zu
verstehen sind, "erweisen sich als behauptete, empirisch nicht
abgesicherte Konstrukte. Der Verzicht auf experimentell-empirische
Begründung gerade im Bereich der Persönlichkeitstheorie trägt zu
einer gewissen Inkonsistenz des gesamten Gebäudes der Gesprächspsychotherapie
[KP, Vf.] bei".
Dies sei am Begriff der Aktualisierungstendenz veranschaulicht. Sie
bezeichnet unterschiedliche Phänomene und findet sich in der
Literatur sowohl als Aktualisierungstendenz des gesamten Organismus
als auch als Aktualisierungstendenz des Selbst wieder, ohne diese
einheitlich und präzise zu unterscheiden. Genaue Beschreibungen bzw.
Definitionen der einzelnen Begriffe wären notwendig, um eine
Konsistenz im Theoriegebäude zu gewährleisten. Hierzu wäre es wünschenswert,
wenn die einzelnen wissenschaftlichen Vereine und
Ausbildungseinrichtungen für KP in diese Richtung weiterarbeiten und
ihre Ergebnisse koordinieren könnten. Zu berücksichtigen ist natürlich,
daß jedes Konzept, das sich ständig weiterentwickelt, in einem
gewissen Maß nur fragmentarisch sein kann und Unstimmigkeiten
aufweist.
3.1.2 Betonung der Individualität und des subjektiven
Erlebens
Die Humanistische Psychologie und C. Rogers als einer ihrer Vertreter
hatten das große Anliegen, die einseitigen Betrachtungen der Person
durch Behaviorismus und Psychoanalyse zu überwinden. Ob und wieweit
diese Kritik berechtigt ist, muß hier unbeantwortet bleiben. Sie führte
auf jeden Fall auf seiten der Humanistischen Psychologie zu einer
Betonung der Individualität und des subjektiven Erlebens. Genau hier
setzt eine Kritik am Konzept der KP ein. C.F. Graumann hält ihr vor,
daß "die Betonung der individuellen Persönlichkeit und ihres
subjektiven Erlebens, weniger ihres Handelns ... und was noch schwerer
wiegt, die Vernachlässigung ihrer Umwelt ... das Individuum in eine
Isolation (drängen)".
C. Rogers kam es in der Entwicklung seines Konzeptes darauf an, den
Menschen komplexer und selbst-bewußter wahrzunehmen, als dies durch
die Theorien des Konditionierens und der psychoanalytischen Trieblehre
ausgesagt wurde. Es sollte der Schwerpunkt auf die reichhaltige
subjektive Erlebniswelt, auf die Individualität und Originalität
solchen Erlebens gesetzt und gegen Kollektivtendenzen verteidigt
werden. Eine Reihe von Kritikern nahmen dies zum Anlaß, von einem gefährlich-utopischen
Individualismus und egozentrischem Subjektivismus zu sprechen, und
sahen die Gefahr, daß die Klienten irrealen Allmachtsphantasien zu
erliegen drohen, wenn sie mit KP in Berührung kommen. Außerdem würde
eine Unfähigkeit erzeugt, Leid, Schmerz und Endlichkeit des Lebens zu
ertragen. Natürlich können diese Vorwürfe so mancher praktischen
Anwendung der KP entsprechen. Verkürzungen, unverantwortbarer, verwässerter
und vulgarisierter Umgang mit verschiedenen Erkenntnissen und
Ergebnissen der Humanistischen Psychotherapien bzw. der KP schaden der
Seriosität und Reputation der Psychotherapie allgemein und können
nur durch eine seriöse Ausbildung und Auseinandersetzung mit den
einzelnen psychotherapeutischen Konzepten vermieden bzw. minimiert
werden.
