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psychotherapeutische Arbeit mit lern- und leistungsschwachen Kindern

Literaturverzeichnis


Das Mädchen vom Dorf und ich – Differenzierungsprozesse
Amina, das Mädchen vom Dorf, war Klientin einer Familienberatungsstelle des Niederösterreichischen Hilfswerks. Vor zwei Jahren habe ich begonnen dort mitzuarbeiten, mit dem Ziel, Erfahrungen als Erwachsenentherapeutin zu sammeln, was mir (bis zu einem gewissen Grad) auch gelungen ist. Am Land sind Beratungen und Therapien für Kinder und Jugendliche oft mehr gefragt als unsere Angebote für Erwachsene und so kam es, dass auch dort bald Kinder und Jugendliche zu meinen Klienten zählten. Eine Zeit lang war ich innerlich hin und her gerissen, doch bald begann ich es sehr zu schätzen, wieder einmal ausschließlich spieltherapeutisch mit Kindern zu arbeiten, neue Erfahrungen mit Jugendlichen zu gewinnen – und vor allem zu erleben, dass ich auf den Schatz an Kompetenzen, den ich an der Klinik gesammelt habe, noch immer zugreifen kann. (Ich lebe oft in großer Sorge, dass ich Erfahrungen und Fähigkeiten, die ich eine Zeit lang nicht einsetze, still und heimlich verlieren könnte!) Ich habe damals gelernt, mich als Unerfahrene mit Erfahrung zu begreifen, was mich nicht nur in meiner beruflichen Identität sehr gestärkt hat. Nichts von dem, was ich bisher gemacht habe bzw. was ich aktuell mache, ist für meine Arbeit wertlos. Es kommt mir immer wieder zu Gute, dass ich auch klinische Psychologin und kleinkindpädagogische Fachjournalistin bin. In den letzten beiden Jahren haben sich für mich auch durch das Leben mit Valentin wertvolle berufliche Veränderungen ergeben. Ich habe den Eindruck, dass ich mich nun nicht mehr als so abhängig und auch nicht mehr als so defizitär begreife wie früher. Ich besinne mich immer mehr auf den Reichtum meiner Erfahrungen und Interessen sowie meiner Innenwelt. – Und ich finde es (wahrscheinlich genau deshalb) immer aufregender und lohnender, mich auf mehr von dem Vielen einzulassen, was die (psychotherapeutische) Welt mir anzubieten hat.
Die Arbeit mit Amina, einem Mädchen, das mit neun Jahren wegen emotionaler Probleme im Zusammenhang mit Legasthenie an unsere Beratungsstelle kam, war für mich als Teilleistungsschwächentherapeutin besonders interessant. Daher will ich hier nach einer kurzen Falldarstellung meine Hypothesen darüber skizzieren, was an einer rein spieltherapeutischen Arbeit mit teilleistungsschwachen Kindern, z.B. Amina, ähnlich und was anders ist als beim multidimensionalen Arbeiten, z.B. mit Nina.

Ich kann nicht mehr – Fragment einer Anamnese
Aminas Vorgeschichte habe ich niemals in allen Details erhoben. Ein solches Vorwissen, an dem ich mich früher vor allem in der Anfangszeit oft recht fest anhalten musste, ist mir in der therapeutischen Beziehung mit ihr nie wirklich abgegangen. Amina ist die älteste Tochter ihrer Eltern. Sie lebt seit Beginn ihrer Volksschulzeit zusammen mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem jüngeren (ebenfalls legasthenischen!) Bruder in einem Haus im Einzugsgebiet unserer Beratungsstelle. Die erbliche Belastung von zwei Kindern durch Legasthenie stammt primär aus der mütterlichen Familie (doch auch auf der väterlichen Seite gibt es einschlägige Schwierigkeiten). Aminas Mutter ist zum Glück nur leicht betroffen. Sie hat viele Interessen, ist engagiert und begabt, arbeitet Teilzeit in einer beruflich sehr fordernden Situation. Ungewöhnlich kompetent und leidenschaftlich setzt sich diese Mutter für ihre Kinder ein, war diejenige, deren hartnäckiges Fragen und Suchen letztlich zu Diagnose und Therapie führte. Von der Schule selbst sind in diesem Zusammenhang bei beiden Kindern keine konstruktiven Impulse ausgegangen! Amina hatte als erstes in ihrer Kernfamilie von Legasthenie betroffenes Kind eine unangenehme Vorreiterrolle. Sie ist ein sich selbst gegenüber sehr anspruchsvolles Mädchen, bei dem ich jene Form von Lese- und Rechtschreibschwäche vermute, die von einer umschriebenen Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache begleitet ist. Die (emotional sehr entlastende) Diagnose von Aminas Teilleistungsschwächen erfolgte in ihrem zweiten Schuljahr an einem Krankenhaus in Wien, wo das Mädchen daraufhin wöchentlich Therapie erhielt (Logopädie bzw. Ergotherapie) – die Familie nahm lange An- bzw. Abfahrtswege in Kauf. Als die therapeutischen Fortschritte zu stagnieren begannen, und vielleicht auch deshalb, weil der schulische Druck in der vierten Klasse (dem Schularbeitsjahr) zunahm, machte das Mädchen bei der Ergotherapeutin Aussagen über ihre Überforderung, die diese sehr alarmierend fand, weshalb sie den Eltern dringend psychotherapeutische Unterstützung für Amina anriet. Diese wandten sich an unsere Beratungsstelle, wo Amina an mich verwiesen wurde. Unsere erste Stunde war im Jänner 2002.

