3. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
Im folgenden Abschnitt werden Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
der KP dargestellt. Dabei werde ich vom grundsätzlichen Vertrauen C.
Rogers in die menschliche Natur ausgehen, sein Personverständnis und
seine Vorstellungen von Begegnung beschreiben und wichtige persönlichkeitstheoretische
Annahmen bzw. Begriffe erläutern.
3.1 Das Vertrauen in die Konstruktivität der
menschlichen Natur
Eine der tiefsten Überzeugungen in C. Rogers' Bild vom Menschen war
der Glaube, daß die menschliche Natur von ihrem Wesen her vertrauenswürdig,
konstruktiv, schöpferisch, sozial und auf Reife hin ausgerichtet ist.
Dies ist für ihn aus seiner psychotherapeutischen Erfahrung heraus
nicht anders vorstellbar. Derjenige, der dem Menschen eine schlechte
und asoziale Natur vorwerfe, ist für C. Rogers nie in die tiefsten
Schichten des Menschseins vorgedrungen. Asoziale, destruktive und
aggressive Verhaltensweisen werden als Angst- und Abwehrreaktionen
betrachtet, die die tiefste menschliche Schicht verdecken und den
positiven Kern, den jedes Individuum in sich trägt, nicht zum Tragen
kommen lassen. Dieser Kern wird von C. Rogers als die animalische bzw.
organismische Basis des Menschen bezeichnet.
Die Ausrichtung zum Konstruktiven ist nun nicht statisch zu
betrachten, sie ist eher ein Gerichtetsein, ein Prozeß andauernder
Veränderung, in dem der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich in
Richtung größerer Reife zu entwickeln. Dieses Vermögen ist nicht
nur auf die Erhaltung des Organismus beschränkt, sondern beinhaltet
auch dessen Steigerung. C. Rogers bezeichnet diese Fähigkeit als
"Aktualisierungstendenz".
"Diese Tendenz kann beeinträchtigt oder verfälscht werden, aber
sie kann nicht beseitigt werden, ohne das Lebewesen selbst zu zerstören."
Die Ausrichtung der Aktualisierungstendenz zielt nicht auf willkürliche
und individuell gegensätzliche Ziele, sondern auf Ziele, die allen
Menschen gemeinsam positiv und konstruktiv sind. Alois Suter betont in
diesem Zusammenhang, daß es falsch sei, die Aktualisierungstendenz
als rein physiologischen Prozeß zu betrachten. Vielmehr sei der ganze
Mensch körperlich und seelisch in diesen Prozeß eingebunden.
Helmut Quitmann sieht die Aktualisierungstendenz gekennzeichnet
"durch ein Streben in Richtung auf Ziele wie Gesundheit, Bedürfnisbefriedigung,
durch Expansion und selbstbeschränkende Anpassung, körperliches und
seelisches Wachstum im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Anpassung,
Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Integration und
Differenzierung" .
A. Suter sieht durch die Aktualisierungstendenz verschiedene
Implikationen für das Menschenbild der KP:
· Sofern der Organismus frei ist, jede Richtung für seine Existenz
zu wählen, so entscheidet er sich für die konstruktive. Das
bedeutet, die Aktualisierungstendenz ist selektiv.
· Ob der Organismus frei ist, wird entscheidend von seiner Umwelt
bewirkt. Sind die maßgeblichen Umweltfaktoren weitgehend frei von Zwängen
aller Art, ist die Aktualisierung des positiven menschlichen Kerns möglich.
"Nur wo solche äussere[sic!] Freiheit gewährt ist,
korrespondiert ihr eine innere, die Aktualisierung ermöglichende
Freiheit."
; Den entscheidenden Faktor für die Erreichung äußerer Freiheit
bilden die zwischenmenschlichen Beziehungen. Für C. Rogers gehört
die Freiheit elementar zum Menschsein und ich möchte sie mit seinen
Worten beschreiben: "Es ist diese innere, subjektive,
existentielle Freiheit, die ich beobachtet habe. Es ist die Einsicht,
'dass[sic!] ich mich selbst leben kann, hier und jetzt, in eigener
Entscheidung'".
· Existenz im Sinne der Selbstaktualisierung ist ein ständiger Prozeß.
· Dieser Prozeß ist zwar für jeden individuell verschieden, weist
aber bei allen Menschen gemeinsame Züge auf.