Betrachtet man die oben angeführten Kritikpunkte auf dem Hintergrund
der Therapietheorie und dem Grundanliegen der KP, so muß man
verschiedene Aspekte im Auge behalten. Das Interesse bzw. die
Motivation der Therapie ist es, ich-schwachen, sich selbst fremd
gewordenen und gedemütigten Menschen die Wiedererlangung ihrer beschädigten
Ich-Funktionen und die Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühles zu
ermöglichen bzw. sie dabei zu unterstützen. Dem einzelnen darf dies
"nicht mit dem zynischen und reichlich konstruierten Argument
vorenthalten werden, daß Ich-Stärke die Gefahr des Egozentrismus
enthalte. Mit der gleichen Logik kann man Verhungernden die Nahrung
verweigern, weil Essen fett macht".
KP, ob in der Gruppen
- oder Einzeltherapie erfahren, lebt von Beziehungserfahrungen. Die
eigenen Erfahrungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Dies gilt aber
ebenso für die Erfahrungen aller am therapeutischen Prozeß
beteiligten Personen. In der Einzeltherapie führt der Weg zu sich
selbst über den anderen, in diesem Fall über den Therapeuten.
"Dieser agiert entgegen simplifizierender Beschreibung nicht
einfachhin als abbildender Spiegel, sondern als authentische, eigene
Person, die sich selbst in den Dialog einbringt. Indem der Therapeut
echt und einfühlend zugleich im Gespräch anwesend ist, nötigt er
den Klienten, aus der Versponnenheit in sich selbst herauszutreten und
auf den anderen zuzugehen. Der Therapeut erweist sich so als Anwalt
von Realität und Sozialität".
In der Gruppe bildet die Beziehungserfahrung, die Gruppe als
Korrektiv, als Labor und Übungsfeld mitmenschlichen Kontaktes den
Rahmen persönlicher Erfahrung. Es ist bezeichnend, daß die
Erfahrungen in der Gruppe, mehr als in Einzelgesprächen, persönliche
Veränderungen und Entwicklungen beschleunigen und vertiefen. Die KP
versucht die vorhandenen, aber auch begrenzten Selbstheilungskräfte
der einzelnen mit einzel- bzw. gruppentherapeutischen
Beziehungs-erfahrungen und ihrem heilenden Potential zu verbinden und
so Veränderung zu ermöglichen.
Allmachtsphantasien und egozentrischer Subjektivismus treten, wenn überhaupt,
meiner Meinung nach eher am Beginn eines therapeutischen Prozesses
auf, als sie von jenem ausgelöst werden. Diese Hoffnungen an die
Therapie, nur mehr auf sich blicken zu können, fernab jeder
Notwendigkeit von Beziehungsarbeit sich von all seinen Problemen,
Schwierigkeiten und Leid zu befreien und in Richtung ewiger Glückseligkeit
abzuheben, werden im Rahmen eines seriösen Therapiegeschehens sehr
schnell verblassen. Persönlichkeitsentwicklung in Richtung Entfaltung
ist ein sehr intensiver und auch leidvoller Weg, auf dem einem sehr
oft die eigenen Grenzen schmerzvoll begegnen. Dabei gehört es zu
einer der schmerzvollsten Erfahrungen, daß "eingefahrene"
Verhaltensmuster, die ja gleichzeitig auch wichtige Überlebensstrategien
liefern, eine Unsumme von Lebensmöglichkeiten ausschließen. Mehr Möglichkeiten
zu erschließen, das eigene Leben, Beziehungen usw. zu meistern, ist
eine wichtige Aufgabe, die Psychotherapie zu leisten hat und durch ihr
spezifisches "Fachwissen" auch vielfach leisten kann, dabei
dürfen jedoch nie Grenzen und Unzulänglichkeiten menschlichen Tuns
und Strebens vergessen werden.
Abschließend läßt sich sagen, daß die KP ihr Menschenbild
keineswegs nur am Individuum festmacht und die Wichtigkeit der
sozialen Beziehung schon lange erkannt hat, wie es C. Rogers selbst
durch die Aufnahme Buber'schen Gedankengutes in sein Konzept zeigte.
Es bedarf aber auch in bezug auf die in unserer Gesellschaft
wahrzunehmende und sich verstärkende Individualisierungstendenz
eindeutigere Standpunkte in Richtung soziale Dimension einzunehmen, um
die angesprochenen Vorwürfe endgültig zu entkräften. Eine KP, der
dieses Anliegen wichtig ist, würde auch in bezug auf eine
seelsorgliche Rezeption so manche Differenzen beseitigen.
