4. Therapiekonzept und therapeutischer Prozeß
4.1 Die therapeutischen Grundhaltungen
Aus der Beschreibung des Menschenbildes der KP - ihrem Personverständnis,
aber auch durch die Betonung der therapeutischen Beziehung - ergeben
sich konsequenterweise bestimmte Verhaltensweisen bzw. Haltungen, die
der Therapeut gegenüber dem Klienten einzunehmen hat. Die KP spricht
bewußt nicht von Methoden oder Techniken, da es nicht um das Erlernen
und Anwenden eines "technischen Repertoires" gehen kann,
sondern um das Eintreten in eine persönliche, die ganze Person des
Therapeuten umfassende, Beziehung mit dem Klienten bzw. der Person des
Gegenübers.
C. Rogers beschreibt deutlich, worum es ihm geht: "Der
personzentrierte Ansatz ist in erster Linie eine Seinsweise (a way of
being), die ihren Ausdruck in Einstellungen und Verhaltensweisen
findet, die ein wachstumsförderndes Klima schaffen. Er ist eher eine
grundlegende Philosophie als einfach eine Technik oder Methode. Wenn
diese Philosophie gelebt wird, hilft sie der Person, die Entwicklung
ihrer eigenen Kapazitäten zu erweitern. Wenn sie gelebt wird,
stimuliert sie auch konstruktiven Wandel in anderen. Sie gibt dem
einzelnen Kraft, und die Erfahrung zeigt, daß die persönliche Kraft,
wenn sie gespürt wird, nach persönlicher und sozialer Veränderung
strebt".
In den einzelnen Entwicklungsphasen der KP kam es vor, daß die
therapeutischen Grundhaltungen in unzulässiger Verkürzung angewandt
wurden, da man dachte, wenn sie sich als notwendig erweisen, dann könne
man sie überall einfach anwenden. Natürlich darf dies nicht ohne
Bezugnahme zu Person und Kontext geschehen, was aber sehr oft der Fall
war.
So entwickelte sich vor allem im deutschen Sprachraum die Auffassung,
daß es sich bei der KP um eine einfache Technik des
"Spiegelns" oder der Gesprächsführung handle. Dabei werden
die für C. Rogers so wichtigen und oben besprochenen Ebenen der
wechselseitigen Beziehung und des Prozesses des Erlebens und Erfahrens
in Therapeut und Klient übersehen. C. Rogers versteht die
therapeutischen Grundhaltungen als eine bestimmte Charakterhaltung.
Wie schwierig und wichtig es ist, diese Charakterhaltung bzw.
Grundhaltungen in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen und zu
internalisieren, wird nach der Beschreibung der einzelnen deutlicher
sein. Ich möchte mich dabei im wesentlichen auf die Ausführungen von
P. Schmid
beziehen, der, wie er versichert, die therapeutischen Grundhaltungen
weitgehend aus C. Rogers' eigenen Darlegungen dazu so
"authentisch" wie möglich darstellt.
4.1.1 Echtheit
Für C. Rogers ist Echtheit die "grundlegendste unter den
Einstellungen des Therapeuten".
Er versteht unter Echtheit, daß "der Therapeut in der Beziehung
zu seinem Klienten er selbst ist, ohne sich hinter einer Fassade oder
Maske zu verbergen ... daß der Therapeut sich dessen, was er erlebt
oder leibhaftig empfindet, deutlich gewahr wird, und daß ihm diese
Empfindungen verfügbar sind, so daß er sie dem Klienten mitzuteilen
vermag, wenn es angemessen ist, ... es bedeutet, daß es sich um eine
direkte, personale Begegnung mit dem Klienten handelt, eine
Begegnung von Person zu Person. Es bedeutet, daß der Therapeut er
selber ist und sich nicht verleugnet".
Eine so verstandene Echtheit vermittelt dem Klienten die
Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Person des Therapeuten und
bedingt für P. Schmid auch die Freiheit von "jedweder 'Methode'
und 'Technik'".
