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psychotherapeutische Arbeit mit lern- und leistungsschwachen Kindern

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Im Schneckenhaus – erste Therapiephase (1. bis 21. Stunde)
Die Therapie mit Nina habe ich leider nicht von Beginn an aufgenommen, daher verfüge ich anfangs lediglich über schriftliche Aufzeichnungen. Einerseits ewig schade, andererseits spannend, was mir damals dokumentierenswert erschien.
Das Schwergewicht meiner Aufzeichnungen liegt im Leistungsbereich. Ich habe ganz genau festgehalten, was Nina konnte und was nicht, womit sie welche Probleme hatte, wo sie Fortschritte machte und zu welchen Rückschritten es kam. Es ging mir sicher nicht darum, sie zu bewerten, ich war vielmehr bemüht, Art und Schwierigkeitsniveau meiner Übungen möglichst genau auf sie abzustimmen.
In dieser Zeit konnte ich ein Stück vom Eisberg sehen, der aus Ninas tatsächlichen Schwierigkeiten im Leistungsbereich – vor allem beim Lesen – bestand. Doch wurde auch immer deutlicher, wie unendlich schwer es Nina fiel, ihre Fehler zu ertragen.
Das hohe, durch Fehler bedrohte Selbstideal (Ausdruck der elterlichen und schulischen Bewertungsbedingungen) wurde bereits in der ersten Stunde deutlich. Nina hatte Hefte mitgebracht, um sie mir zu zeigen. Als wir diese ansahen, wies sie mich ständig auf ihre Fehler hin, während ich der ehrlichen Überzeugung war, dass sie gar nicht so viele Fehler machte. (Ich weiß es nicht mehr genau, doch halte ich für wahrscheinlich, dass ich auch damals tat, was ich in ähnlichen Situationen oft tue: Ich rege an zu zählen, wie viele Worte in einem Text richtig geschrieben sind um dann diese Zahl der Zahl der Fehler gegenüber zu stellen. Prozentuell sind es oft so wenige!)
Ihren (und wahrscheinlich auch meinen) Bewertungsbedingungen entsprechend, war Nina anfangs sehr bemüht, gut mitzuarbeiten. Das gelang ihr jedoch ab der 10. Stunde immer weniger, immer deutlichter wurde das enorme Ausmaß ihrer Bedrohung durch Fehler und sie zeigte auch immer mehr von jenen Strategien, mit denen sie sich vor dem unintegrierbaren Erleben von Inkompetenz zu schützen suchte.
Nina verbarg Worte, die sie geschrieben hatte. Damit versuchte sie zu verhindern, dass ich ihre Fehler sehen konnte. Wenn ich Worte, die sie noch nicht ganz genau beherrschte, auf Kärtchen schrieb, damit sie diese später ansehen und besser speichern konnte, geriet sie in einen Aufruhr, der sie am Weiterarbeiten hinderte. Sie deutete an, dass sie meine Kärtchen am liebsten zerreißen würde.
In der 10. und 11. Stunde nahm ich Nina in ihrer Bedrängnis das erste Mal so klar wahr, dass ich sie in meinen Aufzeichnungen vermerkte. Als Nina in unserer 12. Stunde meine Wortkärtchen zu zerreißen versuchte, sprach ich erstmals für sie das Gefühl der Wut aus, das ich bei ihr vermutete. Ich hatte den Eindruck, dass Nina erleichtert war, auch wenn sie sich das damals nicht anmerken lassen wollte. Zwei Wochen später sprach Nina erstmals selbst über eines ihrer Gefühle bei Fehlern. Sie kam in die Stunde, meinte „Ich schäme mich so!“, und erzählte mir, dass sie in Deutsch sechs Fehler gemacht und auch bei der Rechenprobe viele Rechnungen nicht gelöst hatte. Es war Ende Jänner und das Semesterzeugnis stand vor der Tür, Nina berichtete mir, dass sie enttäuscht sei, dass sie einen Dreier in Deutsch bekommen werde und dass ihr die Mutter für einen Zweier den heiß ersehnten Wohnungsschlüssel versprochen hätte.
Kurz vor bzw. kurz nach den Semesterferien fanden meine ersten Gespräche mit Ninas Klassenlehrerin und ihrer Mutter statt. Bewertungsbedingungen wohin ich sah!
Höchst unangenehm war mir die Lehrerin, mit der ich Ninas ganze Volksschulzeit hindurch niemals warm werden konnte. Ich empfand diese als sehr auf sich und wenig auf Nina zentriert, sie sprach dem Mädchen mit dem Argument, dass es die Klasse ja wiederhole, alle Erfolge ab und wirkte sehr hart auf mich. Von der Legasthenielehrerin einer Schule hätte ich mir mehr erwartet!
Die Mutter war damals mit der Lehrerin sehr zufrieden. Sie hatte sichtlich die Phantasie, dass diese mit ihrer Art aus Nina mehr herausholen würde, als die frühere, viel mildere, unstrukturiertere und laschere Klassenlehrerin. Ich beriet sie, die Möglichkeiten der Gestaltung der Aufgabensituation betreffend und ersuchte darum, Belohungen nicht mehr an Noten zu koppeln.
Eine Woche später brachte Nina erstmals eine Hausaufgabe (Mathematik) in unsere Stunde mit. Ich ermunterte sie, beim Rechnen ihre Finger zu Hilfe zu nehmen. (Wir wissen, dass lediglich ein ausreichend langer und vor allem richtiger Gebrauch der Finger zu einer sicheren Verlagerung des Rechnens in den Kopf führt!). Doch Nina wollte diese Erleichterung auf keinen Fall annehmen. Sie strebte an, so gut rechnen zu können, wie ihre Lehrerin es von ihr verlangte – und diese war so sehr gegen das Fingerrechnen, dass sie derart zustande gekommene richtige Ergebnisse schlechter bewertete. (Fingerrechnen ist in unseren Schulgesetzen weder verboten, noch steht geschrieben, dass es Grundlage für eine schlechtere Bewertung sein darf!)
Vier Stunden später, am Ende unserer ersten Therapiephase, schenkte Nina mir, der Jahreszeit entsprechend, ein Osterei. Das kann natürlich auch sehr brav gewesen sein, doch angesichts der nachfolgenden Änderung unserer Arbeits- und Kommunikationsweise werte ich dieses Geschenk als Hinweis darauf, dass Nina sich von mir auch in dieser ersten Phase ein wenig verstanden fühlte.
Nach meiner bisherigen Darstellung dieser Zeit wundert mich das nicht, doch fehlt noch ein Detail, dass ich nicht ganz einordnen kann. Ich hatte Nina auf ihre Versuche „meine Zeit“, die Zeit der Anforderungen, zu verkürzen angesprochen und mich mit ihr vorerst per Handschlag auf ein zügiges und intensives Arbeiten geeinigt, das ja auf lange Sicht dazu dienen solle, weniger Fehler zu machen. Als das nicht mehr klappte, stellte ich ihr für jede Stunde ernsthaften Arbeitens eine Murmel in Aussicht. Die erste so eroberte Murmel schien Nina so viel zu bedeuten, dass sie diese in die nächste Stunde mitbrachte, in der es dann nicht mehr so gut lief. In der darauffolgenden Woche hatte Nina bereits eine neue Ausweichstrategie entwickelt, sie ging in unserer Arbeitszeit aufs Klo, um diese zu verkürzen.
Ich sehe hier auf meiner Seite einerseits Bewertungsbedingungen andererseits ein Stück Kongruenz. Ich hatte Angst davor, auf mein Übungsprogramm zu verzichten, war besorgt, es könnte zu keiner Weiterentwicklung kommen, wenn ich Ninas Wünschen entsprechend, von meinen Forderungen Abstand nehmen würde. Gleichzeitig spürte ich, dass es so nicht weitergehen konnte, dass dieser Weg uns beiden nicht angenehm war. Leider habe ich keine Vermerke über Supervisionen, doch erinnere ich, dass mich Karin irgendwann in dieser Zeit ermunterte, mich mehr von Nina leiten zu lassen, mich (ganz bewusst und fachlich begründet) mehr auf ihre psychische Situation zu zentrieren und auch Ninas Mutter gegenüber (meine Auftraggeberin, der ich mich verpflichtet fühlte!) dazu zu stehen.

Nicht immer Lernen – zweite Therapiephase (22. bis 30. Stunde)
In dieser Phase brachte Nina immer deutlicher zum Ausdruck, wie es ihr ging, von welchen Gefühlen und Erlebnissen sie überschwemmt wurde und ich war immer besser in der Lage, sie darin zu sehen und verstehen. Es kam zu einem Wendepunkt:

22. Stunde
Nina wirkt bedrückt, zerstreut, abwesend. Ich frage sie, ob wir arbeiten können, was sie bejaht. Noch bevor wir beginnen, erzählt Nina, dass sie in der Nacht kaum schlafen konnte, müde ist, in der Schule heute alles falsch gemacht hat. Ich biete ihr Szeno an.
Nina will eines der Autos geschenkt. (Es ist in der Kindertherapie häufig, dass Kinder sich wünschen, etwas aus dem Spielzimmer, quasi als Übergangsobjekt, mit nach Hause zu nehmen. Meist kommen wir diesem Wunsch nicht nach. Manchmal bieten wir Kleinigkeiten als Geschenke an. Hier erklärt sich für mich die Bedeutung, die Nina meiner „Verstärkermurmel“ aus der ersten Phase beigemessen hat.)
Danach exploriert sie vorsichtig das Material, definiert Mutter und Vater, findet aber keine Puppe, die sie selbst darstellen könnte, da ihr keine ähnlich sieht. In weiterer Folge kommt es zu einer Reihe kleiner, aggressiv-destruktiver Spielszenen: die Kuh attackiert mich mit den Hörnern, das Krokodil beißt den Affen, danach lässt Nina den Affen diverse möglichst unmögliche Körperpositionen einnehmen, später entdeckt sie den Zug, baut einen Tunnel und spielt, dass der mit Leuten vollbesetzte Zug an eine Tunnelmauer fährt und alle Passagiere tot sind. Nach diesem, so befreienden wie bedrohlichen Ausdruck ihrer Aggression, geht Nina zu Regelspielen über.