Nina und Amina – ähnlich und doch verschieden
(ICD-10-Diagnosen und klientenzentrierte Diagnostik)

Was die ICD-Diagnosen betrifft, so finde ich Ninas und Aminas Situation vergleichbar. In der klientenzentrierten Diagnostik sehe ich einen wesentlichen Unterschied. Amina hatte weniger Bewertungsbedingungen und mehr Verständnis durch ihre Eltern erfahren. Das hat ihr auch eine höhere psychische Stabilität eingetragen, die sie jedoch im stressigen vierten Schuljahr verlor.
Aminas Mutter hatte durch Antrag auf Deutschbeurteilung nach ASO-Lehrplan (eine rechtschreibfreie Deutschnote gibt es in NÖ nicht!) einen Verbleib ihrer Tochter in der Klasse durchsetzen können. Nun waren zu den Lese- und Rechtschreibproblemen auch noch Formulierungsdefizite bei Aufsätzen, Verständnisschwierigkeiten bei Textrechnungen und eine hohe psychische Belastung durch die Schularbeitssituationen hinzugekommen, die Aminas Leistungen zusätzlich drückten. Nicht nur das Mädchen und seine Familie sondern auch Klassenlehrerin und Schuldirektorin waren sehr verunsichert. Amina, die durch die bisherigen Erfahrungen mit ihren Teilleistungsschwächen in ihrem Selbsterleben ohnehin eine Vielzahl von Irritationen zu verkraften gehabt hatte, war erheblich ins Wanken geraten. Immer weniger konnte sie die sein, die sie gerne gewesen wäre, immer deutlicher musste sie erkennen, mit Therapie und Üben nur wenig beeinflussen zu können und immer mehr litt sie daran zu sehen, dass sie weder das Niveau ihrer kompetenten Mutter noch das der nicht betroffenen jüngeren Schwester würde erreichen können.

Lass mich – erste Therapiephase
Kurz nach den Weihnachtsferien und kurz vor dem Abschluss des ersten Semesters lernten Amina und ich uns kennen. Unsere erste gemeinsame Stunde möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen. Sie diente mir nicht nur zur klientenzentrierten Diagnostik sondern ist auch typisch für die Anfangsphase unserer Therapie.