Echtheit läßt sich auch am Gegenteil, an unechtem Verhalten
beschreiben. Unechtes Verhalten beeinträchtigt die Kommunikation, da
dem Gegenüber zwei unterschiedliche Botschaften übermittelt werden:
einerseits die rein verbale Versicherung von Verständnis und Annahme
und
andererseits die nonverbale Vermittlung von Abwehr, Unwohlsein, Verärgerung
oder Langeweile. Die Kommunikation wird so gestört und der Therapeut
schuldet es dem Klienten diese "Störung" anzusprechen, um
die Interaktion nicht zu gefährden. Falsch bzw. inkongruent wäre es,
solche Dinge zu überspielen, zu verharmlosen usw., anstatt sie
anzusprechen. Nun könnte man meinen, der Therapeut müsse dem
Klienten die eigenen Bedürfnisse und Wahrnehmungen unter allen Umständen
mitteilen, Hauptsache "Innen und Außen" beim Therapeuten
sind deckungsgleich. Echtheit im Sinne der KP ist jedoch nur im
Zusammenspiel mit den anderen Grundhaltungen zu verstehen und zu
verwirklichen.
C. Rogers meint in der oben angeführten "Definition", daß
Echtheit auch angemessen sein soll. Dabei gilt für ihn der Grundsatz:
"Was immer ich sage, soll echt sein; aber nicht alles, was echt
ist, muß ausgesprochen werden".
Die Kriterien für Zweckmäßigkeit bzw. Angemessenheit können nur in
der Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten gesucht
werden. Wichtig hierbei ist, ob der auslösende Faktor mit der
aktuellen Beziehung zu tun hat, oder etwas beim Therapeuten selbst
ausgelöst hat. Natürlich ist auch zu beachten, ob die Beziehung
schon stabil genug erscheint, bestimmte Dinge anzusprechen, ohne den
therapeutischen Prozeß zu gefährden.
Unter Kongruenz ist nicht zu verstehen, "daß der Psychotherapeut
sein gesamtes Selbst enthüllen muß, sondern daß alle Aspekte seiner
Person, die zutage treten, reale Aspekte von ihm
sind und nicht Äußerungen, die der Verteidigung dienen oder
professionellen Haltungen entsprechen, die gelernt wurden und
wiederholt werden, aber nicht wirklich gemeint sind".
Die Konsequenzen dieser Echtheit bedeuten nun zuerst für den Helfer,
daß er mehr Person werden und zu sich selbst eine hilfreiche
Beziehung eingehen kann. Damit wird Beziehung zu einem anderen möglicher
und Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung anderer
wahrscheinlicher.
Die KP nimmt somit an, daß ein kongruenter Mensch, der sich selbst
umfassender wahrzunehmen getraut, seine Ängste, Konflikte, Machtbedürfnisse
oder seine Sexualität zu integrieren versucht, mehr an
Handlungsspielraum gewinnt und die Gestaltung seines Lebens aktiver
und kreativer vorantreiben kann, als jemand, der dies nicht versucht.
Für den Klienten gilt, daß er kongruentes Verhalten eher anstrebt,
wenn er dies in einer hilfreichen Beziehung erfahren hat.
Für den Therapeuten ist es von großer Wichtigkeit, diese Echtheit zu
erlernen und dies nicht nur einmal oder über einen gewissen Zeitraum,
sondern in einem ständigen Prozeß. Dabei gilt auch in der
Therapieausbildung der Grundsatz: "Nur was man selbst erlebt hat,
kann man entwickeln, ausbauen, weitergeben. Zu sich selbst zu stehen
und sich selbst verstehen, für sich und andere einfühlsam zu sein
und dies kommunizieren zu können, all dies lernt man in
Beziehungen".
Dieses Lernen in Beziehungen kann für keinen Menschen je aufhören
und fordert vom Therapeuten ständige Supervision und Selbsterfahrung
über sich und seine Beziehungen mit den Klienten. Einfach zu erlernen
und zu trainieren kann nicht ausreichen bzw. dem Anspruch der
Kongruenz nicht genügen.
4.1.2 Wertschätzung
Eine zweite wichtige therapeutische Grundhaltung und Bedingung für
eine konstruktive Veränderung des Klienten im therapeutischen Prozeß
bezeichnet C. Rogers als Akzeptieren, "Anerkennung, Anteilnahme
oder Wertschätzung, bzw. Achtung - eine bedingungslose und positive
Zuwendung".