23. Stunde
Geburtstagsstunde mit Ton. Nina gatscht (knetet Ton mit Wasser) mindestens ½ Stunde. Das macht ihr sichtlich Spaß, sie ist intensiv dabei, hat rote Wangen, das Geschehen ist lustvoll. Als der Ton gatschig und matschig als Brei an Ninas Händen klebt meint sie:
N: „Das würde ich dir am liebsten ins Gesicht schmieren. Doch noch lieber tät ich dir harte Klumpen ins Gesicht schmeißen!“
J: „Da muss ich dir aber etwas Schlimmes getan haben!“
N: „Weil du immer mit mir lernst!“
J: „Gelt, manchmal geht dir das viele Lernen sehr auf den Geist.“
N (aus tiefstem Herzen): „Ja!“
Nina findet aus dem Gatschen kaum heraus, erzählt zwar Geschichten von tollen Werken in der Schule, wirkt beim Formen auf mich jedoch ängstlich und unerfahren. Sie will wissen, was das Kind vor ihr gebaut hat, meint dann, sie baue ein Tier, ich müsse erraten welches und dann umgekehrt. (Ihre Anweisung wirkt auf mich sehr schulisch!) Damit beschäftigen wir uns den Rest der Stunde.

24. Stunde
Nina verlangt nach dem Ring, den sie zuletzt vergessen hat (beim Matschen mit Ton abgenommen) und meint: „Ich komm nicht mehr, wenn du ihn nicht hast!“ – Natürlich habe ich ihren Ring!
Nina ist bereit, ein wenig zu arbeiten. Wir beginnen mit den Differix-Drachen. Angesichts von fünf richtig und vier falsch aufgelegten Tafeln, blockiert sie total. Ich mache den Versuch fortzusetzen, kann die Erstarrung/Verweigerung des Mädchens jedoch nicht durchbrechen, also frage ich nach, was Nina empfindet, was sie mir jedoch nicht beantworten kann. Ich versuche für Nina auszusprechen, welche Empfindungen ich in ihrem Inneren vermute: Wut (und auch Traurigkeit), wenn etwas nicht gelingt. Ich frage Nina, was sie tun könnte mit ihrer Wut. Ninas Phantasien reichen bis hin zum sich etwas antun, damit sie nichts mehr empfinden muss. Erschrocken frage ich sie, ob es nicht auch ginge, die Wut umzubringen (im Sinne von wegbringen), indem sie diese hinausschreit, malt o. Ä. Nina verneint.
J: „Welche Farbe hat die Wut?“
N: „Schwarz!“
Nina nimmt mein Angebot, sich mit Fingerfarben auszudrücken, an. Zuerst muss sie den (meiner Ansicht nach symbolischen) Widerstand, sich dreckig zu machen und die Farben anzugreifen, überwinden. Das gelingt ihr rasch und sie beginnt mit Schwarz zu malen, später Rot hinzuzufügen, entdeckt dabei die Qualität des Farbenmischens und schmiert hingegeben. – Danach stiegt sie auf die Gestaltung einer Fahne um, will, dass diese draußen aufgehängt wird und zeigt ihre Werke der Mutter.

Nina war es in diesen drei Stunden gelungen, die Wut, die sie empfand im Spiel und auch im Kontakt mit mir auszudrücken, d.h. nicht weiter gegen sich selbst zu richten. Sie schien erleichtert, dass endlich ausgesprochen war und Raum hatte, dass das viele (erfolglose) Lernen sie sehr ankotzte. – Wichtige Teile bislang abgewehrten Selbsterlebens waren möglich geworden. (Ich bin richtig stolz, das hinzuschreiben!) Der Bann war gebrochen, Nina begann sich immer mehr zu zeigen, unsere Kommunikation wurde zunehmend offener.

25. Stunde
Nina wählt wieder den kreativen Bereich. Genießt es, vorgefertigte Drachen anzumalen und diese im Zimmer aufzuhängen. Wird offener und expansiver. Erzählt von Heldentaten (d.h. übersetzt, von ihrem Wunsch toll zu sein) und von Demütigungen („Andere sagen, ich bin dumm!“).

26. Stunde
Kreatives Gestalten: Tonfiguren anmalen und lackieren. Entspanntes Klima. Thema Grenzen: Was macht Karin, wenn ich ihr die Wand anspritze? Was machst du, wenn ich dir die Hose anmale? Wer ist von wem der Chef? Wer schimpft wann? Welche Konsequenz hat Fehlverhalten?

Thema Kinder: Sind bei dir im Bauch Kinder? Hast du Kinder? Warum hast du keine Kinder? (Immer wieder kommt es vor, dass Therapiekinder mich fragen, ob ich eigene Kinder habe. Das passiert meiner Erfahrung nach stets in Situationen der Nähe.)
Kurzgespräch mit der Mutter: Geht recht und schlecht, weiterhin typische Fehler, ist gefasster. Ich habe den Mut zu deklarieren, dass Ninas psychische Verfassung derzeit Zentrum unseres Arbeitens ist!

27. Stunde
Nina erzählt von der Schule (meint es gehe recht gut) und will nix arbeiten. Ich bitte sie nachzuspüren, wonach ihr der Sinn steht und biete ihr verschiedene Möglichkeiten an, z.B. Vorlesen, Malen etc. Sie fragt, welche Bücher wir haben und sucht sich schließlich „Schulgeschichten vom Franz“ aus. Nina lässt sich das ganze Buch vorlesen, wirkt entspannt, scheint mich zu beobachten, manchmal – ganz vorsichtig – berührt sie mich. Dann hat sie genug und will spielen. Zuletzt borgt sie sich den Elefanten aus, der zur Kuschelecke gehört, als Maskottchen zum Durchhalten und Wiederbringen.
Mutter fragt, wie’s mit Nina geht. Ich antworte, derzeit ist Kraft tanken das wichtigste in unserer Stunde. Mutter und Lehrerin können die Schulleistungen betreffend Besserung und Entwicklung sehen!

28. Stunde
Nina scheint gerne zu kommen. Auf die Schule angesprochen, meint sie, es gehe gut und erzählt von einem Besuch auf dem Bauernhof. Dann will sie mit Kerzen tropfen, hantiert anfangs ungeschickt mit den Streichhölzern, kommt aber sehr rasch drauf, wie’s geht. Tropft zuerst unsystematisch, ungeduldig, wechselt rasch zwischen Kerzen und Farben, wird dann jedoch immer ausdauernder, sorgsamer, bewusster, intentionaler, zielstrebiger ...
Als sich herausstellt, dass das eine langwierige Beschäftigung ist, biete ich Nina an, ihr wieder vorzulesen. Sie wünscht sich „Neue Schulgeschichten vom Franz“. Bei der Stelle mit den Fehlern (Franz braucht zur Korrektur seiner Rechtschreibfehler zahlreiche Fläschchen Tintex) ist Nina sehr angesprochen, meint, dass sie das kennt, bei ihr sei es zum Glück nicht ganz so schlimm: „Ich brauch nur zwei Tintenkiller im Jahr!“ Bei arbeitsbedingten Pausen fordert sie mich immer wieder auf, weiterzulesen. Zuletzt bedauert sie das Ende des Buches.
Nina will ihr Produkt mit nach Hause nehmen. Ich bin skeptisch, ob es schon stabil genug ist und biete ihr an, das nächste Mal weiterzumachen, was sie ablehnt. Nina schenkt ihr Bild der Mutter, stößt jedoch so unglücklich an, dass die Wachsscheibe zu Boden fällt. Sie greift mein Angebot auf, die Teile einzusammeln und ihr Wachstropfbild das nächste Mal zu reparieren (d.h. daran weiterzuarbeiten).

29. Stunde
Nina beginnt mit: „Ich muss durchhalten bis zum Zeugnis. Wenn ich keinen Dreier habe, bekomme ich endlich einen eigenen Wohnungsschlüssel. – Wenn du mir vorlesen würdest, könnte ich Kraft tanken.“ Sie möchte ihr Wachsbild reparieren. Ich bewundere Ninas Selbstbeherrschung angesichts ihres zuletzt zerbrochenen Bildes, worauf sie erwidert, dass sie draußen eh fast geweint hätte! Nina setzt ihre Arbeit in guter Stimmung fort und kann meine Unterstützung (Tipps für gutes Gelingen) annehmen.

30. Stunde
Nina will wieder ein Buch vorgelesen bekommen, „Neues vom Franz“, hört interessiert zu, malt zuerst, beendet dann das Malen und will ausschließlich zuhören. Am Schluss der Stunde meint sie über ihre Zeichnung: „Das Zeug kannst du wegschmeißen, das will ich nicht!“ Außerdem formuliert sie ihren Wunsch, 1001 Nacht zu bleiben und im Schlafsack hier zu übernachten.


Weshalb ich diese Phase so ausführlich dokumentiere? Mein Eindruck war, es würde sonst Wesentliches verloren gehen, man könne geradezu spüren, was los war. Ich bin verwundert, dass ich mich an fast alle diese Stunden nach so langer Zeit noch ganz genau erinnern kann. Das Abrücken von meinen vorgeplanten Übungen, der Blick auf das, was bei Nina wirklich los war, das Deklarieren dieser Änderung auch ihrer Mutter gegenüber ... scheint für Nina jenes Beziehungsangebot gewesen zu sein, dass es ihr möglich machte, zu mir und auch wieder zu sich selbst Beziehung aufzunehmen, wie wir es formulierten, Kraft zu tanken. Es war wunderschön zu sehen, dass dies ein guter (sogar leistungssteigernder) Weg war. Die Integration weiterer Selbsterfahrungen wurde so möglich: „Ich mache Fehler, aber nicht ganz viele; es fällt mir schwer durchzuhalten; es irritiert mich, wenn man mich für dumm hält, ich bin traurig, wenn etwas, für das ich mich angestrengt habe kaputt wird, ich bin oft unsicher; ich will bei dir einen verlässlichen und guten Platz haben ...“

Die Schnecke atmet auf, kommt heraus, zeigt, stellt und emanzipiert sich
– dritte Therapiephase & dritte Schulstufe (31. bis 60. Stunde)
Nina nahm am Ende des Sommers an unserem Lernlager teil. Dieses dient stets dazu, die Kinder in einem von uns geschaffenen, geschützten Rahmen wieder auf die Schule vorzubereiten. Damit erzielen wir, dass die unvermeidliche Fehlerhäufung nach den Ferien bei uns auftritt (wo die Kinder dafür nicht abgewertet werden) und nicht mehr so sehr in der Schule. Ich hatte ursprünglich Angst gehabt in einen Rollenkonflikt zu geraten, wieder Forderungen stellen zu müssen, auf die Nina dann mit Verweigerung reagieren würde. Doch die Möglichkeit der Arbeitsteilung zwischen Karin und mir und die Erfahrung einer Gruppe von Kindern, die alle Schwierigkeiten haben und arbeiten, erleichterte Nina die Kooperation. Sie erwähnte das Lager sogar in ihrem Ferienheft, das sie mir in unserer ersten Stunde nach dem Sommer freudig zeigte, auch weil sie dafür von der Lehrerin sehr gelobt worden war.
Schon im ersten Drittel dieser neuen Phase zeigten sich wichtige Veränderungen:
Nina hatte sich merklich entspannt. Ich nahm sie nicht nur gelassener, ruhiger und ernsthafter sondern vor allem erheblich kreativer, lustvoller und freudiger wahr. Das zeigte sich für mich bereits in unserer ersten Stunde nach den Ferien:

31. Stunde
Nach einem ausführlichen Gespräch über Schulbeginn, Lagererinnerungen und Ninas Ferienheft, will diese nun endlich spielen. Sie meint: „Du bist schon eine dreiviertel Stunde dran!“ (Ursprünglich hatten wir vereinbart, dass unsere Stunden aus „meiner Zeit“, der Zeit der Anforderungen und „Ninas Zeit“, der Zeit des freien Spiels, bestehen.) Als ich antworte, dass ich finde, wir seien schon eine dreiviertel Stunde zusammen daran, lacht Nina und wir gehen spielen. Sie wählt Abalone und kommt mit dem schwierigen Strategiespiel sehr gut zurecht. Wenn sie sieht, ich könnte sie rausschmeißen, erklärt sie die betreffenden Zonen manchmal für gesperrt, auf eine so entspannte Art und Weise, dass es mir nicht schwer fällt, auf den Punkt zu verzichten. Zuletzt schmeißt sie mit Genuss alle meine Murmeln hinaus und meint lustvoll und mit Augenzwinkern: „Ich habe gewonnen!“
Als Ninas Mutter berichtet, dass es nach den Ferien noch schwer geht, versichern Hans, Nina und ich ihr, dass es ja auch wirklich schwer ist wieder hineinzukommen bei diesem Sommerwetter, was diese gut aufnimmt. – Mutter und Tochter ziehen beschwingt von dannen.


