III. DAS KONZEPT DER KP IN DER SEELSORGE
Nachdem im II. Kapitel das Konzept der KP vorgestellt wurde, ist es
die Aufgabe dieses Kapitels, einzelne Rezeptionskriterien bzw.
-versuche der KP für die Seelsorge anzuführen und exemplarisch zu
besprechen. Zunächst möchte ich verschiedene bereits bekannte
Bemerkungen und Aussagen zum Verhältnis von Seelsorge und
Humanwissenschaften ins Gedächtnis rufen, die die Wichtigkeit und
Notwendigkeit der Einbeziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in
das seelsorgliche Handeln verdeutlichen sollen.
1. Bemerkungen zum Verhältnis von Seelsorge und
Humanwissenschaften
Das Verhältnis zwischen Seelsorge und Humanwissenschaften war und ist
oft von Spannungen, verkürzten Darstellungen, Verurteilungen,
vorschnellen Abqualifizierungen, aber auch von Interesse, Begeisterung
und Bereitschaft zur Zusammenarbeit geprägt. Trotz dieser
unterschiedlichen Auseinandersetzungen ist mit Karl-Heinz Ladenhauf
festzustellen, daß die Notwendigkeit der Einbeziehung
humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in das Feld
theologisch-seelsorglicher Auseinandersetzung unbestritten ist. Die
katholische Kirche beschreibt ihre positive Grundhaltung gegenüber
den Humanwissenschaften unter anderem in der pastoralen Konstitution
über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes".
Das II. Vatikanum versucht auf die "Situation des Menschen in der
heutigen Welt" (vgl. II. Vatikanum, Gaudium et spes, Nr. 4-10.)
einzugehen und stellt folgendes fest: "Die Lebensbedingungen des
modernen Menschen sind in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht
zutiefst verändert, so daß man von einer neuen Epoche der
Menschheitsgeschichte sprechen darf. Somit öffnen sich neue Wege zur
Entwicklung und weiteren Ausbreitung der Kultur durch das unerhörte
Wachstum der Natur- und Geisteswissenschaften, auch der
Gesellschaftswissenschaften, der Ausweitung der Technik sowie den
Fortschritt im Ausbau und in der guten Organisation der
Kommunikationsmittel. Dementsprechend ist die heutige Kultur durch
besondere Merkmale gekennzeichnet: die sogenannten exakten
Wissenschaften bilden das kritische Urteilsvermögen besonders stark
aus; die neuen Forschungen der Psychologie bieten eine tiefere Erklärung
des menschlichen Tuns." (II. Vatikanum, Gaudium et spes, Nr.
54.).
In einem späteren Abschnitt spricht das Konzil auch von
Schwierigkeiten zwischen Kultur und Christentum, die es, trotz
wichtiger Beiträge der Kirche für den kulturellen Fortschritt,
zweifellos gegeben hat. "Diese Schwierigkeiten brauchen das
Glaubensleben nicht notwendig zu schädigen, können vielmehr den
Geist zu einem genaueren und tieferen Glaubensverständnis anregen.
Denn die neuen Forschungen und Ergebnisse der Naturwissenschaften,
aber auch der Geschichtswissenschaft und Philosophie stellen neue
Fragen, die sogar für das Leben Konsequenzen haben und auch von den
Theologen neue Untersuchungen verlangen. Außerdem sehen sich die
Theologen veranlaßt, immer unter der Wahrung der der Theologie
eigenen Methoden und Erfordernisse nach einer geeigneten Weise zu
suchen, die Lehre des Glaubens den Menschen ihrer Zeit zu vermitteln.
Denn die Glaubenshinterlage selbst, das heißt die Glaubenswahrheiten,
darf nicht verwechselt werden mit ihrer Aussageweise, auch wenn diese
immer den selben Sinn und Inhalt meint. In der Seelsorge sollen nicht
nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der
profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie,
wirklich beachtet werden, so daß auch die Laien zu einem reiferen
Glaubensleben kommen."( II. Vatikanum, Gaudium et spes, Nr. 62.)