3.2 Das Verständnis des Menschen als Person
Das Menschenbild der KP ist sehr eng mit ihrem Personbegriff
verbunden, der jetzt im Anschluß beschrieben werden soll. C. Rogers
gebraucht den Begriff eher in einem allgemeinen Sinn, um auf jedes
Individuum hinzuweisen. In bezug auf seine Theoriebildung möchte ich
am Beginn die Vorläufigkeit und Mangelhaftigkeit dokumentieren, die
er selbst seinen eigenen Theorien zuschrieb, da es für ihn mit zum
Wichtigsten gehörte, Wahrheitsfindungen nie als abgeschlossen zu
betrachten. Für seine Theorien wünschte er sich sogar, daß sie in
einem Jahrzehnt ersetzt werden sollten.
In der Tat wurden und werden sie auch ständig weiterentwickelt.
Der personzentrierte Ansatz, wie P. Schmid die KP vornehmlich
bezeichnet, wurde als Konzept von C. Rogers, aus der praktischen
Erfahrung heraus entwickelt. Der Mensch als Person steht im Gegensatz
zu herkömmlichen psychotherapeutischen bzw. sozialpsychologischen
Betrachtungsweisen im Mittelpunkt.
Die objektivierende Philosophie und Psychologie hat als Grundprämisse
ihres Handelns die Frage, was denn der Mensch sei und entwickelt auf
Grund dieser Fragestellung eine entsprechende Praxis, die im Menschen
eher ein Objekt sieht, das es zu behandeln gilt. Diese eher
traditionelle Sichtweise, die auch als problemzentriert bezeichnet
wird, bringt Fachleute hervor, die dann auf Grund ihres Wissens, ihrer
Qualifikation, den Schlüssel für die Lösung der Probleme des
Patienten haben und die Problembewältigung völlig in die eigene Hand
nehmen. Dies ist natürlich ein eher vereinfachendes Bild, das aber
eine grundlegende Schwerpunktsetzung charakterisieren soll. Natürlich
wird de facto jeder in einem helfenden Beruf Stehende dieser
Verhaltensweise dann und wann erliegen und sie nie ganz oder sehr
schwer ablegen können. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang
jedoch die spezielle Schwerpunktsetzung der KP auf die verändernden
Kräfte in jedem einzelnen Menschen.
Eine Personalistische Philosophie (Martin Buber) stellt im Gegensatz
zur oben angeführten Sicht die Frage, wer denn der Mensch sei und
sieht ihr Ziel darin, dem Menschen als Mitmenschen zu begegnen. Während
Vertreter der traditionellen Ansätze die Selbständigkeit des
einzelnen erst hergestellt sehen, wenn er wieder gesund erscheint,
versucht die KP den Menschen in jeder Phase seines Lebens als Person
ernst zu nehmen und ihm zuzutrauen, daß er Richtung, Ausmaß und Art
seiner Veränderung selbst konstruktiv gestalten kann. Voraussetzung
dafür ist die oben besprochene Aktualisierungstendenz und ein
Mindestmaß an geeigneter menschlicher Beziehung. Die Art der
Beziehung bzw. ihre Grundvoraussetzungen werden unten ausführlich
behandelt werden.
Person bedeutet, daß der Mensch "gleichermaßen als
unverwechselbar Selbständiger (individualistischer oder substantialer
Aspekt am Personbegriff) und aus der liebenden Begegnung Gewordener
und Werdender ( relationaler Aspekt) zu begreifen ist. Seine Natur
kann weder im Aus-sich-Sein und im Für-sich-Sein allein, noch im
Aus-der-Beziehung-Sein und In-Beziehung-Sein allein verstanden
werden".
P. Schmid sieht den Menschen in der Dialektik zwischen den Polen
Souveränität - und damit Freiheit, Achtung und Würde der Person,
ihre Unaustauschbarkeit, Leiblichkeit und Einzigartigkeit - und
Engagement - und damit der grundlegenden Hinordnung des Menschen auf
ein Du, auf eine Gemeinschaft, Fähigkeit zum Dialog, zur
Partnerschaft und Transzendenz, - als Person existieren. Diese
Spannung bildet das Dasein des Menschen. Ihr kann er sich nicht
entziehen. Aus dem eben Gesagten ergeben sich die zwei wichtigsten
Prinzipien des Menschseins aus person- bzw. klientenzentrierter Sicht:
"Der Mensch lebt aus Erfahrung und er lebt in Beziehung. Beide
haben mit Personsein wie mit Personwerden zu tun; beide ergänzen und
bedingen einander wechselseitig: Person ist und wird durch die
Erfahrung (in) der Beziehung".
Der Wichtigkeit von Erfahrung und Beziehung für das Menschsein
allgemein wird folgerichtig auch im Therapiekonzept Rechnung getragen.