3.1.3 Theologische Anfragen an C. Rogers' Menschenbild
Die therapeutischen Grundhaltungen und das methodische Vorgehen der KP
werden von seiten der Theologie als wichtige und auch christliche
"Tugenden" verstanden und im Bereich der Seelsorge vielfach
kopiert und angewandt. Ihre Wichtigkeit in jeder hilfreichen Beziehung
steht fest. Daher sollen sie hier weitgehend ausgeklammert bleiben.
Anders ist die Lage in bezug auf das Menschenbild der KP, das den
Hauptangriffspunkt der Kritik an C. Rogers darstellt. Helga Lemke
versuchte in diesem Zusammenhang das christliche Menschenbild dem
Menschenbild der KP gegenüberzustellen. Sie geht dabei von der Überlegung
aus, ob eine als wissenschaftlich hilfreich erwiesene
Psychotherapieform alleine den Psychotherapeuten überlassen werden
sollte, oder auch für die Seelsorge fruchtbar gemacht werden könnte.
Hierzu ist es wichtig, daß das Konzept der KP und besonders ihr
Menschenbild sich mit christlichem Denken verbinden läßt, ohne es
von seinem ursprünglichem Konzept zu trennen und "bloß"
nach dem "Fremdprophetie"- oder "ancilla"-Paradigma
für die Seelsorge nutzbar zu machen. H. Lemke stellt an dieser Stelle
zwei Fragen, die es ihrer Meinung nach zu besprechen gilt:
"(1) Wie weit ist es erforderlich, bei der Übernahme der
Klientenzentrierten Gesprächsführung in die Seelsorge auch Rogers'
humanistisches Verständnis vom autonomen Menschen zu übernehmen?
(2) Macht die Fähigkeit zur Selbstaktualisierung und der Weg zur
Selbstkongruenz die christliche Lehre von der Sündhaftigkeit des
Menschen und sein Angewiesensein auf die Erlösung durch Christus überflüssig?
Handelt es sich bei Rogers'[sic!] um die Befreiung des Menschen aus
eigener Kraft, die einer Art Selbsterlösung gleichkommt?"
C. Rogers interpretiert das Sein des Menschen psychologisch. Er sieht
das Sein des einzelnen durch gewisse Sozialfaktoren geschädigt und
beeinträchtigt. Die konstruktiven Kräfte, die sich in jedem Menschen
befinden, werden dabei verschüttet und an ihrer Entfaltung gehindert.
Diese Schädigungen werden von Generation zu Generation weitergetragen
und der Mensch befindet sich so in einer Spannung zwischen Selbst- und
Fremdbestimmung. Die Neuwerdung bzw. Freilegung der konstruktiven Kräfte
wird durch die Therapie ermöglicht und in einem Prozeß der
Selbstfindung, der eine lebenslange Bewegung und Suche darstellt, zu
verwirklichen versucht.
"Die theologische Entsprechung liegt auf der Hand. Das Alte
Testament kleidet diese Zusammenhänge in die mythologische Sprache
von der Geschöpflichkeit und dem Sündenfall. Das Neue Testament
spricht von der Erneuerung des Menschen aufgrund der Gnade Gottes in
der Erlösungstat Christi, die das Vertrauen zu Gott und dadurch zum
eigenen Sein wieder herstellt. Durch die Bindung an Gott kann der
Mensch seine Eigenmächtigkeit aufgeben, die seinen Wert von seiner
Leistung abhängig gemacht hat. Der Blick wird frei von der Fixierung
auf die eigene Person und kann sich der Umwelt zuwenden."
Die Theologie spricht aber nicht von der Schädigung konstruktiver Kräfte,
sondern vom Schuldigwerden des Menschen gegenüber Gott, dem jeder
einzelne für sein Tun verantwortlich ist. Das Heil des Menschen ist
dabei nicht nur auf psychologische Kategorien zu reduzieren. Das Ja
Gottes ist Heil, das Ja Gottes ist Liebe. Die Liebe bildet das Zentrum
beider, der KP wie der Theologie. Für den Theologen ist diese Liebe
eng verbunden mit der Liebe Christi, während die KP diese Dimension
außer Acht läßt.