In der Beziehung zu mir wurde Nina zunehmend offener. Sie schien so viel Vertrauen gewonnen zu haben, dass sie sich in meiner Begleitung auf alles Mögliche einlassen konnte. Das ging sogar so weit, dass Nina, die ich noch in der Vorwoche beim Vorlesen als zwischen Aggression und Zuneigung mir gegenüber schwankend empfunden hatte, sich eines Tages beim Vorlesen einfach an mich lehnte! (Direkte Berührungen waren damals und bleiben durchgehend zwischen uns ganz selten!) Interessant war auch, dass Nina mich nun nicht mehr wie früher oft abwertete, sondern anerkennende Äußerungen über mich z.B. über mein Gewand bzw. meine Ohrringe machte
Im Umgang mit Leistungssituationen erlebte ich Nina immer differenzierter. Nicht nur, dass sie immer klarer erkennen ließ, dass sie etwas leisten mochte, sie drückte auch immer deutlicher aus, wenn sie etwas nicht wollte, war aber auch offen für relativierende Argumente, konnte sich mit mir auf Verhandlungen einlassen und hielt unsere Vereinbarungen dann auch ein. Nina war so weit, dass sie wieder selbst Leistungsanforderungen an sich stellte, ihre Kreativität auf den Leistungsbereich ausdehnte. Sie erfand neue Übungen für uns (z.B. sollten wir Moosgummibuchstaben erkennen, indem wir sie mit geschlossenen Augen ertasteten). Sie konnte sich von Leistungsanforderungen, die sie an sich/uns gestellt hatte, von denen sich aber herausstellte, dass sie uns überforderten, auch lösen, ohne dabei das Gesicht oder die Laune zu verlieren. (Nina wollte z.B. gegen meinen Rat mit allen Wort-Bild-Paaren eines neuen Memorys spielen. Nachdem wir uns eine Zeit lang sehr bemüht, uns aber nichts gemerkt hatten, brachen wir den Versuch ab, weil wir der Anforderung nicht gewachsen waren!)
Das Thema Leistung konnte in dieser Zeit transparenter werden. Nina erzählte mir von ersten Erfolgen, z.B. von einer Rechenprobe, bei der sie fast fertig geworden war – bis auf ein paar Malrechnungen, die ihr nicht gleich einfielen. In der Woche drauf, brachte sie mir erstmals ihr Heft mit Gedächtnisübungen und Rechenproben mit und ich durfte es kopieren. Leistung begann ihr auch wieder mehr Spaß zu bereiten. Meine Bemühungen ihr unsere Übungen durch Einkleidung in Geländespiele schmackhaft zu machen gutierte sie so sehr, dass sie mich bat, ihr bald ein Geländespiel für eine ganze Stunde zusammen zu stellen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Schule begann im Rollenspiel. In der vierten Stunde nach den Ferien spielte Nina das erste Mal, dass sie Lehrerin ist und ich Schülerin bin. Sie ging sehr freundlich und konsequent (das ist noch zu tun) mit mir um, schaffte mir an Fehler zu machen, korrigierte mich liebevoll. Damit spielte sie meiner Ansicht nach aus, wie sie sich Schule gewünscht hätte und wie es in der Schule (bei ihrer Lehrerin) für sie nicht war – ein Thema, das uns in all seinen Facetten noch lange Zeit begleiten sollte! Bei einem Gespräch mit der Lehrerin zu Beginn des Schuljahres erlebte ich diese Nina gegenüber weiterhin höchst kritisch. Sie war der Ansicht, dass Nina es sich leicht machte, immer den bequemsten Weg suchte. Ich war verzweifelt, denn ich konnte Nina zu keinem größeren Maß an Verständnis durch ihre Lehrerin verhelfen. Diese wollte in Wahrheit nix von mir wissen, was ihr hätte helfen können, Nina zu verstehen. Auch meine Versuche, sie durch mein Verständnis für ihre Situation zu erreichen schlugen fehl. Ich weiß noch, dass ich damals stark gegen meine Tendenz ankämpfen musste, dieser harten und in vielen Standpunkten unqualifizierten Frau, die sich in Wahrheit so sehr vor mir fürchtete, dass sie sich auch dann noch zierte, wenn ich in ihren Freistunden (ja keine Randstunden!) zu ihr in die Schule kam, gehörig die Leviten zu lesen und die Meinung zu sagen!
Doch die Lehrerin konnte Ninas grundlegende Weiterentwicklung nicht mehr wirklich beeinträchtigen. Der Selbstaktualisierungsprozess war wieder im Gang, die Erstarrung hatte sich aufgelöst, war der Lebendigkeit und dem Reichtum gewichen, den Nina in sich trägt. Selbstausdruck und Selbsterfahrung waren ihr nun wieder in allen Lebensbereichen möglich.

Mitte November leitete ein Autounfall viele weitere wichtige Entwicklungen ein:

40. Stunde
Nina ist auf ihrem Heimweg von der Schule von einem Auto niedergestoßen worden. Gott sei Dank ist ihr bis auf Schürfungen und Stauchungen sowie Schock und Amnesie nichts passiert. Sehr zarte Stimmung zwischen Nina und ihrer Mama und auch zwischen Nina und mir. 2. Geburtstag!

Ich kann mich noch heute sehr gut an diese Situation erinnern und glaube, Mutter und Tochter erkannten damals, dass das Leben an sich unendlich wertvoll ist. Das verhalf ihnen zu mehr Distanz und Gelassenheit im Verhältnis zum Thema Schulleistungen.

Ich erlebte Nina ruhiger und konzentrierter, sie begann sich mir gegenüber immer klarer und hoffnungsfroher abzugrenzen, und auch ihre Wünsche (vor allem ihren oftmaligen Wunsch nach einer reinen Spielstunde) immer eindeutiger und vertrauensvoller zum Ausdruck zu bringen, sie experimentierte spielerisch mit unseren Rollen, gab manchmal auch mir Übungen vor und überprüfte, ob ich ihre Aufgaben richtig gelöst hatte. Dabei ging sie so angenehm und ehrlich mit mir um, wie in einer Spielsituation, wo sie mir – nach einer Glückssträhne für sie und Pechsträhne für mich – Vorsprünge gab, um sich dann aus tiefstem Herzen deutlich sichtbar zu freuen, wenn sie auch dann noch gewann. Nina hielt aber auch immer besser aus, wenn sie verlor.

Bemerkenswert war für mich auch, dass Nina sich in unseren Gesprächen immer differenzierter darzustellen begann – nicht mehr als Heldin (oft hatte sie versucht mir weis zu machen, wie toll sie nicht sei) und auch nicht als komplette Versagerin (was sie innerlich oft zu befürchten schien). Über Erfolge freute sie sich sehr und sie traute sich auch, diese hinaus zu posaunen. Ende Jänner kam Nina mit ihrer besten, sogar von der Lehrerin hoch gelobten, Rechenprobe, zeigte mir freudestrahlend auch noch den Sachunterrichtstest und die ungeübte Ansage. Als ich alles kopierte, wünschte Nina sich, auch für Karin eine Kopie der Rechenprobe zu machen und genoss es sehr, als diese sich dann zusammen mit uns über ihre Erfolge freute!
Nina spielte nicht nur Schule, sie begann auch vermehrt davon zu erzählen und dabei kritische eigene Standpunkte durchblicken zu lassen. So berichtete sie mir etwa in unserer 46. Stunde Anfang Jänner, dass ihre Lehrerin wieder aus dem Krankenstand zurück sei und ließ durchklingen, dass diese nun wieder die Zügel anzog. Nina meinte, dass die Schule nun sehr anstrengend sei und erzählte, dass sie heute sogar die Turnstunde ausfallen ließen um stattdessen zu arbeiten.
In der gleichen Stunde kam es zu einer weiteren Premiere. Nina berichtete (das erste Mal von sich aus), dass sie sich wieder sehr schwer tat, ähnliche Buchstaben auseinander zu halten (d b, q p, g ... ) und nahm mein darauf abgestimmtes Übungsangebot im Bereich der Raumwahrnehmung und Raumorientierung als Hilfe an.
Die wichtigste Veränderung war jedoch eine – für mich erstmals erkennbare – erhebliche Lockerung der mütterlichen Bewertungsbedingungen.

47. Stunde
Nina kommt zusammen mit ihrer Mutter herauf. Die Mutter erzählt, dass sie gestern bei der Lehrerin war, die meinte, Nina bemühe sich zwar in Deutsch sehr, aber im Rechnen sei sie viel zu langsam, schaue in die Luft. Der Dreier sei gefährdet, sie wisse nicht, ob sie Nina nicht einen 4er geben müsse. Die Mutter hat sich das zwar angehört, aber auch Widerstand geleistet. Sie hat gemeint, sie tun bereits alles, was möglich ist, aber wenn Nina nicht mehr kann und nicht mehr mag, dann hat es sicher keinen Sinn, noch mehr zu Üben. Die Lehrerin hat natürlich schon vorgeschlagen, in den Semesterferien zu rechnen.
Ich spreche Nina auf ihre Situation an und sie meint, sie wolle Rechnen üben. Wir holen ein 3. Klasse Rechenbuch, beginnen zu rechnen, doch Nina schwenkt hin zu einem Rollenspiel, das mir so wichtig und richtig erscheint, dass ich mitgehe.
Nina spielt die Lehrerin:
• sie lässt mich rechnen, kontrolliert, Fehler fallen ihr nicht auf, ich bekomme lauter Hakerl und Stempel ...
• sie lässt mich Sätze schreiben, ich werde nicht fertig, muss das zu Hause fertig machen, versuche das zu unterwandern, stoße aber auf eine unverrückbare Grenze, Kommentar: „Du bist eh schon die langsamste!“ ...
• dann Sachunterricht
• dann Malunterricht, ich bekomme genau vorgegeben, was ich zeichnen soll und wie das geht, jede eigene Idee wird mir untersagt.