C. Rogers vertritt dabei die Auffassung, "daß die helfende
Person um so effektiver sein wird, je höher sie die andere schätzt.
Für mich heißt das, die andere Person achten, ihre Meinungen, ihre
Gefühle, ihre Person. Es bedeutet eine nicht-besitzergreifende
Anteilnahme. Es bedeutet ein Akzeptieren des anderen Individuums als
eigenständige Person, eine Hochachtung vor ihm, dem Wert aus eigenem
Recht zukommt. Was wir damit sagen wollen, ist, daß die helfende
Person diesen anderen als einen unvollkommenen Menschen mit Gefühlen
und vielen Möglichkeiten wertschätzt. Und ich glaube, je mehr man
seine Wertschätzung, seine anteilnehmende Einstellung lebt, um so
mehr ist das der Ausdruck einer eigentlichen, tragfähigen Zuversicht
und eines Vertrauens in die Fähigkeit des Menschen".
Diese Wertschätzung darf nun nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft
werden nach dem Motto: Ich hab dich lieb bzw. ich achte dich, wenn du
so bist, wie ich dich haben will. Dies ist auf keinen Fall einfach und
es wird besonders schwierig, wenn "negative" Gefühle, wie
Aggressives, Peinliches, Asoziales usw. in der Beziehung auftreten.
Diese Gefühle müssen aber ebenso ihren Platz haben. Es darf die
Grundeinstellung der wertschätzenden Anteilnahme dabei nicht
aufgegeben werden. Wertschätzung heißt aber für den Therapeuten auf
keinen Fall mit allem und jedem, was der Klient an Emotionen,
Meinungen, Einstellungen oder Reaktionen in die therapeutische
Beziehung einbringt, einverstanden zu sein. Akzeptanz schließt eigene
Einstellungen oder Werthaltungen des Therapeuten keinesfalls aus, sie
sollen jedoch nicht dazu führen, daß der Therapeut nur auf jene
Aspekte in der Beziehung wohlwollend reagiert, die mit seinen
Werthaltungen übereinstimmen. Dies würde den therapeutischen Prozeß
gefährden.
Was die oben beschriebenen negativen Gefühle betrifft, so folgen
ihnen, so sie erschöpfend ausgedrückt wurden, nach und nach
positivere Impulse, die sich in der Konzeption C. Rogers' auf Grund
der Annahme der grundsätzlichen Konstruktivität der menschlichen
Natur nach und nach durchsetzen. Voraussetzung dafür ist, wie schon
erwähnt, die Gestaltung einer hilfreichen Beziehung im Sinne der drei
grundsätzlichen Voraussetzungen Echtheit, Wertschätzung und
Empathie.
Einem weitverbreiteten Mißverständnis sei nun nochmals entgegnet:
"Akzeptieren bedeutet nicht Gutheißen".
Der Umstand, den anderen in seinem Sosein anzunehmen, ist mit keinem
moralischen Urteil zu verbinden und bestärkt auch nicht ein gewisses
Verhalten im einzelnen. Ebensowenig von Bedeutung ist es, ob die
Mitteilungen des Klienten "objektiv" stimmen, ob denn z.B.
die Lebensumstände oder erfahrenes Leid wirklich so dramatisch sind,
wie sie
geschildert werden. Hier gilt: wenn eine Person etwas als dramatisch
erlebt, dann stimmt dies gefühlsmäßig und es wird damit etwas zum
Ausdruck gebracht, was von Bedeutung ist.
Daß Wertschätzung und Anteilnahme für jeden Menschen notwendig sind
und Beziehungen, in denen ich diese erfahre, jedem Menschen guttun,
das Selbstvertrauen stärken und das Leben einfach lebenswerter
machen, ist für jeden, der dies erfährt, einsichtig. Die
therapeutische Beziehung geht aber noch einen Schritt weiter. Sie
bietet gleichsam einen geschützten Rahmen, ein Labor, in dem dem
Ratsuchenden, ohne ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen, eine Fülle
von Ausdrucksmöglichkeiten für die eigenen Gefühle, Haltungen und
Probleme erschlossen werden. Dies wird als ein besonderes Spezifikum
der therapeutischen Beziehung verstanden.