Paul VI. sieht die Möglichkeit eines Ineinandergreifens von Seelsorge
und Humanwissenschaften und bejaht bzw. verstärkt diese. Die
Legitimität dieses Anliegens wird vom Papst in seiner Ansprache zur
Schlußsitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils belegt. Im Verlauf
seiner Ansprache meint Paul VI.: "Aber wer dieses vorherrschende
Interesse des Konzils für die menschlichen und zeitlichen Werte
aufmerksam betrachtet, kann nicht leugnen, daß dieses Interesse
notwendig zum pastoralen Charakter gehört, den das Konzil gewissermaßen
als Programm gewählt hat, und er wird anerkennen müssen, daß dieses
Interesse niemals von dem ganz echten religiösen Interesse getrennt
ist, daß sich in der Liebe zeigt, die es einzig beseelt (wo die Liebe
ist, da ist Gott!) und in der Beziehung der menschlichen und
zeitlichen Werte zu den eigentlich geistlichen, religiösen und
ewigen, die das Konzil immer betont und gefördert hat: sie beugt sich
zum Menschen und zur Erde, aber erhebt sich zum Gottesreich. [...]
Wenn wir, verehrte Brüder und Söhne, die ihr hier anwesend seid, uns
daran erinnern, wie wir im Antlitz eines jeden Menschen, besonders
wenn er durch Tränen und Schmerzen durchscheinend geworden ist, das
Antlitz Christi, des Menschensohnes, wiedererkennen können und müssen
(Mt 25,40), und wenn wir im Antlitz Christi dann das Antlitz des
himmlischen Vaters wiedererkennen können und müssen: 'wer mich
sieht', sagt Jesus, 'sieht auch den Vater' (Joh 14,9), dann wird unser
Humanismus christlich, und unser Christentum theozentrisch, so sehr,
daß wir auch sagen können: um Gott zu kennen, muß man den Menschen
kennen".
Für Heinrich Pompey gewinnen wir heute diese Erkenntnisse über den
Menschen unbestreitbar durch die Humanwissenschaften, die uns auch
helfen, im Sinne der Liebe den Menschen zu dienen.
K-H. Ladenhauf meint, daß uns die Humanwissenschaften beim
Kennenlernen des Menschen wesentliche Hilfestellungen geben könnten
und "daß eine Seelsorge, die sich nicht mit diesem Wissen
auseinandersetzt, theologisch wohl kaum zu verantworten sein
wird".
Johannes Paul II. betont in seiner ersten Enzyklika "Redemptor
Hominis" besonders die menschliche Dimension und schreibt den
durch das II. Vatikanum begonnenen Weg der Kirche, ein Weg der
Offenheit gegenüber den Erkenntnissen der Humanwissenschaften, fort.
Für Johannes Paul II. führen alle Wege der Kirche zum Menschen.
"Die Kirche darf am Menschen nicht vorbeigehen; denn sein
'Geschick', das heißt seine Erwählung, seine Berufung, seine Geburt
und sein Tod, sein ewiges Heil oder Unheil sind auf so enge und
unaufhebbare Weise mit Christus verbunden. [...] Es geht um jeden
Menschen in all seiner unwiederholbaren Wirklichkeit im Sein und im
Handeln, im Bewußtsein und im Herzen. Der Mensch in seiner
Einmaligkeit - weil er 'Person' ist - hat seine eigene
Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele.
Von der intentionalen Öffnung seines Geistes und zugleich von den
zahlreichen und so verschiedenen Bedürfnissen seines Leibes und
seiner irdischen Existenz bestimmt, schreibt der Mensch diese seine
persönliche Geschichte durch zahllose Bindungen, Kontakte,
Situationen und soziale Strukturen, die ihn mit anderen Menschen
verbinden; und dies tut er vom ersten Augenblick seiner irdischen
Existenz an, angefangen bei seiner Empfängnis und Geburt. Der Mensch
der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich
gemeinschaftsbezogenen Seins [...] ist der erste Weg, den die Kirche
bei der Erfüllung ihres Auftrages beschreiten muß: er ist der erste
und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst
vorgezeichnet ist [...]."