Damit ist das Menschenbild C. Rogers' nicht ohne weiteres mit der
christlichen Anthropologie vereinbar. C. Rogers' Bemühungen, den
psychischen Prozessen des Menschen Rechnung zu tragen, sprechen aber
auch nicht gegen eine Rezeption der KP für die Seelsorge. Die
Annahme, "in jedem Menschen seien 'positive Kräfte' zu finden,
die nur der Entfaltung bedürfen, um ein sich selbst und andere
bereicherndes Leben zu führen",
müßte aber bei der Übernahme in die Seelsorge auch aus der
christlichen Anthropologie abzuleiten sein. Hierin steckt der oft
gemachte Vorwurf, daß der Mensch im Sinne der KP ausschließlich gut
sei und nach C. Rogers an sich keine negativen, letztlich bösen
Eigenschaften originär aufweise.
Doch wie sieht ein theologisches Verständnis des Menschen diesbezüglich
aus. Der Mensch ist von Gott als sein Ebenbild geschaffen und damit
als solcher gut. Der Begriff der Ebenbildlichkeit erhält seinen Wert
einerseits durch die Gottbezüglichkeit des Menschen, andererseits
durch seine Verantwortung für die Welt. Dadurch, daß sich der Mensch
von Gott gelöst hat, mußte er an dieser Aufgabe scheitern und verlor
seinen Wert gegenüber Gott. Die Geschichte des Sündenfalls schildert
dieses Dilemma und beinhaltet die Selbstverantwortung des Menschen für
sein Scheitern. "Wird die Sünde des Menschen in bezug auf den
menschlichen Bereich der Erfahrung gedeutet, dann ist sie kein Defekt
des Menschen, keine Hemmung der freien Entwicklung des Guten, kein
angeborener Hang zum Bösen, sondern die geschichtliche und
gesellschaftlich vermittelte Entfremdung des Menschen, der an der
Gemeinschaft schuldig wird. Über die konkret gesellschaftliche und
soziale Dimension der Sünde hinaus beschreibt der Begriff den
Selbstbehauptungswillen des Menschen gegenüber Gott."
Obwohl der Mensch sich der Verantwortung gegenüber Gott entzieht,
wird Gottes Ja zum Menschen in Christus Jesus bestätigt und der
Mensch erhält seinen Wert vor Gott zurück. Diese Neuschöpfung drückt
das große Vertrauen Gottes in den Menschen aus. "Sie[die Neuschöpfung,
Vf.] wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß der Mensch im Glauben an
Christus zugleich auch immer ein Angefochtener bleibt, der nicht in
der Lage ist, aus dem Wissen um das Angenommensein heraus stets das
Gute zu tun. Er bleibt in der bekannten Spannung zwischen Wollen und
Vollbringen (Röm. 7) - zwischen Sein und Sollen - die daran erinnert,
daß Vertrauen nicht mit einem naiven Optimismus in den Menschen
gleichgesetzt werden darf."
Der Mensch befindet sich auf seinem Weg zur Vollendung, der einerseits
von der Gnade Gottes abhängig ist und andererseits das eigene Bemühen
um verantwortliches Verhalten Gott und den Menschen gegenüber
fordert.
"Die Konsequenz für den seelsorglichen Bereich zieht Paul
Tillich: Der Seelsorger entdeckt in dem Menschen, dem er helfen will,
positive Kräfte, die nur der Bewußtwerdung bedürfen, um wirksam zu
werden, und er kann solche Kräfte in dem anderen entdecken, wenn er
sich ihrer zugleich in sich selber bewußt wird. [...] Das einzige,
was der Helfer tun kann, ist die noch in dem Ratsuchenden wirksamen
heilenden Kräfte, die Macht der Gnade, zu mobilisieren. Diese Kräfte
können durch die Art, wie der Berater den Ratsuchenden ohne alles
Moralisieren annimmt, gestärkt werden. Wer sich so in der Situation
der Seelsorge verhält, befindet sich in der Nachfolge der
augustinisch-reformatorischen Theologie."