14.01.02
Amina kommt mit ihrem Vater. Die Mutter (mit der ich zur Terminvereinbarung telefoniert hatte) hat sich bei einem Sturz vom Pferd das Knie verletzt und musste heute operiert werden.
Amina wirkt auf mich sehr scheu, verängstigt, gehemmt, ist aber bereit mit ins Spielzimmer zu kommen und den Vater weggehen (Besorgungen) zu lassen. Ich sage ihr, dass sie spielen kann, was sie will, dass sie nix muss – darauf scheint sie anzuspringen, exploriert sodann das Spielzimmer und die Spielmaterialien.
In einer ersten Sequenz spielt das Mädchen mit einer Turtelschildkröte, die ein Innenleben besitzt, braucht kurz meine Hilfe, bezieht mich sonst wenig ein.
In ihrer zweiten Spielphase beschäftigt Amina sich mit dem Puppenhaus. Dieses ist sehr durcheinander, Amina beginnt es ganz genau zu ordnen, kniet dabei vor dem Puppenhaus zusammengekauert auf einem Polster. Anfangs kommentiert sie ihre Handlungen, hört damit jedoch immer mehr auf und reagiert dann auch nicht mehr auf meine Kommentare bzw. Fragen.
Mir geht es eine Zeit lang damit gar nicht gut, ich fühle mich angespannt, hilflos, nutzlos, empfinde eine eigenartige Mischung aus Traurigkeit, Angst und Aggressivität. Um mich in Amina einfühlen zu können probiere ich ihre Haltung aus, fühle mich sehr unwohl und verkrümmt. Ich mache mir das alles bewusst, denke darüber nach, was es wohl heißen mag, komme zu keinem Schluss.
Amina unterbricht die Situation indem sie aufs Klo geht. Als sie (nach einiger Zeit) zurück kommt spielt sie zwar noch ein wenig mit dem Puppenhaus, weiterhin ordnend, nicht mehr so extrem genau, bricht aber dann ab, noch bevor alles fertig ist.
Amina wechselt abermals das Spielthema, nimmt sich zwei Wollfäden (rot bzw. blau) und beginnt mit diesen Fingerzuknüpfen. Langsam und vorsichtig steigt sie in eine Kommunikation mit mir ein. Die Fäden und das Tun geben ihr dabei sichtlich Halt. Amina erzählt mir ein bisschen von der Schule, vor allem aber von der Mama – wie schlecht es ihr damit geht, dass sie nicht da ist, dass sie als einzige in der Familie darüber weint, dass sie von ihren Freundinnen in der Schule und auch von der Mama getröstet werden muss. Amina scheint eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter zu haben (sie ist die älteste Tochter hat zwei jüngere Geschwister, eine Schwester und einen Bruder) und dürfte sich als sehr schwach und hilfsbedürftig erleben. Es ist eine gute Sequenz zwischen uns, in der Amina mein Bemühen, sie zu verstehen sichtlich als sehr angenehm empfindet. Da Amina eine Zeichnung für ihre Mutter in die Stunde mitgebracht hat (Prinzessin), frage ich, ob sie auch das geknüpfte Band der Mama geben will. Doch Amina verneint und schenkt das Band mir.
Danach will Amina eine weitere Spielsequenz beginnen, das geht sich aber nicht mehr aus. Sie erklärt sich einverstanden wieder zu kommen.


Amina hatte sehr klare Vorstellungen von dem Selbst entwickelt, das sie am liebsten wäre, sie stellte punkto Ordnung und vermutlich auch in anderen Leistungsbereichen (z.B. Schule) hohe Ansprüche an sich. Ihr reales, wahrscheinlich beschämendes Selbsterleben als klein und schwach, als bedürftig und abhängig etc. stand dazu in krassem Widerspruch. Für organismische Autonomiebestrebungen, wie z.B. sich abgrenzen, widersetzen, wehren etc. wollen, hatte Amina nur wenig Raum.
Wie ich bereits im Protokoll der ersten Stunde darstellte, machte es mir anfangs sehr zu schaffen, dass Amina sich bei ihrem Spiel in sich selbst zurückzog und mich nicht zu brauchen schien. Ich bin ein wenig stolz, dass es mir gelungen ist, dieses Empfinden klar zu bekommen, über meine Anteile nachzudenken (ich bin mir in Beziehungen oft sehr unsicher und brauche stets klare Sympathiebekundungen von meinem Gegenüber um mich wohl zu fühlen), vor allem aber konsequent die Frage nach dem zu stellen, was Amina mir damit über sich erzählte. Heute denke ich, Aminas Rückzug war Ausdruck ihrer entmutigten psychischen Verfassung und sie stellte mich damit auch auf die Probe. Ihre Frage an mich war sichtlich, ob ich sie wohl auch so – vordergründig abweisend – annehmen und verstehen würde.
Es hat exakt jene fünf Stunden gedauert, die in der Erwachsenentherapie oft als Probephase vereinbart werden, auf die dann ein fixes Arbeitsbündnis folgt, bis Amina mir ihr Vertrauen aussprach. So lange war ich mit meiner Frage, wo zieht sie sich zurück, wo bezieht sie mich mit ein, beschäftigt – die ja auch für Amina zentrale Lebensfrage war, strebte sie doch nach einer Form von Autonomie in Beziehung, die heranwachsenden teilleistungsschwachen Kindern in Krisensituationen oft nur sehr schwer möglich ist.
Die Spielthemen der ersten Stunden waren stark von Aminas Selbstideal geprägt. Vor ihrem inneren Fluchtpunkt aus, wollte sie mir sichtlich zeigen, wie brav und bescheiden, wie sauber und ordentlich sie ist, dass sie was kann, dass sie liebend gerne jemand wäre, etwas darstellen würde, Macht (z.B. jemanden zu heilen) und Einfluss hätte. Ich denke, es ist mir gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem ich sie einerseits in ihrem Rückzug sein ließ, andererseits auch in ihrem Bedürfnis nach intensiver Auseinandersetzung respektierte. Schon in unserer zweiten Stunde ergab sich eine lustvoll-aggressive Spielsequenz. Amina hatte einen Wasserball gefunden, den wir zuerst mit den Händen hin und her schossen, dann mit je einer halbierten Schwimmnudel. Es war ein intensives, kraftvolles, lebendiges Dreschen, das uns beiden viel Spaß machte und Amina sichtlich gut tat. In der darauffolgenden Woche setzten wir dieses Spiel fort. Es taugte Amina ungemein mit der Nudel ganz fest auf den Wasserball zu kleschen. Ich meinte, das könne ein „Wutballspiel“ sein, was Amina freimütig bejahte. Während unserer Auseinandersetzung trug sie verschiedene Kopfbedeckungen, zuerst den roten Hut, später verschiedenen Helme, meinte dann jedoch, sie könne diese runtergeben, brauche sie nicht zu ihrem Schutz.