Sowohl die Erfahrung der Unterstützung durch die Mutter, als auch die Möglichkeit ihr wirkliches (nicht nur ihr ersehntes) Erleben in der Schule im Spiel zum Ausdruck zu bringen, scheinen dazu beigetragen zu haben, dass Nina in der darauffolgenden Woche, ihre oben erwähnte besten Rechenprobe aller Zeiten gelang. – Wenn das nicht eine Erfahrung ist, die beweist, dass Selbst-sein-Dürfen unendlich viel Kraft gibt! Diese und viele andere mit Nina geteilte Erfahrungen, gehören zu den Gründen, weshalb ich so gerne mit ihr gearbeitet habe – weil ich dabei lernte, auf den Selbstaktualisierungsprozess und die therapeutischen Grundvariablen als Wirkfaktoren zum Guten hin zu vertrauen.
In den Semesterferien brach Nina sich das Bein. Die zweite Verletzung mit der (so nahm ich es jedenfalls wahr) eine weitere Annäherung zwischen Mutter und Kind einherging. (Unfälle, Verletzungen, Krankheiten sind bei Legasthenikern häufig!)

50. Stunde
Nina hat nur mehr ½-Gips. Kommt zusammen mit ihrer Mutter, die sie liebevoll unterstützt die Stiegen hinauf. Ihr normaler Sessel geht heute nicht, daher bekommt sie meinen Sitzplatz. Nach einem Wortdiktat, (10 Wörter) sollen vier falsch (bzw. noch nicht ganz richtig) geschriebene Wörter trainiert werden, was sich insofern als schwierig erweist, weil Nina nicht hinschauen will. Sie hat hier noch immer eine Sperre, aber das Training ist letztlich doch möglich.
Nina hat schon zuvor die Kerzen entdeckt, will eine türkise Kerze (neue Farbe) geschenkt. Ich meine, sie sind zum Tropfen. Nina lässt sich von mir alle Zutaten bringen. Genießt das. Ist sehr ruhig beim Arbeiten. Ich soll ihr die Kerzen halten: „Du bist mein Halter.“ Es entsteht eine ruhige, sehr angenehme Stimmung. Immer wieder erzählt Nina ein wenig. Von der Schule, dass sie dort vom Feuer gelernt haben, dass sie die Aufgabe hatte, es zu beobachten und dass sie in dieser Nacht einen Albtraum hatte: Es brennt das Haus, eine Flamme kommt auf sie zu, Papa und Mama sind nicht da. – Ich ergänze: „Dabei braucht man sie in so einer Situation ganz besonders!“ – Nina nickt intensiv und erzählt weiter. „Dann bin ich aufgewacht und zu meinen Eltern ins Bett gekrochen.“ Nina erzählt auch, dass sie derzeit leidenschaftlich gerne puzzelt, was für mich auch dazu passt, dass sie insgesamt ruhiger auf mich wirkt. Borgt sich ein Mickey-Mouse-Heft aus, setzt sich damit auf die Kiste und wartet auf ihre Mama, die später kommt, da sie langer gebraucht hat als beabsichtigt. Es ist eine total friedliche Stimmung.

Für mich war es so, als ob Nina in dieser Stunde zu mir sagte: Ich brauch meine Eltern, in bedrohlichen Situationen ganz besonders. Sie sind auch (wieder) wirklich für mich da! Und du gibst mir ebenfalls Halt! – Wenn ich das erlebe, werde ich ruhig und friedlich. Ein sehr wichtiger Teil meiner organismischen Bedürfnisse ist damit erfüllt.

In den Stunden bis zu den Osterferien machte Nina mehrmals bei mir Hausübung, zeigte mir dabei einerseits, wie orientiert und zielstrebig, wie flott und kompetent, wie konzentriert und ausdauernd sie mittlerweile arbeiten konnte, dass sie ihr exzellentes sprachliches Ausdrucksvermögen in interessante Geschichten umzusetzen vermochte und dass sie über ein ausgezeichnetes mathematisches Verständnis verfügte. Auf der anderen Seite nahm ich abermals die Inkompetenz ihrer Lehrerin wahr, die noch immer vergleichendes Rechtschreibtraining machte, obwohl bekannt ist, dass diese bei Legasthenie kontraindiziert ist. Doch Nina fügte sich drein, sie stellte ihre Lehrerin nicht in Frage, spielte danach mit mir Schule und ließ mich viel tun. Als ich mich im Spiel darüber beschwerte, meinte Nina, sie müsse in der Schule viel mehr tun!
Die Osterferien und unsere gemeinsame Geburtsstagsstunde brachten Entspannung, doch braute sich langsam wieder eine schulische Krisensituation zusammen.

57. Stunde (Ende April)
Nina kommt mit ihrem Ansagenheft. Vorletzte Ansage 0 Fehler (kein Kommentar der Lehrerin!!!), letzte Ansage, viele Fehler: Anführungszeichen vergessen, Legastheniefehler, Probleme mit der s-Schreibung (Kommentar der Lehrerin: „Lies durch!“) Nina wirkt auf mich erschöpft und entmutigt, will ihre Ansagen nicht kopiert und die Fehler auch nicht herausgeschrieben wissen, kann auch meine Relativierungen nicht annehmen!
Sie will eine Spielstunde, würde Ton oder Salzteig bevorzugen. Hält aus, dass wir die Materialien nicht da haben. Sucht sich Spiele (Breakout, Labyrinth, Coco-Crazy etc.). Scheint heute dringend zu brauchen die Winnerin, die Champonesse zu sein. Lässt Dinge (Spielstein, Heft etc.) verschwinden. Am Ende der Stunde dann auch wieder Scherze möglich!

58. Stunde (Anfang Mai)
Nina und Mama kommen gemeinsam. Am Sprechtag haben sie sehr negative Rückmeldungen erhalten. Nina steht in beiden Hauptgegenständen auf 4. Die Lehrerin hatte zuvor weder Nina noch ihrer Mutter etwas angedeutet und meint auch, dass es nix nützen würde, wenn ich zu ihr in die Schule käme, ich sage eh nur, sie soll Nina loben! Sie waren (und sind noch immer) beide sehr traurig. Nina kann in unserer Stunde ein wenig von ihrem Seelenzustand ausdrücken: Sie ist verzweifelt, weint, verwünscht die viele Anstrengung ohne entsprechenden Erfolg, ist erschrocken über die Gefühle der Mutter. Es scheint viel Aufbegehren-Wollen und Wut in ihr zu stecken, davon kommen aber nur minikleine Portionen an die Oberfläche. Nina meint, sie braucht Raum zum Auftanken, wünscht sich eine Spielstunde. Es ist für sie sehr wichtig zu spüren, dass sie was kann! – Sie kann auch was! Das zeigt sich für mich in der Art, wie sie mit den Spielen umgeht. Freundschaftliche und kooperative Stimmung.

Nina und ihre Mutter fühlten sich von der Lehrerin bedrängt und enttäuscht, in ihren Anstrengungen und Leistungen nicht geschätzt und nicht gesehen. – Und mit dieser Wahrnehmung hatten sie recht! Wir erleben oft, dass Lehrer, wenn der Übergang zur 5. Schulstufe und somit ein Schulwechsel naht, sehr nervös werden, weil sie Angst bekommen, dass sie sich vor ihren Kollegen blamieren könnten, wenn sie Kinder nicht richtig eingeschätzt bzw. vorbereitet haben. Ninas Lehrerin hatte sichtlich besonders früh damit angefangen. (Meist beginnt diese Nervosität in der vierten Klasse!) Auch hege ich den Verdacht, dass sie unser aller Ablösung von ihren Bewertungsbedingungen, die Reduktion ihrer Macht, nicht gutierte und ahnden musste. Ich glaube es war in dieser Zeit, dass Karin und ich, Ninas Mutter einen Klassen- oder Schulwechsel vorschlugen, dazu hatte diese jedoch leider nicht den Mut. (Beim Schreiben wird mir klar, ich hab auf die Lehrerin noch heute Wut!) – Doch Nina hielt stand, wurstelt sich wieder raus und kam letztendlich sogar zu einer eigenen Sichtweise auf ihre Lehrerin. Nina schien sich von den Bewertungsbedingungen, der Kälte und Härte ihrer Lehrerin gleichsam zu emanzipieren, leistete sich ihre eigene Ansicht, besann sich auf das, was für sie wesentlicher war, wandte sich dorthin, wo es ihr gut ging und tat, was ihr gut tat. Das zeigten unsere letzten beiden Stunden in dem Schuljahr.

59. Stunde
Nina muss wieder erzählen, wie meisterhaft sie ist. Indikator für geringen Selbstwert! Die Stimmung zwischen uns ist aber weiterhin warm und liebevoll. Diese Basis ist nicht gefährdet!
Freispiel: Schule. Ich muss schreiben, rechnen, Fehler machen, sie korrigiert, um das zu können rechnet sie. Geht (in der Rolle) liebevoll mit mir um. Verquorxmoggeltes Mädchen vorgelesen.

60. Stunde
Nina erzählt von der Landschulwoche, sehr differenziert und bereichert. Erste-Hilfe-Kurs, viel Sachunterricht, am Abend wurde geschrieben. Rechenzettel bei Fehlverhalten, die Lehrerin war grantig auf die Kinder, als der Förster absagte.
Nina fragt wieder, ob wir Ton haben. Ich antworte, dieser ist mit Paul auf dem Weg in die Praxis. Nina fragt nach Salzteig – wir bereiten selbst unseren Teig zu. Es ist eine sehr einträchtige und kooperative Situation (ohne Trotz, Provokation ...) Danach knetet Nina auf dem Teig umher, ist unschlüssig, was sie formen soll, will das von mir wissen, formt dann Kugeln mit der Absicht eine Halskette zu machen, verhält sich in dieser Gestaltungsabsicht letztendlich jedoch eher ziel- und planlos. Macht aber nix, die sinnliche Erfahrung des Knetens scheint zu genügen. Nina bittet mich, ihr vorzulesen, was ich gerne tue, sichert sich ab, dass sie Salzteig mit nach Hause nehmen kann und will auch den hier bleibenden Salzteig gut aufgehoben wissen!