Der von C. Rogers geforderte Optimismus ist demnach auch theologisch
abzuleiten und muß nicht notwendigerweise auf ein humanistisches
Menschenbild zurückgeführt und dadurch als möglicherweise
unbrauchbar für die Seelsorge angesehen werden. Auch erübrigt sich
die anfangs gestellte Frage, ob nicht die Auffassung von der Fähigkeit
des Menschen zur Selbstaktualisierung die Erlösungstat Christi überflüssig
mache. Im Gegenteil: Die Ableitung des Vertrauens in den Menschen aus
Gnade und Erlösung ist gerade die Voraussetzung für einen Theologen,
der KP für die Seelsorge übernehmen will.
Ein christliches Verständnis des Menschen beinhaltet neben der grundsätzlichen
Vertrauenswürdigkeit in die "positiven", guten
Eigenschaften auch ambivalente Aspekte. Schon ein Blick auf das
tagespolitische Geschehen vermittelt ein Bild, das den Glauben an
einen guten und konstruktiven Kern im Menschen gehörig ins wanken
bringen kann. Dabei ist die Verantwortung des einzelnen nicht aus den
Augen zu verlieren, ebensowenig der Glaube an Umkehr, Buße und Versöhnung.
C. Rogers berücksichtigt diesen "negativen" Aspekt der
menschlichen Existenz kaum. Um seinen Standpunkt dazu näher zu
beleuchten, möchte ich hier einen Aspekt des Gespräches zwischen C.
Rogers und Paul Tillich aufgreifen, der das Böse, die Entfremdung
bzw. das Dämonische der menschlichen Existenz beleuchten möchte. P.
Tillich wählte den Begriff des Dämonischen. Er wollte nicht vom sündigen
oder abgefallenen Menschen sprechen, da diese Begriffe für ihn als
nicht ausreichend erschienen. "Der einzig ausreichende Begriff,
den ich fand, war der Begriff 'dämonisch', wie ihn das Neue Testament
in den Geschichten über Jesus gebraucht - ähnlich wie: besessen
sein. Das bedeutet: eine Macht, unter einer Macht, die stärker als
der individuelle gute Wille ist. [...] [Ich, Vf.] verstehe darunter
Strukturen, die zwiespältig sind, beide bis zu einem gewissen Grad
schöpferisch, aber letztlich destruktiv."
Für P. Tillich existieren solche Elemente. C. Rogers äußerte
daraufhin seinerseits Verständnis dafür, in Begriffen von dämonischen
Strukturen zu denken, da einige Dinge, die in der Welt geschehen,
diese Betrachtung naheliegen lassen. Er gibt in diesem Dialog zwar zu
verstehen, daß er diesen Aspekt der menschlichen Existenz als gegeben
annimmt, bezeichnet ihn aber nicht als originär menschlich, sondern
als erlernt. Für ihn stellt es eine Art Notwendigkeit dar, einen
positiven menschlichen Kern anzunehmen, sonst wäre keine Arbeit mit
und am Menschen möglich.
Daß Menschen zu entsetzlichen Grausamkeiten fähig sind, ist ihm
sicher nicht verborgen geblieben.
Abschließend läßt sich feststellen, daß die KP und ihr
Menschenbild einer christlichen Anthropologie nicht grundsätzlich
widersprechen, sondern einiges an Gemeinsamkeiten aufweisen. In der
Rezeption, die nach H. Steinkamp z. B. auf konvergierenden Optionen
beruhen kann, sollte der Schwerpunkt der Diskussion und produktiven
Auseinandersetzung neben der Wahrnehmung der trennenden Aspekte stärker
auf der Betonung des Gemeinsamen liegen, das Heil bzw. Heilung des
Menschen in Liebe zu ermöglichen sucht.