J: „Ich habe dir doch nie auf den Kopf geschossen“.
A: „Ja genau!“
J: „Am Anfang muss man nachprüfen, ob man sicher ist.“


Amina hatte nachgeprüft (am Ende dieser Stunde auch zum Ausdruck gebracht, dass sie sich zwar gerne selbst zurückzieht aber nicht gutieren kann, wenn ich, im Zuge der Semesterferien, zu ihr auf Distanz gehe) – und ihren Schutzhelm abgenommen. Das zeigte sie auch in unserer Stunde nach den Semesterferien, indem sie beim Spiel mit dem Computer keineswegs vor mir verbarg, wie schwer sie sich mit dem Lesen und dem Schrieben tat und indem sie meine Unterstützung beim Strategiespiel „Vier gewinnt“ annahm.

„... und doch ich hab dich lieb!“ – zweite Therapiephase

18.02.02
Amina wartet sehnsüchtig. Der Vater ist weggegangen um Besorgungen zu machen. Als Amina mir das erzählt, fällt auf, dass sie sprachlich nicht Perspektive wechseln kann, sie spricht so, als ob sie der Vater wäre, der zum Kind sagt: „Kann ich schon weggehen? Sonst komm ich vielleicht zu spät?“
Sequenz 1: Kreiden/Tafel
1a: Amina entdeckt die Kreiden, sucht nach der Tafel. Ich helfe ihr, sie aufzustellen, sie setzt sich davor, ich mich neben sie. Amina malt sehr ausdauernd eine Zauberblumenwiese, dabei bewegt sie sich (sehr intensiv) so, wie sie meint, dass Künstler malen (wirkt auf mich manieriert). Ich bin daneben, nehme ihr immer wieder den Kreidekübel ab, daran gewöhnt sie sich so sehr, dass sie sich darauf zu verlassen beginnt.
1b: Amina wandert zur Rückwand, meint ich dürfe nicht schauen, kommt auf die Idee, die Tafel umzudrehen, ich gehe (da ich ja nix sehen soll) hinter die Tafel. Amina arbeitet an einer Überraschung. Ich denke in der Zwischenzeit wieder nach, in welchem Bezug Amina momentan zu mir steht und wie das für mich ist, überlege ob ich etwas tun soll, frage dann nach, ob Amina schon fertig ist, worauf sie die Tafel umdreht, auf der steht:
Die Liebe ist etwas wunderschönes
und doch ich hab dich lieb
Dieser Satz ist mit Verzierungen umrandet und mit einer leichten Schraffur überdeckt. Amina meint, sie habe das für mich gemacht. Ich wundere, bedanke, freue mich – bin (angesichts meiner vorangehenden Gedanken) auch ein wenig beschämt.
Amina wird noch deutlicher und meint:
„Ich hab dich wirklich lieb!“
Ich antworte:
„Ich hab dich auch lieb.“
Sequenz 2: Verkleiden
Amina beginnt alleine, summt, stolziert, gefällt sich – fordert dann auch mich auf, mich zu verkleiden. Wir bekommen beide Handtaschen und speisen miteinander – Plastilinspeisen auf Puppengeschirr: Suppe, Cappuccino, Wutzelnudeln, Kugerl. Amina erfindet dann auch eigene Worte für ihre Speisen, sie klingen sehr französich, exaltiert und hochgestochen.
Abschied:
Das Aufhören fällt Amina wieder schwer. Sie zeigt sich in ihrer Verkleidung noch dem Vater. Mit diesem vereinbare ich ein Elterngespräch für die nächste Woche. Die Lehrerin will mit mir Kontakt aufnehmen. Ist den Eltern recht.