Kaninchen vor der Schlange
– vierte Therapiephase und vierte Schulstufe (61. bis 86. Stunde)

Am liebsten würde ich diese Therapiephase in meiner Darstellung überspringen! Genauso gerne, wie ich das Rad der Zeit zurückdrehen würde, um mich bei einer zweiten Chance, Nina durch dieses schwierige Schuljahr zu begleiten, richtiger verhalten zu können.
War mir schon die Darstellung der ersten Therapiephase unangenehm, hat mich die Reflexion dieser Zeit geschockt. Gerne hätte ich die Phase „Zusammenhalt in einer schweren Zeit“ genannt. Es hätte mir große Freude bereitet, zufrieden zu erzählen, dass Therapie bei legasthenischen Kindern manchmal auch darin besteht, durch schwere Zeiten zu begleiten, beim Durchhalten zu unterstützen. – Sogar wenn Kinder, so wie Nina im Jahr zuvor, schon ein realistischeres Selbstkonzept und eine größere Offenheit für ihre Selbsterfahrungen entwickelt haben.
Lange habe ich überlegt, wie ich diese Phase nennen soll. Ich dachte an „Alte Bewertungsbedingungen wieder in Kraft“. – Doch auch das stimmt so nicht.
Ich mochte und schätzte Nina unabhängig von ihren Schulleistungen, ich wusste um die Vielfalt ihrer Kompetenzen, ich wollte ihr so gerne helfen mit ihren Pfunden zu wuchern, sich in ihren Fähigkeiten zu zeigen, sich Anerkennung zu verschaffen, wollte sie mit meinen Übungen stärken, versuchte sie zu ermuntern, standzuhalten statt auszuweichen .... – In Wahrheit jedoch hatte ich große Angst, sie könnte versagen. Und ich wusste, sie würde in dem was in ihr steckt von ihrer Lehrerin nicht gesehen und anerkannt werden.
Das Thema Angst vor Versagen war zu einem Gutteil meines, wollte ich doch eine erfolgreiche Therapeutin sein, die Nina so weit zu stärken vermag, dass diese zeigen kann, wozu sie fähig ist. Das Thema Angst vor Versagen war zu dieser Zeit aber auch Ninas und das ihrer besorgten Eltern. Leider ist es mir damals nicht gelungen, mir klar zu machen, was genau ich selbst empfand, und was die aktuelle Situation an sich hatte, dass sich mein eigenes Leistungsthema so stark aktualisierte. Das hinderte mich – zumindest zu Beginn dieses Schuljahres – daran, zu erkennen, auszusprechen und somit bearbeitbar zu machen, was in der Luft lag – Angst vor Bewertung! Es war eine allgemeine Erstarrung eingetreten, angesichts der als Damoklesschwerter imponierenden Schularbeiten, deren unvermeidliches Herabfallen unaufhörlich näher rückte. Ich lehnte Ninas Lehrerin ab, war wütend auf sie, hätte liebend gerne Kompetenz und Macht gehabt, ihr Fehler nachzuweisen, sie abzuqualifizieren, fühlte mich ihr jedoch ausgeliefert, weil sie nun einmal die Klassenlehrerin und erfahrungsgemäß in ihrer Härte unbeeinflussbar war. Heute vermute ich, dass es mich auch irritierte, dass Ninas Mutter sich vor einem Lehrerwechsel gescheut hatte.
Also saßen wir zu dritt (Nina ihre Mutter und ich), wie erstarrte Kaninchen vor der Schlange, die wir vorerst durch Unterwerfung milde zu stimmen versuchten! (Ninas Mutter ging wöchentlich in die Schule um sich nach Fortschritten bzw. Übungsmöglichkeiten zu erkundigen und unsere Kooperationsbereitschaft zu zeigen.) Schon in der zweiten Stunde nach den Ferien zeigte Nina ihren berechtigten (!!!) Wunsch zu flüchten. Wenn ihr etwas nicht auf Anhieb zu 100% gelang, wollte sie nicht mehr genau schauen und schmiss alles hin. Nina hatte recht, es war auch nicht anzusehen, denn die Schlage war bissig. Sie schien mit eigenen Leistungsansprüchen zu ringen. Einmal hatte sie mir stolz erzählt wie erfolgreich die Methoden ihres Vaters gewesen waren, sie auf gute schulische Leistungen hin zu drillen. Also brachte sie der Schlange, vor der sie selbst zitterte, die leistungsschwachen Kaninchen in ihrer Klasse zum Opfer dar, um selbst verschont zu bleiben. Nina wurde übergenau und überkritisch betrachtet, pitzlig bewertet und entmutigt.
In unsere dritte Stunde nach den Ferien brachte Nina eine ungeübte Ansage mit, in der ihre Lehrerin elf Fehler gefunden hatte, sogar bd-Vertauschungen, Auslassungen, hinter denen kein Rechtschreibunwissen stecken kann, ä- und ö-Stricherl hatte sie gezählt – und zwar alles fein säuberlich extra, nicht etwa jede dieser legasthenietypischen Fehlerkategorien nur einmal, wie es in einem bindenden Erlass für die AHS vorgesehen ist. Kein Wunder, dass Nina in dieser Stunde nicht arbeiten, v.a. die falsch geschriebenen Wörter nicht trainieren wollte. Leider ließ ich das damals nicht zu, doch zum Glück las ich Nina ein ganzes Buch mit stärkenden Franzgeschichten vor. Am Tag darauf kam die Mutter zum Gespräch. Zum Glück hatten wir Karin beigezogen – sie war die erste, die sich im ersten Schulmonat nicht als Kaninchen erwies. Die Mutter war krank, frustriert und enttäuscht angesichts einer Bildgeschichte zur Übung für die Deutschschularbeit in vier Wochen, die Ninas Lehrerin als „schwache Arbeit“ bezeichnet hatte. Karin konnte ihre Bedenken etwas relativieren, sie fand die Geschichte nicht so fehlerhaft, wie sie optisch schien, kopierte Ninas Mutter Bildgeschichten zur Übung in angenehmer häuslicher Stimmung und versprach uns in die Schule zu gehen, um freundlichen Druck auf Ninas Lehrerin auszuüben.

Auch die Frage der weiterführenden Schule wurde besprochen, wir rieten zu einer nahen Ordenshauptschule bzw. zu einer neuen Mittelschule im benachbarten Bezirk.
Nina hatte sich bis zur darauffolgenden Stunde verletzt, ich denke sie brachte sowohl damit als auch durch ihre anhaltende Verweigerungstendenz zum Ausdruck, dass sie sich innerlich sehr angeschlagen fühlte.
In der nächsten Stunde brachte sie ihre Angst vor der morgigen ersten Schularbeit in Deutsch zum Ausdruck. Ich versuchte ihr mit einem Gespräch über Möglichkeiten der Entspannung in dieser schwierigen Situation zu helfen und ersuchte die Mutter um eine Aktivität zur Belohnung der großen Anstrengung am Nachmittag des Schularbeitstages. Ninas erste Deutsch-Schularbeit war von ihrer Lehrerin folgendermaßen kommentiert und bewertet worden: „Du machst einige schwere Fehler und schreibst auch etwas kurz. Da du die Geschichte jedoch verstanden hast, noch Befriedigend.“ Bis Anfang November bleiben unsere Stunden vom Thema Schularbeiten geprägt, für die ich mit Nina übte und vor denen ich ihr vorlas und mit ihr spielte.
Erst kurz vor Weihnachten, besann ich mich mit Hilfe von Karin darauf, dass ich kein Kaninchen, sondern eine fachkompetente Psychologin bin und führte mit Nina in unseren Stunden (kooperativ und gemütlich) eine Testkontrolle durch, mit dem Ziel, einen neuen Befund zu erstellen. Ich weiß nicht mehr, ob Ninas Mutter diesen Befund dann auch wirklich an die Lehrerin weitergeleitet hat und frage mich, wie diese ihn wohl aufgenommen haben mag, doch scheint mir in der Beziehung zu Nina erstmals wieder ein wesentliches Stück Solidarisierung, Anwaltschaft und Verständnis gelungen zu sein – damals las ich ihr auch wieder viel vor!
Den Befund habe ich bis heute und es ist mir wichtig, daraus zu zitieren, um neben meiner Schuld auch mein Verständnis und meinen Einsatz für sie festzuhalten:
„Betrachtet man Ninas Rechtschreibleistung, so fällt auf, dass sie typisch legasthenische Fehler macht, wobei speziell Buchstabenauslassungen sowie Fehler, die die Groß-und-Klein-Schreibung sowie die Unterscheidung von harten und weichen Konsonanten betreffen, zu finden sind. Bei den Schularbeiten finden sich auch häufig Verwechslungen von b und d, was ein Hinweis darauf ist, dass Nina in Schularbeitssituationen unter starkem Druck steht,
Aufgrund ihrer Teilleistungsschwächen muss Nina in jedem Fall vermehrt Konzentration und Anstrengung aufbringen, um zu entsprechenden Leistungen zu gelangen. Dies führt zwangsläufig zu schnellerer Ermüdung. So können ihre schriftlichen Leistungen nie ihrem Wissen und dem dahinter steckenden Aufwand Rechnung tragen. Frustrationserlebnisse sind nach wie vor die Folge. Nina bemüht sich sehr und muss immer wieder erfahren, dass auch Fleiß und Üben nicht zum erwarteten/gewünschten Erfolg führen und auch in keinster Weise in der Schule honoriert werden. Dies ist für sie kaum zu verstehen und auch nur schwer zu verkraften. Die Misserfolge sowie die häufige Kritik an ihren Schreibleistungen lassen Nina immer wieder verzagen. Der psychische Druck ist groß.
Da wir Nina nach wie vor als gut motiviertes, williges und gescheites Kind erleben, das aber immer wieder sein Selbstwertgefühl verliert, halten wir es aus psychologischer Sicht für absolut notwendig, Nina zu stärken, ihre guten Leistungen hervorzuheben, sie vermehrt zu mündlichen Leistungen anzuspornen, diese und auch ihr Bemühen gebührend zu honorieren und gleichzeitig in der Beurteilung der Rechtschreibung ihre Legasthenie zu berücksichtigen. Nur so kann der Druck genommen werden und Nina vermag wieder Sicherheit zu gewinnen.
Teilleistungsschwächen im optischen Differenzieren und im optischen Gedächtnis bedeuten, dass Nina visuelle Details nur schwer erfassen kann, wenn ihr dies gelingt, so kann sie Erfasstes nur schwer speichern und wieder richtig abrufen. All dies ist aber bei der Rechtschreibung unbedingt notwendig. Buchstabenauslassungen, b/d-Vertauschungen sowie Probleme mit der Groß-und-Klein-Schreibung sowie dem Unterscheiden von harten und weichen Konsonanten sind die Folge. Es wäre wünschenswert, wenn bei der Bewertung b/d-Vertauschungen, Buchstabenauslassungen sowie Fehler, die die Groß-und-Klein-Schreibung betreffen, außer Acht gelassen würden. Diese haben mit der tatsächlichen Rechtschreibleistung nichts zu tun und sind ausschließlich den Teilleistungsschwächen zuzuschreiben. Auf diesem Wege würde sich Ninas Fehlerzahl deutlich reduzieren, ihre Noten wären besser. Damit würde sich Erfolg einstellen, Nina würde sich in ihren Bemühungen bestätigt sehen. Gleichzeitig würde der Druck genommen und Nina könnte ihre schriftlichen Arbeiten in entspannterer Atmosphäre erledigen, was ohnehin langfristig zu einer Fehlerreduktion führen würde.“