3.2 Versuche der Rezeption: ein Überblick
In diesem Abschnitt soll ein kurzer Überblick über verschiedene
seelsorgliche Rezeptionsversuche der KP gegeben werden. Es gibt einige
Versuche, die, da sie in der wissenschaftlichen Literatur schon
vielfach dokumentiert sind, hier nicht noch einmal ausführlich
besprochen werden sollen.
Die KP zählt zu jenen psychotherapeutischen Ansätzen, aus denen
einige Rezeptionsversuche für die Seelsorge hervorgebracht wurden.
Erste Versuche, Aspekte der KP für die Seelsorge zu erschließen,
erwuchsen aus der amerikanischen Seelsorgebewegung. Seward Hiltner
entwickelte das sogenannte Pastoral Counseling, eine Form
partnerzentrierter Seelsorge, die als ihren psychologischen Gewährsmann
C. Rogers anführte. S. Hiltner versuchte die KP mit einer pastoralen
Perspektive in Verbindung zu bringen. Wichtig war es ihm,
klientenzentrierte Methodik und weniger das Verständnis von Person in
einzelne Bereiche der Seelsorge einzuführen. Echtheit, Akzeptanz und
Empathie sollten in der Seelsorge erfahrbar werden.
In lukanischen Leitbildern fand S. Hiltner jenes Seelsorgeverständnis,
an dem er sein Pastoral Counseling ausgerichtet sehen wollte.
"Der Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter entnimmt er
vor allem das seelsorgliche Prinzip, den anderen zuallererst so
anzunehmen, wie er ist. Das Beispiel vom Hirten und dem verlorenen
Schaf bringt für ihn zum Ausdruck, daß das Ernstnehmen des einzelnen
und die ganzheitliche, liebevolle und bedingungslose Zuwendung zu ihm
zentrale Intention evangeliumsgemäßer Seelsorge sind."
Diese ersten Versuche S. Hiltners wurden vielfach kritisiert, stellen
aber eine Art Rohentwurf einer pastoralen Rezeption der KP dar. I.
Baumgartner spricht sogar davon, daß gerade wegen der Problematik
dieses Entwurfes die Konzeptualisierung einer beratenden Seelsorge
sehr gefördert wurde. Bereits P. Johnson versuchte, die S. Hiltner
attestierte Engführung in eine mißverständlich non-direktive
Seelsorge zu vermeiden, indem er "die Ich-Du-Beziehung, den
Dialog in Rede und Gegenrede, in Theologie und Praxis der
seelsorglichen Beratung stärker hervorhebt".
Die Entwicklung einer klientenzentrierten Seelsorge in Europa wurde
vor allem durch die Ausbreitung der KP selbst vorangetrieben. Einen
wesentlichen Anteil daran nahmen die Veröffentlichungen des Hamburger
Ehepaars Annemarie und Reinhard Tausch ein.
Es entstand eine gesprächspsychotherapeutische Bewegung, die an den
psychologischen Instituten und Beratungsstellen begann und die
kirchlicherseits durch die Aufbruchsstimmung nach dem II. Vatikanum
angeregt wurde.
Seit Beginn der 70iger Jahre hielt das Pastoral Counseling Einzug in
die deutsche Pastoraltheologie und die seelsorgliche Ausbildung. Viele
katholische Pastoraltheologen haben sich, um eine reflektierte
pastorale Rezeption der KP zu erreichen, mit den evangelischen
Kollegen in der Sektion "Kommunikations- und
Verhaltenspsychologie" der Deutschen Gesellschaft für
Pastoralpsychologie zusammengeschlossen. Gemeinsam wurde von diesem
Kreis ein Ausbildungsgang in "beratender Seelsorge"
konzipiert, der an verschiedenen Institutionen angeboten wird.
Einige wichtige Autoren seien hier noch angeführt, die sich um eine
kritische Rezeption der KP für die Seelsorge bemühten und wichtige
Beiträge leisteten. H. Pompey,
Hermann Stenger,
H. Lemke,
Josef Schwermer,
Manfred Belok,
I. Baumgartner
und P. Schmid
haben wichtige Beiträge in diesem breiten und oft spannungsgeladenen
Feld geleistet.
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