Die Haltung der Wertschätzung zu erlernen, wird genausowenig an der
Oberfläche bleiben dürfen, wie das Erfassen und Leben der Kongruenz.
Hierfür müssen die eigenen Wahrnehmungen, Haltungen und Erfahrungen
durchleuchtet, hinterfragt und sozusagen an ihren Wurzeln erfahren
bzw. verstanden werden.
4.1.3 "Einfühlendes Verstehen und dessen
Verbalisierung"
Empathie bzw. Einfühlendes Verstehen, wird die dritte therapeutische
Grundhaltung genannt. "Dabei werden sowohl die Gefühle und
Empfindungen des Gesprächspartners wie auch die inneren, persönlichen
Bedeutungszusammenhänge dessen, was er wahrnimmt, und dessen, was
noch knapp unter seiner Bewußtseinsschwelle liegt, gespürt und aus
seinem inneren Bezugsrahmen heraus zur Sprache gebracht
(verbalisiert)."
Es geht also um eine doppelte Haltung. Auf der einen Seite soll der
Therapeut versuchen, in der Person des Klienten "heimisch"
zu werden, seine Welt mit seinen Augen zu betrachten, und ein Gespür
zu entwickeln, was im Moment gerade wichtig ist. Dies kann gewissermaßen
so verstanden werden, als ob der Therapeut versuchen würde,
zeitweilig das Leben des Klienten zu
leben. Auf der anderen Seite heißt es aber auch, die eigenen Gefühle
oder Wahrnehmungen gegenüber dieser inneren Welt des Klienten zu
verbalisieren. Auf keinen Fall soll das bedeuten, die Aussagen des
Klienten einfach und echohaft zu wiederholen, was im Laufe der
Geschichte als großes vereinfachendes Mißverständnis entstand,
munter betrieben wurde und wahrscheinlich noch wird.
Wie wird Empathie möglich? Zuerst ist es wichtig, aktiv zuzuhören,
teilnehmend auf die Gefühlsebene aller am Gespräch Beteiligten zu
achten und um Verständnis bemüht zu sein. Was wird mir vom Anderen
mitgeteilt? Dabei gilt es, buchstäblich zwischen den Zeilen zu lesen
und die verbale wie nonverbale Kommunikation wahrzunehmen, und das
nicht im Sinne der eigenen Interpretationen, sondern "mit den
Augen der Klienten". Dieses Zuhören darf gleichzeitig auch nicht
mit Schweigen gleichgesetzt werden. Wenn ich jemanden verstehen will,
dann muß ich in die Kommunikation eintreten und neugierig
interessiert daran teilnehmen. Im Zuge dieses aktiven Prozesses darf
ich dann in meiner Wahrnehmung auch weit daneben liegen.
"Untersuchungen haben gezeigt, daß für das Gefühl, verstanden
zu werden, das Verstehenwollen des Beraters ausschlaggebend war und
nicht das Faktum, auf Anhieb verstanden zu werden. Dieses Bemühen des
Beraters signalisiert dem Klienten auch, sich selbst um Verständnis für
sich zu bemühen. Empathie ist also nicht eine spontane Fertigkeit,
sie ist ein emotionaler Prozeß."
Das Verbalisieren dessen, was beim Empfänger ankommt, ist zunächst
eine Art Empfangsbestätigung dafür, daß das Mitgeteilte angekommen
ist. Weiters stellt sich dann heraus, ob das Gesagte auch richtig
angekommen ist. Für die Verbalisierung entscheidend ist, daß sie so
konkret wie nur möglich die Erlebnisinhalte formuliert und so dem
Klienten das Gefühl gibt, wirklich verstanden zu werden. Dies
erleichtert es für den Klienten, sich selbst noch weiter in den
therapeutischen Prozeß einzulassen. Pauschale Formulierungen werden
als hinderlich empfunden. Dagegen wird es viel effektiver sein, so
persönlich wie möglich zu formulieren, um einen Prozeß in Gang zu
setzen, der zur weiteren Selbstexploration anregt.