Der Befund brachte gar nichts, die Schlange musste weiter beißen, gab Nina mit einem Dreier und zwei Vierern auf die Schularbeiten in Deutsch einen Vierer ins Halbjahreszeugnis, doch Nina und ich waren endlich keine Kaninchen mehr. Den Druck, den Nina in der Schule erlebte, brachte sie nun wieder klarer zum Ausdruck, sie erzählte mir z.B. dass die Lehrerin wegen schlechten Benehmens Englisch strich und Deutsch verlängerte. In einer Hausübungssituation ließ sie auch ihre Wut auf die Lehrerin erkennen, zu der ihr viele aggressive Sätze einfielen, die sie sehr genoss, aber nicht hinschrieb. Nina brachte nun wieder ihren Wunsch nach Spielstunden zum Ausdruck, dem ich nachkam, sie wählte meist Detektivspiele! Auch im Leistungsbereich blieb ich am Ball. Dabei machte Nina sogar einmal die Erfahrung, dass sie nach dem Überwindern anfänglicher Unlust etwas fand (einen Block mit Labyrinthen), was sie so sehr faszinierte, dass sie sich auch alleine damit beschäftigen mochte. (Nina kopierte sich einige Blätter für zu Hause!)
Doch erst in den letzten zwei Schulmonaten sind wir, meiner heutigen Ansicht nach, wieder dort angekommen, wo wir schon am Ende des vorigen Schuljahres waren.

80. Stunde
Nina erzählt über ihre Angst angesichts der morgigen D-SA (letzte). War schwer vorzubereiten. Nina sorgt sich, wie es ausgehen wird, größte Angst in der Zeit der Beurteilung. Braucht im Moment keine spezielle Hilfe, will Entspannung (Vorlesen). Bevor wir zu lesen beginnen, erzählt mir Nina vom Lügen, das sie sehr gut kann, um sich und ihre Freunde aus Situationen der Enge rauszureden. Muss es ganz besonders stark in der Schule bei der Lehrerin anwenden! Ich frage, wie es bei Mama oder mir ist und sie findet, bei uns sei es nicht nötig. – „Du fühlst dich sicher, angenommen auch mit Fehlern!“

81. Stunde
Nina kommt mit einer ungeübten Ansage, in der die Lehrerin 13 Fehler entdeckt hat – "da wirst du dich nicht sehr freuen!“ Sie ist so abwehrend, dass ein reguläres Worttraining oder eine Verbesserung nur wenig bringen würden. Als ich mir von ihr jedoch die Worte buchstabieren lasse, macht sie mit. Ich frage nach der Deutsch-Schularbeit, sie antwortet, sie habe sie noch nicht gesehen, wisse aber die Note (Genügend) und sei darüber traurig. Sie habe es der Mutter noch nicht gesagt und lege Wert darauf, dass auch ich ihr nix sage, denn die Mutter würde schimpfen. Heute beim Sprechtag ist sie zum Verkauf eingeteilt (hat sich selbst gemeldet). Konflikt mit der Mutter, die meint, die Zeit bräuchte Nina zum Üben – „Mama ist ure sauer!“ Diesmal malt Nina eine Fahne. „Mama meint ich werde Malerin“, „Ich zeichne gerne – für mich etc.“, „Ich will Tischlerin werden“, „Ich mag so gerne technisches Werken“, „Habe immer römische Einser“.

82. Stunde
Nina und Mama kommen, auf die beiden letzten Schularbeiten in Deutsch und Mathematik jeweils Genügend, sind recht zerknirscht. Nina entdeckt die Tafel und montiert sie. Thema zwischen uns ist Anerkennung: Ich erkenne an, dass Nina toll montieren kann, Nina erkennt an, dass wir tolles Werkzeug haben. Dann spielen wir Schule – ich werde korrigiert und muss Verbesserungen machen.

83. Stunde
Nina erzählt zuerst viel – Urlaubspläne, was sie ankotzt (Bus und Besichtigungen) und was ihr einfällt vom Fernsehen, mit dem sie nicht aufhören kann, das ihr aber unter der Woche verboten ist. Will auch meine Ferienpläne wissen und meint, als ich erwähne, dass ich einige Wochen davon arbeiten werde: „Ich finde Arbeiten blöd!“. Danach wählt sie Regelspiele. Gegen Ende der Stunde formt jede von uns Figuren aus Plastilin und versucht zu erraten, was die andere gestaltet hat.

84. Stunde
Nina freut sich auf die Schulabschlussreise, will spielen, sucht sich Detektivspiel (Agentenjagd) und wir modifizieren es für uns – das nimmt die ganze Stunde ein. Interaktion angenehm/entspannt! Zu Beginn der Stunde überprüft sie, ob ich ihre Arbeiten (Bilder und Plastilin) noch habe – ich spreche aus, dass das für sie wichtig ist – sie uneingeschränkt: „Ja!“

In der vorletzten Stunde dieses Schuljahres drückte Nina meiner Ansicht nach viel von dem aus, was sich in diesem schwierigen Jahr abgespielt hatte.

85. Stunde
Nina und ich spielen Ball. Jede von uns hat 10 Leben. Immer wenn ein Ball nicht gefangen werden kann, geht ein Leben verloren. Nina beginnt mich mit viel Kraft an- und abzuschießen. Unser Spiel ist lustvoll, aggressiv, ein wenig bedrohlich. Bald baut Nina sich einen Rückzugs- und Schutzraum von dem aus sie angreifen kann. Wieder fliegen Bälle hin und her (wild und aggressiv), oft schießt Nina aus dem Hinterhalt bzw. mit Täuschungsmanövern. Sie fordert auch mich auf, mir einen Schutzraum zu bauen und sorgt, obwohl nicht mehr viel Material übrig ist, dafür, dass das auch möglich wird. Geht nun wieder hin und her; immer wieder Rückzug hinter die bzw. Verlassen der Schutzmauer. Wildes Leben, Lust, Kraft, Wut, Aggression im Raum – Angst auch da. Nina entdeckt die Bälleschachtel, Tempo der Auseinandersetzung wird höher, Gefühle werden intensiver. Nina sorgt dafür, dass sie viel Munition hat, teilt mir aber immer wieder auch etwas zu, will das Spiel und forciert es, schießt kraftvoll, ich schütze mich mit dickem Ball. Nina verlässt nie die Grenzen des Spiels, macht nicht ernst, schießt nie den Holzball. Ich merke zwar kognitiv, dass sie nicht davon Gebrauch macht, spüre jedoch emotional, dass ich mich hier nicht ganz auf sie verlassen will, dass ich auf der Hut bleiben muss; Bilder von Auslieferung blitzen in mir auf. Ziehe mich mitunter in meinen Schutzraum zurück, fühle mich erstarrt, ausgelaugt, bedroht. Die Schutzmauern sind beim Kampf umgefallen. Nina baut sich eine wesentlich geschlossenere Höhle und zieht sich mit Munition (Bälle) in ihre Höhle zurück. Meine emotionale Resonanz ist Beruhigung/Entspannung. Nina nimmt über einen Spalt in ihrer Höhle Kontakt mit mir auf. Gibt mir den Impuls anzugreifen, was ich auch tue. Es kommt zu einem neuen, viel direkteren, Kampf mit den Hilfsmitteln Banane und Ball, grimmig wie bei zwei Grizzlys. Als Nina mir den Ball klaut, diesen in ihre Höhle schafft und ich ihn wiederhaben will, spielt sie einen Roboter, der seine Höhle verteidigt, attackiert mich mit Packpapierrollen, haut kräftig hin, erstmals direkter Körperkontakt, ich halte sie fest, sie bezeichnet mich als Feind, zieht sich wieder in ihre Höhle zurück, bereitet abermals Munition vor. Als wir aufhören müssen, komme ich Nina näher um mit ihr zu verhandeln, sie schaukelt auf der Banane, es ist eine wärmere und zartere Szene als zuvor, Freund und Feind – darüber philosophieren wir. Kampfende für heute. Nina will Süßigkeiten, isst einen Teil und nimmt den Rest mit nach Hause.

86. Stunde
Nina und Mama bringen Tee (Mama gekauft, Nina verziert). Waren heute Schule anschauen (Neue Mittelschule), haben beide einen guten Eindruck, freuen sich auf die Ferien. Wir spielen zuerst ein Regelspiel und dann wieder Ball: Tore schießen, draußen schießen. Am Ende der Stunde, fragt mich Nina, ob ich kitzlig bin, will mich kitzeln (lasse ich zu und wahre meine Grenzen), will von mir gekitzelt werden – eigene Form des Körperkontakts. Will, dass ich Dinge von ihr in unserem Zimmer aufhänge!

Schuljahr gelungen, Nina lebt!

Hinaus in die Welt
– fünfte Therapiephase und fünfte Schulstufe (87. bis 111. Stunde)

In unserer ersten Stunde nach dem Sommer berichtete Nina ausführlich von ihrer neuen Schule und zeigte sich mir v. a. in ihrer Fähigkeit sich in der neuen Situation kognitiv, emotional und sozial zu orientieren. Auf meine Frage, ob sie froh sei, der alten Schulsituation (vor allem der Lehrerin) entkommen zu sein, antwortete sie – für mich vorerst überraschend – dass ihr die alte Schule abgehe, sogar die Lehrerin vor allem aber die Klassenkameraden. Nina war die einzige aus der alten Klasse in der neuen Schule! Ich griff Ninas Traurigkeit über den Verlust des vertrauten Alten und ihre Verunsicherung angesichts des Neuen auf, wo sie sich als ganz auf sich allein gestellt erlebte, auch wenn sich alles sehr gut anließ. Die Intervention passte, Nina schloss das Thema Schule ab und begann zu spielen!
In diesem Jahr kam Nina endgültig auf die Beine, so sehr, dass sie ohne meine Unterstützung weiter gehen konnte. Wesentlichste Voraussetzung auf Seiten der Eltern war, dass diese die Schule nicht nach dem gesellschaftlichen Prestige (z.B. AHS) gewählt, sondern allein wegen ihrer Eignung für Nina (also ohne Bewertungsbedingungen) ausgesucht hatten. In dieser Schule (einer neuen Mittelschule) machte Nina so viele neue Erfahrungen von positiver Beachtung und differenzierter Bewertung, dass ihr Selbstaktualisierungsprozess dauerhaft in Fluss kam und dass ihr die Entwicklung zu der, die sie war und werden konnte, wieder möglich und reizvoll schien!