Die therapeutische Beziehung stellt in der KP nicht bloß eine
Vorbedingung, einen Begleitfaktor dar, der den Therapieprozeß verstärkt
oder wichtig unterstützt, sie ist vielmehr die treibende Kraft in der
Therapie. Durch ihre Qualität wird die Effizienz bzw. Wirksamkeit der
Interventionen bestimmt. "Diese Conditio sine qua non
unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen konstruktiven
zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern nur in der Intensität, mit
der die Wesensmerkmale einer konstruktiven Beziehung zur Anwendung
kommen."
3.3 Das subjektive Selbstkonzept
C. Rogers beschränkt sich in seinem Konzept von Psychotherapie nicht
auf eine vordergründige äußere Anpassung oder Veränderung von ungünstigen,
belastenden Verhaltensweisen. Er versteht es als Aufgabe seiner
Psychotherapie den Menschen in der Revitalisierung seiner
Selbststruktur zu unterstützen. Die Selbststruktur wird von C. Rogers
"Selbst" bzw. "Selbstkonzept" genannt und bildet
ein zentrales Konstrukt der Persönlichkeitstheorie der KP. "An
ihm vollzieht sich das Ereignis des seelischen Wachsens. Es ist der
eigentliche Schauplatz seiner Psychotherapie[...]."
Nach einer kurzen Definition soll das Selbstkonzept im Rahmen der
Entwicklung der Persönlichkeit beschrieben werden.
· Definition nach C. Rogers:
"Das Selbst-Konzept oder die Selbst-Struktur läßt sich
umschreiben als eine organisierte Konfiguration von Wahrnehmungen des
Selbst, die dem Bewußtsein zugänglich sind. Es setzt sich zusammen
aus Elementen wie den Wahrnehmungen der Charakteristika und den Fähigkeiten
der Person; den Wahrnehmungen und Vorstellungen vom Selbst in Bezug zu
anderen und zur Umgebung; den Wertgehalten, die als verbunden mit
Erfahrungen und Objekten wahrgenommen werden; und den Zielen und
Idealen, die als positiv oder negativ wahrgenommen werden."
Es handelt sich also um ein sehr komplexes Konstrukt, daß die
Befriedigung der Bedürfnisse im Auge hat und zusammen mit der
Aktualisierungstendenz das Verhalten steuert. Dem Individuum ist es
daher wichtig, so gut wie möglich dem Selbst gemäß zu handeln. Nur
Handlungen und Erfahrungen können assimiliert und in die
Selbststruktur integriert werden, die der eigenen Struktur bzw. dem
Selbstbild entsprechen.
· Entwicklung der Persönlichkeit
Betrachtet man die Wirklichkeit eines Säuglings, so wird diese
ausschließlich von seinem Erleben gebildet. Subjektive Erfahrungen
bilden die maßgeblichen Realitäten für das Verhalten. Die
Erfahrungen ergeben sich durch Kontakte bzw. Interaktionen mit der
Umwelt und werden von ihr beeinflußt. Wie die verschiedensten
Interaktionen auf den Säugling wirken und wie sie bewertet werden hängt
davon ab, ob und wieweit sie in Übereinstimmung mit der
Aktualisierungstendenz wahrgenommen werden. Stimmen sie überein, so
werden sie auf organismischer Ebene positiv bewertet, weiterhin
bevorzugt angestrebt und als lustvoll empfunden. Negativ bewertete
Erfahrungen rufen hingegen abweisende Reaktionen und
Unlustempfindungen hervor. Bezeichnend für diese Entwicklungsphase
ist, daß auf Grund der Unselbständigkeit und Abhängigkeit des Säuglings
von seiner Umwelt er sich ihr gegenüber noch nicht durch die primären
Bewältigungsstrategien wie Flucht, Angriff oder Zerstörung behaupten
kann und eher zur Einschränkung seiner Wahrnehmung und Vermeidung
neigt.
Die Entwicklung des Selbst beginnt schon in den ersten Lebenswochen,
wenn nicht schon im Mutterleib. Zu Beginn entwickelt sich das Körper-
bzw. Leibselbst, das sich in Abgrenzung des
Eigenen vom Fremden wahrnimmt. C. Rogers spricht vom "Gewahrsein
des eigenen Seins" ,
das maßgeblich durch Interaktionen mit seiner Mit- bzw. Umwelt, vor
allem aber durch die primären Bezugspersonen, beeinflußt wird.