Als Konsequenz für den Klienten ergibt sich, daß ihm, der die
Erfahrung gemacht hat, wie es ist, wenn einem jemand zuhört, das Zuhören
einfacher und zugänglicher wird. Außerdem wird derjenige, dem in
bezug auf sein Erleben und Handeln mit Empathie begegnet wird, sich
und seine Gefühle eher schätzen lernen. "Im Gesprächspartner
wird durch die Verbalisierung seines emotionalen Erlebens und die
damit verbundene Zuwendung und Wertschätzung durch einen als echt
erfahrenen Helfer die >Selbstexploration<, das heißt die
vermehrte, differenzierte Auseinandersetzung mit seinem inneren
Erleben, gefördert."
In der Therapie sollen diese drei Grundhaltungen für eine hilfreiche
Beziehung als eine Grundhaltung der Person wahrgenommen werden. Sie
bilden eine Einheit, ein Zusammenspiel, das, um im Sinne der KP
hilfreich zu sein, gelingen muß.
4.2 Therapieprozeß und Therapieziel
Die therapeutischen Grundhaltungen bilden in der KP die maßgeblichen
Voraussetzungen für eine Veränderung beim Klienten. Je besser es dem
Therapeuten gelingt, diese zu verkörpern, desto wahrscheinlicher
werden eine Reihe von Effekten und Prozessen ausgelöst, die dem
Klienten seelisches Wachstum in vielerlei Hinsicht bringen sollen.
· Es werden laut Isidor Baumgartner im Sinne der Lernpsychologie eine
Reihe von Lernprozessen in Gang gebracht, gefördert und dabei eine
Desensibilisierung von Ängsten herbeigeführt. Der Klient lernt über
Themen, Gefühle, Inhalte usw. zu sprechen, die eigentlich
angstbesetzt sind und wo es Hemmschwellen gibt, diese an- bzw.
auszusprechen. Weiters lernt er am Vorbild des Therapeuten, sozusagen
am Modell seines persönlichen Auftretens, wie man seine innere Welt,
sein Erleben erschließen und zur Sprache bringen kann. Die Fähigkeiten
der differenzierten Betrachtung der eigenen Probleme, das Ergründen
der eigenen Angstauslöser, die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse
und des eigenen Weges werden erworben bzw. angestrebt.
· Empirische Ergebnisse berichten weiters, daß bei Begegnung in
Echtheit, Wertschätzung und Empathie die Klienten mehr und mehr ihre
Verteidigungshaltung ablegen, mehr gegenwärtige als vergangene
Erlebnisinhalte aufweisen und sich gefühlsintensiver mit
Bezugspersonen beschäftigen. So entwickelt sich ein eher gestörtes,
reales Selbstkonzept immer mehr zu einem idealen bzw. normalen Selbst.
· "Im Einklang mit psychotherapeutischen Forschungsergebnissen
scheint Gesprächspsychotherapie [KP, Vf.] vor allem Selbstachtung und
Selbstannahme zu fördern. Indem der Berater das große Bedürfnis
nach Zuwendung und Nähe, das leidende Menschen angesichts ihrer
Angst, ihrer Konflikte, ihrer Minderwertigkeits- und Schuldgefühle
erleben, befriedigt, gleicht er ihr großes Defizit an Selbstachtung
aus."
Der Klient kann sich anscheinend dadurch, daß er von jemandem so
angenommen wird, wie er ist, leichter auch selbst annehmen und
akzeptieren. Der selbstbewußter gewordene Mensch ist auch mehr daran
interessiert, seine Probleme selbst in die Hand zu nehmen, wodurch er
mehr an aktiven Möglichkeiten und weniger an passiven Abhängigkeiten
im Umgang mit seinen Mitmenschen erlangt.
· Die Selbstexploration, das Selbsterleben, auch expieriencing
genannt, bildet im Therapieprozeß ein Indiz dafür, ob ein
Therapieerfolg eintritt. Mit Selbstexploration ist gemeint, "daß
der Klient über sich selbst, besonderes über seine spezifisch persönlichen
inneren Erlebnisse spricht, sich über sie klarer wird oder, daß er
sich wenigstens deutlich um Klärung bemüht".