Nina gewann eine immer größere Fähigkeit, sich selbst sowohl in ihren Möglichkeiten und Grenzen (im Leistungsbereich) als auch in ihren emotionalen Reaktionen darauf realistisch und entspannt zu betrachten.
Schon in unserer zweiten Stunde nach den Ferien zeigte sie ihre Enttäuschung über die Erfolglosigkeit ihres Übens für einen Englisch-Vokabeltest, war bereit, sich meine Lernempfehlungen anzuhören, sprach Sätze wie z.B. „Ich war eine der Schlechtesten.“ und „Das verstehe ich nicht.“ mit großer Gelassenheit aus, konnte problemlos dazu stehen, wenn sie Hilfe brauchte, diese ohne Gesichtsverlust annehmen, ja sogar einfordern. Sie brauchte sich so, wie sie wirklich war, weder vor mir, noch vor sich selbst zu verstecken. In einem Konflikt zwischen Pflicht (Nina machte Hausübung) und Neigung (sie hätte auch gerne gespielt), phantasierte sie die Verlängerung unserer Zeit („Noch eine Stunde!“) als gute Lösung. Ninas Hin-und-Her-gerissen-Sein zwischen Pflicht und Neigung beschäftigte uns öfter. Manchmal versuchte sie, sich eine unangenehme Pflicht (z.B. Hausübung) durch etwas Angenehmes (z.B. Vorlesen) zu versüßen, musste aber die Erfahrung machen, dass sie beim Zuhören weder schreiben noch rechnen konnte. Anfangs empfand ich Nina als grantig, wenn ich sie auf den Wunsch nach und die Unmöglichkeit von Vereinbarkeit ansprach und wenn ich sie ermunterte, sich zu entscheiden. Doch gab es auch Stunden, in denen Nina mit dem Kommentar „Ich hab zum Rechnen eigentlich gar keinen Kopf“ die Mathematik-Hausübung in aller Ruhe abbrach oder ihre Arbeit mit dem ungenierten Kommentar „Ich hasse Aufgaben.“ begann. Doch war es gerade diese Klarheit über ihre Unlust, die Nina half, auch den Wunsch zu berücksichtigen, ihren Pflichten nachzukommen. Auf meinen damaligen Einwurf „Da musst aber sehr oft machen, was du hasst.“, erwiderte sie „Ja leider!“ und arbeitete sie eine Zeit lang konzentriert.
Ein gutes Beispiel für Ninas grundlegend positiveres aber auch erheblich differenzierteres Selbstbild ist eine Sequenz aus unserer 97. Stunde Mitte Jänner:

Nina findet im Buch die Rechenaufgaben, die sie zu lösen hat: „Also das und das. Urleicht!“ Sie zeigt mir wo sie im Buch sind und meint stolz: „Schau, was wir schon alles gemacht haben.“
J anerkennend: „Das ist ja irrsinnig viel.“
N: „Das müssen wir alles noch machen. Das schwierigste war ...“
J: „Das war schwierig?“
N: „Aber irrsinnig schwierig wird auch das sein ...“
J: „Das kannst auch!“
N nach einer Pause: „Echt?“
J: „Schau mal: Bei einem Rechteck weißt du wie du die Fläche ausrechnest. Wenn du da den Strich fertig machst, hast du ein Rechteck. Da hast du die Seite und die Seite ...“
N: „Mhm.“
J: „... und da hast du noch einmal ein Rechteck, oder? Das da weißt wie lang das ist und das da, dieses Stückerl, wie weißt du denn wie lang das ist?“
N: „Indem man das von dem abzieht.“
J: „Genau. Und da rechnest noch einmal das mal dem und dann hast du’s.“
N: „Ah.“
J: „Ich glaub das wird dir auch nicht schwer fallen!“


Nina entwickelte einen eigenen Blick auf sich selbst, wurde immer unabhängiger vom Urteil anderer. Während sie zu Beginn des Jahres betonte, zu den vier Kindern zu gehören, die immer alles haben, nahm sie bereits im Jänner mein ehrliches Lob über ihre Schrift nicht mehr an (Sitznachbarin und Mutter schreiben schöner), sagte bald darauf über sich: „Ich bin flink, da musst du aufpassen.“, und meinte im März gelassen, als sie bei mir Englisch-Hausübung machte und wir beide die Schreibweise eines Wortes nicht genau wussten: „Ist ja egal, soll’s die Lehrerin ausbessern“. Ende März und Mitte Mai ließ sie zusammen mit ihrer Unzufriedenheit über zwei Genügend auf Schularbeiten durchblicken, dass sie glaubte, sie könnte es schon viel besser.

Unerklärliche und ungerechtfertigte rechtschreibbedingte Misserfolge erlebte Nina zum Glück nur mehr sehr selten. Doch diese brachten sie (verständlicherweise) noch immer stark aus dem Gleichgewicht, wie eine Passage aus unserer 99. Stunde Ende Jänner zeigt:

J: „Was hast du mir denn mitgebracht?“
N: „Eine 5, eine 5 in Bio!
Sie zeigt mir die Arbeit, ich betrachte sie genau und frage Nina, ob die Bio-Lehrerin auch Deutsch unterrichtet, was sie verneint.
J: „Wegen dem, dass du kein Doppel-A geschrieben hast, hat sie dir keinen Punkt gegeben?
N: „Ja.“
J: „Das ist schon stark. Was sagst denn du dazu?“
Nina schweigt.
J: „Magst gar nix sagen dazu.“
N: „Weißt du, was ich nicht versteh. Wir haben einen in der Klasse, den Benjamin, der will immer nur Einser haben und jetzt weil er im Zeugnis und auf den Biologietest einen Zweier bekommen hat, hat er geweint.“
J: „So was kannst du wirklich nicht verstehen.“
N: „Ich hätte eigentlich weinen sollen!“
J: „Ja. ... Das ist mehr zum Weinen, wenn man etwas im Grunde weiß und Punkte verliert, nur weil man das nicht richtig schreibt, oder? ... Glaubst du kann man da was machen? ... Hast du’s der Mama schon gezeigt?“
N: „Nein, aber ich hab’s ihr schon gesagt am Handy.“
J: „Und was hat sie gesagt?“
N: „Dass ich zu wenig gelernt hab.“
J: „Da hat sie glaube ich aber nicht recht, oder? ... Weißt du, was ich gern der Mama sagen würde, wenn’s dich nicht stört? Ich würde der Mama gern sagen, ob denn das nicht möglich wäre, dass sie versucht, der Frau beizubringen, dass du legasthenisch bist und dass sie schauen soll, ob du es richtig gemeint hast und nicht auf die Rechtschreibung, oder dass sie dich mündlich prüfen soll, ich mein das ist ja komisch, oder? ... Da sagst du mir gar nicht, was du denkst dazu. ... Glaubst du wäre das was, wenn ich das der Mama sag.“
N: „Ich weiß nicht.“
J: „Oder soll ich ihr (der Lehrerin) was schreiben oder so. ... Ist es besser wenn’s die Mama macht, oder magst nicht, dass das bekannt wird in der Schule, dass du ...?“
N: „Wieso, ich sitz ja eh auch neben einer Legasthenikerin. Die Mama hat das ja eh schon am Schulanfang gesagt.“
J: „Dass würde dich nicht stören! ... Weil ich muss dir ehrlich sagen, ich finde für einen Vierer hätte das sicher gereicht, weil du hast wirklich durch die Rechtschreibung Punkte verloren.“
Danach arbeitet Nina an ihren Hausübungen in Englisch und Mathematik. Es ist ruhig, wir sind in intensivem Kontakt. Nina ist tief verunsichert. Das merkt man auch daran, dass sie mich bei einfachsten Rechnungen (wie z.B. 48 durch 2, oder 4x7) um Hilfe bittet. Als sie bei der Deutschhausübung angekommen ist meint sie:
N: „Weißt du schon, dass ich in E und D einen 3er (im Zeugnis) hab. Und in M einen 4er, wegen dem da (meint den Test). Ich hab nicht zu wenig gelernt, ich hab ja eh alles gewusst, das ist nur wegen diesen Fehlern da.“
Ich sichere Nina zu, dass ich der Mutter den Legasthenieerlass für die AHS kopieren und mitgeben werde, dass ihre Schule leider nicht daran gebunden sei, dass sie vielleicht doch die Möglichkeit erhalten könnte, mündlich zu zeigen, was sie weiß.
J: „Ich mein, das ist ein Biologietest und nicht eine Deutsch-Schularbeit, oder?“
N: „Mhm.“

Sowohl das Mädchen als auch seine Mutter waren damals tief verzweifelt. Nina hatte abermals erfahren, dass ihre Mutter ungerechtfertigte Deutungsmuster einer Lehrerin übernommen hatte. Sie brachte das Ausmaß ihrer Bedrängnis zum Ausdruck, indem sie ihrer Mutter vermittelte, dass sie nicht mehr könne und indem sie dieser gegenüber äußerte, sich etwas antun zu wollen. Drei Stunden später, erzählte mir Nina, sie habe das damals nicht ernst gemeint.

Doch Nina durfte in der neunen Schule überwiegend differenziertere und richtigere Bewertungsmaßstäbe erfahren. Sie zeigte mir eine Art Halbjahrszeugnis, in dem sie von jedem Lehrer auch in Dimensionen wie Interesse, Ausdauer, Umgangsformen, Teamgeist, Integration, Regeleinhaltung, Kritikverhalten, Hilfe, Termineinhaltung, Ruhe, Selbstständigkeit u.s.w. eingeschätzt worden war. In diesen Fähigkeiten war sie z.B. von ihrer Englischlehrerin, die Ninas Fachkompetenz in Englisch als „zufriedenstellend“ bezeichnet hatte, sehr hoch bewertet worden. Erstmals erlebte sie Deutschnoten, die alle vier im Schulunterrichtsgesetz erwähnten Bewertungsdimensionen (Inhalt, Stil, Sprache und Rechtschreibung) berücksichtigten und (dem Gesetz folgend) nie allein durch mangelnde Rechtschreibleistung negativ werden konnten. Im März stellte die Deutschlehrerin nach einer Schularbeit, bei der kein Kind ein „Nicht genügend“ geschrieben hatte, sogar eine Einladung zum Pizzaessen in Aussicht, falls die Klasse diese tolle Leistung fünf Mal in Serie erbringen würde. Das alles tat Nina und ihren Eltern wohl, ich wurde in Schularbeits- oder Testvorbereitungen so gut wie gar nicht einbezogen, erfuhr auch nicht mehr von allen Noten, war von diesen Entwicklungen so beruhigt wie berührt.