Für die Seelsorge ergibt sich dadurch ein besonderer Auftrag, den
Johannes Paul II. folgendermaßen formuliert: "Da also der Mensch
der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens,
ihrer Aufgaben und Mühen, muß sich die Kirche unserer Zeit immer
wieder neu die 'Situation' des Menschen bewußt machen. Sie muß seine
Möglichkeiten kennen, die eine immer neue Richtung nehmen und so zu
Tage treten; zugleich aber muß die Kirche die Bedrohungen kennen, die
über dem Menschen hängen. Sie muß sich all dessen bewußt sein, was
offenkundig dem Bemühen entgegensteht, das Leben des Menschen, 'immer
humaner zu gestalten', damit alle Bereiche des Lebens der wahren Würde
des Menschen entsprechen. Mit einem Wort: die Kirche muß alles
kennen, was diesem Prozeß entgegensteht".
Aus diesen Aussagen läßt sich ein klarer Auftrag an die
Humanwissenschaften ableiten, den K-H. Ladenhauf folgendermaßen
formuliert: "Die Erfüllung dieses Auftrages, für die innerhalb
der Theologie vorrangig die Pastoraltheologie/Praktische Theologie
verantwortlich ist, kann ohne kritische Integration human- und
sozialwissenschaftlicher Einsichten sicherlich nicht kompetent
geleistet werden".
Der Auftrag scheint eindeutig, doch wie ist das Verhältnis zwischen
Seelsorge und Humanwissenschaften zu denken, um beiden Bereichen
gerecht zu werden. Paul Michael Zulehner versucht in seinen Überlegungen
die Human- und Sozialwissenschaften mit der Theologie zu vereinen und
wehrt sich hierbei gegen die gängige Gegenüberstellung und
gegenseitige Ausgrenzung.
"Die Pastoraltheologie sagt unablässig, daß wir bei der
Erkenntnis der Situation angewiesen sind auf Wissenschaften vom
Menschen und von der Gesellschaft. [...] Sie haben keinen anderen
Menschen und keine andere Geschichte, an der sie arbeiten, als wir
Theologen. Also müssen wir mit ihnen zusammenarbeiten. Es war schon
oft so im Laufe der Erkenntnisgeschichte, daß weltliche
Wissenschaften (wie Soziologie, Psychologie, Anthropologie) den
Theologen sehr viel zu sagen hatten. Umgekehrt wird auch die Theologie
diesen Wissenschaften Fragen stellen, wenn sie zu oberflächlich, zu
eng, zu 'verschlossen' an diese vielschichtige Wirklichkeit
herangehen, damit 'ideologisch' werden."
Hubert Windisch sieht den Schwerpunkt der Humanwissenschaften in
Erforschung des Handelns des Menschen und die Aufgabe der
Pastoraltheologie im anmahnen dessen, daß menschliches Handeln nur
dann gelingen kann, wenn es im menschlichen Leben um Gott geht.
Umgekehrt meint er, daß ohne humanwissenschaftliche Analyse der
Situation der Gegenwart die theologische Bedeutung der Gegenwart nicht
zu vermitteln sei.
"Über jeden Zuordnungs- Paradigmenstreit hinaus ist daher - um
des Menschen willen - ein gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein von
Pastoraltheologie und Humanwissenschaften im Sinne eines kritischen
Dialoges gefordert."
Es wurde gezeigt, daß ein Miteinander von Seelsorge und
Humanwissenschaften seit dem Zweiten Vatikanum von seiten der Kirche
und Theologie als wichtiger Faktor verstanden wird. Den Menschen in
seinen Nöten und Erfahrungen auf den je eigenen, zeitgemäßen Weg
mit sich und mit Gott zu führen und zu begleiten, ist das Ziel. Aus
der theologischen Praxis sind Ergebnisse der Humanwissenschaften heute
nicht mehr wegzudenken, was die Entwicklung und der Stellenwert der
Pastoralpsychologie ausreichend dokumentiert. Die Bestimmung einer
Praxis des Miteinander beider Bereiche ist nicht immer einfach und
soll im Anschluß exemplarisch in Anlehnung an Hermann Steinkamp
besprochen werden.
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