Eugene Gendlin
hat sich mit der Selbstexploration eingehend beschäftigt und die
"Focusing"-Methode entwickelt, die das Selbsterleben
forcieren und in die Hand des Klienten legen soll.
Wohin will die KP den einzelnen führen, was soll durch die Therapie
erreicht werden und was kann eigentlich erreicht werden? Durch die
Therapie werden, wie oben angeführt, verschiedene Prozesse ausgelöst.
C. Rogers gibt als Therapieziel die "voll entwickelte Persönlichkeit
an".
Was ist darunter zu verstehen? P. Schmid beschreibt sie folgendermaßen:
sie ist für verschiedenste Erfahrungen offen, achtet sich selbst, hat
es kaum nötig, Abwehrhaltungen einzunehmen oder hält zumindest keine
grundsätzlichen Abwehrstrukturen aufrecht. Die Aktualisierungstendenz
wird wahrgenommen und ihr gemäß gehandelt. Diese Persönlichkeit ist
ständig im Werden, kann ihre Bedürfnisse befriedigen und Fehler
korrigieren. Sie ist ihren Erfahrungen gegenüber wohlgesinnt und
bereit immer wieder neue Lebenssituationen zu bewältigen und zwar so,
daß es ihr am ehesten entspricht. Mit S. Kierkegaard gesprochen ist
sie unterwegs: "Das Selbst zu werden, das man in Wahrheit
ist".
Die "voll entwickelte Persönlichkeit" ist nicht
ichzentriert, sondern personzentriert zu verstehen. Die Grundhaltungen
werden, weil in einer Beziehung erlebt, weitergetragen und führen so
zu einer gegenseitigen Verantwortlichkeit und Bewußtheit der
Gemeinsamkeit.
Es spiegelt sich das Menschenbild der KP wider, daß den einzelnen in
der Spannung zwischen den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Selbst und
den Erfahrungen und Beziehungen mit den Mitmenschen sieht. Wie wichtig
die Beziehungen, Kontakte, Bezugspersonen usw. für die Person sind,
wurde schon oben besprochen und soll hier nur ins Gedächtnis gerufen
werden.
Das Therapieziel der KP scheint sehr übertrieben und schwer zu
verwirklichen. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn dieses Ziel nicht
als lebenslanger Prozeß verstanden wird, der angestrebt wird, nicht
unbedingt erfolgreich sein muß und wo der Prozeß, das Werden, der
Mut zur Veränderung im Mittelpunkt steht. Diesen Prozeß kann die
Therapie bestenfalls einleiten und zum Teil mittragen. Dennoch bleibt
er ein Ziel.
Wir Christen stehen als Menschen in einer ähnlichen Situation. Jesus
Christus hat uns angeboten, seinem Vorbild zu folgen und dennoch ist
bei größter Anstrengung Nachfolge nur in sehr kleinen Schritten möglich
und ein Prozeß, der nicht nur dieses Leben umfaßt, sondern weit darüber
hinausweist. Christ zu werden stellt in diesem Sinne auch eine
Entscheidung dar, die es ständig und stetig zu verwirklichen gilt und
wo der Aspekt des Werdens, der Weg als Ziel, wichtig bzw. entscheidend
ist. Das Ziel der KP liegt in diesem Sinne im Personwerden, während
es das Ziel des Getauften ist - Christ zu werden. Beide Ziele schließen
einander zunächst nicht aus, dennoch bedeutet es noch lange nicht, daß
damit vorschnell eine allzu große Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit zu
erwarten sei. Verschiedene Annäherungen, aber auch Unterschiede
wurden ja bereits in Bereich der metatheoretischen Ebene erwähnt.
Eine kritische Betrachtung der KP, ihrer Anthropologie und ihres
Therapiekonzeptes steht noch aus und soll im Rahmen
pastoraltheologischer Betrachtungen, die im folgenden anzustellen
sind, durchgeführt werden.
|