Ninas Differenzierungsprozess zeigte sich auch in ihrer Beziehungsgestaltung, für mich vor allem in der Beziehung zu mir. Ich hatte durchwegs den Eindruck, dass Nina es sehr genoss und dass sie auch darauf baute, von mir etwas zu bekommen. Sie liebte es, in unseren Stunden Keks aus der Praxisküche zu essen und schätzte es nach wie vor sehr, wenn ich ihr vorlas. (Dabei entwickelte sie sich weg von den kurzen Franzgeschichten hin zu wesentlich längeren Büchern von Christine Nöstlinger, z.B. „Vranek sieht ganz harmlos aus“, die wir auf mehrere Stunden verteilten.) Nina hatte aber auch immer mehr Interesse daran unsere Beziehung auszuloten. In diesem Bestreben wurde sie im Laufe des Jahres immer direkter und vielfältiger. Anfangs handelten wir unsere Beziehungsthemen im Regelspiel ab. Nina hatte in den Jahren unserer Zusammenarbeit immer wieder versucht, Spielregeln zu ihren Gunsten zu verändern. – Schon ihre erste (kooperationsstärkende!) Regeländerung in diesem Jahr bereicherte unser Spiel merklich. Als Nina sich nach einem kleinen „Rechenfehler“ mit einem Punkt Vorsprung zur Gewinnerin erklärte, sprach ich ihr Bedürfnis zu gewinnen für sie aus und fand, sie habe ja auch wirklich einen Extrapunkt für ihre Spielidee verdient, die ich (wirklich) als Gewinn für uns beide erlebt hatte.
Unsere Stunden im November waren vom Umgang mit Spielregeln bestimmt:

Abalone: Ausdauerndes und konzentriertes, vor allem jedoch ruhiges Spiel, in dem wir uns wirklich auseinander setzen. Ich spiele mit meiner ganzen Kraft, achte auf die Einhaltung der Regeln, die ich zwischendrin immer wieder erkläre und die Nina zwischendrin immer wieder nachfragt. Sie lässt sich von mir leiten, durchgehend auf die Regeln verpflichten und hält auch aus, dass ich gewinne. Danach entwickelt Nina das Spiel weiter, spielt auf mehr als sechs hinausgeschmissene Kugeln. Ich werde nicht von jeder (sich meist im Zuge des Spiels ergebenden) Regeländerung (vorher) informiert, doch wehre ich mich – nicht gegen Änderungen an sich (erlebe ich zum Teil als sehr kreativ), aber dagegen, dass Nina versucht, sie ohne vorherige Vereinbarung vorzunehmen.
Tutti-Frutti: Wieder intensive Auseinandersetzung mit den Spielregeln. Wenn Nina meint, einen Punkt zu machen und keinen macht, wenn ich einen Punkt mache und sie nicht weiß weshalb ... fragt sie immer wieder wieso. Suche nach Orientierung an den Regeln und nach Halt bei mir. Nina gewinnt, sie kann ihre Freude zeigen und auch ich habe Raum für mein Bedauern über mein Verlieren.
Lastwagen beladen. In der ersten Runde ist eine Fortsetzung der „Wieso-Phase“ (Orientierung an Regeln) zu beobachten. Am Ende fügt Nina, die am Gewinnen ist, eine eigene Regel hinzu: Fertig ist man erst, wenn man zwei Mal Weiß würfelt. Da zwei Mal Weiß gleichzeitig sehr unwahrscheinlich ist, schlage ich vor, auf zwei Mal hintereinander zu spielen. In der zweiten Runde werden die Regeländerungen stärker. Nina fragt jeweils nach, ob sie darf (das war nicht immer so!), trifft Abmachungen mit mir (ich bestehe darauf, dass Regeln, für sie und mich gelten!). Als ich meine, dass sie schummelt, spreche ich über meinen Verdacht, verbeiße mich aber nicht hinein, sondern lasse Nina ihren Ausweg („ich lüge nicht!“) und gewinne.
Schatz von Mrs. Jones. X: „Ist noch genug Zeit für ein Abschlussspiel?“ J: „Ja.“ Wieder Frage nach Regeln. Wir spielen, Nina gewinnt und will ein weiteres Mal spielen. Ich verweise auf die Zeitgrenze, spreche für sie aus, dass sie nicht aufhören will. Nina: „Dann zwinge ich dich halt!“ Ich rate ihr, mich nicht zu zwingen, weil ich das nicht mag, mich lieber zu überreden – und wir spielen ein weiteres Mal.
Tabu: Meine Funktion besteht zuerst darin, Nina die Regeln zu erklären. Sie entscheidet vorerst, ohne Zeitdruck zu spielen. Bald stellt sich heraus, dass wir beide (auch Nina, die mich damit beeindruckt!) sehr gut mit diesem Spiel zurechtkommen. Wir sind knapp, originell und wendig in unseren Beschreibungen. Es ist eine lust- und respektvolle Stimmung zwischen uns beiden. Einmal als ich einmal etwas länger brauche, meint Nina: „Geht’s ein bisserl schneller!“ Ich antworte gelassen: „Nein!“ Nach einiger Zeit gibt Nina dem Spiel durch eine neue Spielregel – in einer bestimmten Zeit abwechselnd möglichst viele Umschreibungen schaffen – neuen Drive. Auch in diesem Tempo bewähren wir uns gut. Ich, die ich noch zuvor gemeint hatte, nicht schneller zu können, fühle mich durch die Steigerung des Tempos belebt.

Nina hatte es seit Beginn dieses Jahres in unserer direkten Beziehung und in unseren Spielen auf das Austesten und Erfahren meiner Grenzen angelegt. Anfangs hatte sie es auf mein Aufnahmeequipment abgesehen, an dem sie einmal so herummanipulierte, dass ich ein leeres Band hatte, was mich anfangs kränkte, was ich dann einerseits liebevoll anzunehmen versuchte, andererseits jedoch durch verstärkte Aufmerksamkeit verhinderte. Heute meine ich, dass hier ein klares Nein gefehlt hat und dass Nina mich so lange weiterprovozierte, bis ich in unserer 94. Stunde Mitte November endlich dazu in der Lage war.

In der darauffolgenden Stunde, die in einer mir wohlbekannten, warmen und ruhigen Stimmung zwischen uns verlief, hatte ich erstmals das Gefühl, dass unsere gemeinsame Wegstecke bald zu Ende gehen könnte. In weiterer Folge gab es zwischen uns ein höheres Maß an gegenseitigem Respekt und wechselseitiger Anerkennung. Auch wenn alte Themen wie Kitzeln und Kämpfen wieder auflebten, auch wenn wir weiterhin um Spielregeln miteinander verhandelten, dies geschah in einer partnerschaftlicheren und demokratischeren, vor allem aber in einer viel abgegrenzteren Art und Weise. Nina freute sich, als ihr auch selbst klar wurde, dass ich mich immer mehr anstrengen musste, um gegen sie gewinnen zu können. Sie spielte lustvoll (regelkonform) „gemein“, ohne Angst um unsere Beziehung zu haben und forderte mich am Ende des Wintersemesters zu einer ernsthaften körperlichen und zu Beginn des Sommersemesters zu einer ernsthaften spielerischen Auseinandersetzung. – Nina war überzeugt davon, kompetent genug zu sein, sich gegen mich durchsetzen zu können. Als ich ihr zum Geburtstag (quasi als Symbol für unsere Auseinandersetzungen) lachende Jonglierbälle schenkte, kommentierte sie diese, in einer für sie untypischen ausschließlich positiven Weise: „Süß, die sind ja ur herzig!“ und bedankte sich ungewöhnlich offenherzig und eindeutig.
In der letzten Phase unserer Beziehung erprobte sie, ob ich auch ihr Bedürfnis, sich von mir abzulösen, verstehen und annehmen konnte: Sie ließ sich in sieben aufeinander folgenden Stunden von mir „Pfui Spinne“ vorlesen, ein Jugendbuch von Christine Nöstlinger und gab mir in kurzen Anfangssequenzen bekannt, dass sie sich zum ersten Mal verliebt und ihre erste Regel bekommen hatte, wollte über diese knappen Ansagen hinaus mit mir darüber jedoch nicht sprechen, was ich akzeptierte.
Nina war dort angekommen, wo man ein Mädchen in ihrem Alter vermuten würde, sie pubertierte, konnte es sich leisten, ein wenig von ihren Eltern abzurücken (z.B. eigene Sichtweisen von ihnen zu entwickeln), musste Lehrer nicht mehr tierisch ernst nehmen, erzählte mir von Streichen, die ihre Klasse Lehrern und Direktor spielte, gab freimütig zu, dass es sich gut anfühlte (phantasierte od. reale) Macht über Lehrer zu haben und hatte sich der Gruppe der Gleichaltrigen zugewandt, die sie als „Team“ (v.a. gegen die Lehrer) bezeichnete und in der sie (Zusammen-)Halt gefunden hatte.
Ich war so stolz auf Nina und sie war v.a. mit Recht sehr stolz auf sich. Der Abschied fiel uns nach unserer langen gemeinsamen Zeit mit Sicherheit beiden nicht leicht. – Es ist mir zwar peinlich, doch finde ich es typisch, nun zugeben zu müssen, dass ich die Bänder mit unseren letzten Stunden im Moment nicht finden kann und dass auch in meiner Erinnerung keine Bilder aus der Zeit unserer endgültigen Verabschiedung auftauchen.
Ich habe nur noch Szenen aus meinem Besuch bei Nina und ihrer Mutter in deren Garten vor Augen, auf den ich mich (zusammen mit einem Rosenstock) einließ, obwohl das für mich schon damals untypisch war und noch immer untypisch ist. Ich vermute, ich nahm dabei eher von der Mutter Abschied, denn Nina empfand ich (wie in den letzten oben beschriebenen Stunden) als abgegrenzt.
Sie hat mir noch eine Zeit lang wunderschöne, sehr formelle Karten geschrieben, doch nun habe ich schon lange nichts mehr von Nina gehört. Ich habe das Gefühl, das ist ein gutes Zeichen, hatte in der Zeit des Schreibens Lust nachzufragen, wie es Nina heute geht, bin aber noch immer nicht entscheiden, ob ich das auch tun werde.
Vielleicht dient mein Nichts-Genaues-mehr-vom-Abschied-Wissen dazu, zu phantasieren, dass unsere Verbindung in irgend einer Weise noch da ist und (dank ihrer Dokumentation in meiner Abschlussarbeit) auch weiter bestehen wird. Nina ist in meiner Phantasie über sie und in meinem Gefühl zu ihr auf einem guten Weg.

 

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Judith Reimitz

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