Weiters entwickelt sich jedes Kleinkind gemäß seiner
Aktualisierungstendenz in Richtung Differenzierung. Durch diese Fähigkeit
wird ein Teil der Erfahrungen von anderen unterschieden und als eine
Bewußtheit des eigenen Seins und Wirkens symbolisiert. Diese
Symbolisierungen, die zunächst noch eher momentbezogen sind, bilden
als Selbsterfahrungen die "Grundbausteine der Selbststruktur oder
des Selbstkonzeptes".
Um diese Erfahrungen von momentbezogenen zu überdauernden
Bestandteilen des Selbstkonzeptes zu formieren, sind Interaktionen mit
der Mit- und Umwelt notwendig. "Das Selbst formiert sich also zum
einen durch Symbolisierung der Selbsterfahrungen beim Umgang mit der
Um- und Mitwelt, zum anderen bedarf es aber unabdingbar der Benennung
des eigenen Seins und Wirkens durch andere, insbesondere durch die
signifikanten Bezugspersonen."
Hier findet sich das oben angeführte Personverständnis
(substantiales sowie relationales) wieder.
In diesem Zusammenspiel organisiert und strukturiert das Selbst seine
Erfahrungen, die mit dem Selbstbild vereinbar sind und verzerrt bzw.
verleugnet andere Erfahrungen, die nicht mit dem Selbstbild in
Einklang gebracht werden können. Dies entspricht dem, was C. Rogers
als Selbst-Konsistenz bezeichnet hat und beinhaltet das Streben des
Organismus nach Aufrechterhaltung einer inneren Ordnung. Hinzu kommt
noch, daß das Individuum zusätzlich zur Bewertung von außen auch
sich selbst bewertet. Diese "Selbst-Wertschätzung" ist eine
Grundlage der Existenz und strukturiert die Erfahrungen so, daß das
innere Wertesystem nicht aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Übereinstimmung
zwischen gezeigtem Verhalten und Selbstkonzept wird von C. Rogers als
Kongruenz bezeichnet. Das Gegenteil, d.h. die Nichtübereinstimmung,
bezeichnet er als Inkongruenz.
Kongruenz bzw. Inkongruenz kann es für C. Rogers auf drei
verschiedene Weisen geben. Helmut Quitmann faßt diese folgendermaßen
zusammen:
1. Zwischen dem Selbst, wie es das einzelne Individuum wahrnimmt und
dem konkreten organismischen Erleben, was als Konsistenz verstanden
wird.
2. Zwischen der subjektiven Wirklichkeit des phänomenalen Feldes und
der Realität der Welt "draußen".
3. Zwischen dem sogenannten Real-Selbst und dem gewünschten
Ideal-Selbst.
Als bedrohlich wird die Inkongruenz dann bezeichnet, wenn sie nicht
ins Bewußtsein dringt und so Angst erzeugt. Erklärt wird diese These
mit dem oben geschilderten Konsistenzstreben. H. Quitmann führt an
dieser Stelle erläuternd Bemerkungen C. Rogers' an, der kindliche
Entwicklungsstörungen genau an diesem Punkt erklärt, nämlich am
Unterschied zwischen dem Selbstkonzept und der Erfahrung. Erfährt das
Kind von seinen Eltern bzw. signifikanten Bezugspersonen positive
wohlwollende Beachtung, was einem grundlegenden Bedürfnis entspricht,
dann wird es für das Kind keinen Grund geben, eigene Erfahrungen und
Wahrnehmungen abzuwehren und ein System eigener Selbstachtung nicht
aufzubauen. Wird diese grundsätzlich wohlwollende Beachtung nicht
erfahren, oder von einer Übernahme bestimmter Werthaltungen abhängig
gemacht, so werden zunehmend Wertungen anderer Personen (besonders der
Eltern) übernommen, da das Kind von diesen Zuwendungen abhängig
ist. Das Selbstkonzept nimmt zunehmend Elemente auf, die als fremd
erlebt werden, weil sie nicht Ergebnisse der eigenen Erfahrung sind.
In der Situation des oben angeführten Beispieles kann es dann dazu
kommen, daß die Aktualisierungstendenz eine ziemlich konfuse Rolle übernimmt.
Einerseits unterstützt sie die Selbstaktualisierung des Selbst, das
bedeutet, die Person wird darin unterstützt, ihr Selbstbild zu
verbessern. Gleichzeitig strebt aber auch der Organismus danach, die
eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese können aber sehr
unterschiedlich gegenüber den bewußten Wünschen des
Selbstkonzeptes sein. Der dadurch entstehende Konflikt manifestiert
sich sehr deutlich in der
Therapie und bildet dort die Grundlage der Angst, da sich das Selbst
in eine andere Richtung bewegt als der Organismus.
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