- ... und doch ich hab dich lieb! Eine eigentümliche, für ein Mädchen mit sprachlichen Problemen nicht weiter verwunderliche Formulierung. Ich finde sie bemerkenswert und will die Besonderheiten dieser Therapiephase an Aminas Worten aufhängen. Für mich sagt sie damit, ich hab dich nicht lieb weil und ich hab dich nicht um zu, ich zeige dir mein Mögen darin, dass ich immer vertrauensvoller mit dir kooperiere, ich zeige es dir aber auch indem ich mich in deiner Anwesenheit von dir zurückziehe, meinen Eigenraum ausbaue, indem ich (auch wenn du schwanger bist und dein Kind schützen musst) mit dir kämpfe – und doch (bzw. anders formuliert gerade deshalb) habe ich dich lieb, traue ich mich, dich damit zu belasten, mich dir in dem zu zeigen, was mich ausmacht.
Amina liebte den Spieltunnel, den wir kurz vor Ostern bekamen. Aus diesem baute sie sich (in dieser Phase) immer wieder Wohnhöhlen, die sie liebevoll ausschmückte, genau säuberte und in die sie sich auch kurze Zeit vor mir zurückzog. Immer intensiver und wilder wurden unsere lebendigen und lustvollen Kämpfe mit der halbierten Schwimmnudel, auch wenn meine Schwangerschaft immer weiter fortschritt und ich immer besser auf meine Grenzen und auf Valentins Unversehrtheit achten musste. Amina, die betonte, sich mit mir auf mein Baby zu freuen, bedauerte immer mehr, dass ich nicht zu 100% kampftauglich war und freute sich bereits auf die ersten ungebremsten Kämpfe nach Valentins Geburt und unserer Sommerpause. (Ich hatte sie übernommen als ich schon schwanger war und es war für mich von Anfang an festgestanden, dass ich die Therapie fortführen und nicht abbrechen würde.)

Katz und Maus – dritte Therapiephase
Die dritte Therapiephase bestand aus einem (für mein Empfinden) endlosen Katz-und-Maus-Spiel. Zentrales Spielutensil war wiederum unser Tunnel. Amina spielte stets die Maus, die sich jederzeit vor mir, der Katze, in ihr Mauseloch (den Tunnel) zurückziehen konnte. Von dort aus provozierte sie mich so vielfältig wie lustvoll. „Fang mich doch, blöde, blöde Katze“ sagte sie meist und genoss es total, durch die beiden Tunnelausgänge für mich nahezu nicht zu schnappen (d.h. unbesiegbar) zu sein. Ich machte eine Zeit lang tapfer mit, betrachtete das für mich sehr anstrengende Spiel als Konditionstraining, begann mich aber von Stunde zu Stunde weniger wohl zu fühlen, da mich Amina in unserem Spiel in eine chronisch ohnmächtige Situation brachte, die ich als immer lähmender empfand. Ich vermutete, dass Amina mir damit zeigen wollte, wie sie sich mit ihrer Teilleistungsschwäche in der Schule fühlte und dass sie sich endlich einmal als totale Winnerin, vollkommen unerreichbar und unbesiegbar, fühlen wollte. Also sprach ich (stellvertretend für sie) aus, was ich empfand und lehnte es immer öfter ab, ganze Stunden lang die Blöde zu sein.
Daraufhin begann Amina ihr Spiel zu differenzieren, mir mehr Chancen einzuräumen, die Spielsituation auch für mich zu verbessern um mich bei der Stange zu halten. Unser Spiel begann sich zu wandeln, doch in fast jeder unserer Spielsequenzen ging es Amina darum, gegen mich zu gewinnen. Ich kam oft gar nicht mehr mit, wie rasch sie Spielregeln und Zählweisen zu ihren Gunsten veränderte. Zum Glück kannte ich solche Spielweisen von anderen Therapiekindern und hatte gelernt, eine Spielpartnerin zu sein, die sich einerseits ihrer Haut erwehren, andererseits jedoch Spielregeländerungen schätzen kann. Es war eine intensive Zeit, die in mehreren Stunden eines Pferdedressurspiels mündete. Amina und ich waren abwechselnd Pferde an der Leine der anderen, hatten bei bestimmten Gertenhieben gewisse Gangarten einzulegen, büchsten aber auch immer wieder mit großer Freude aus und mussten zurückgeholt und gebändigt werden. Amina nutzte in diesem Zusammenhang, dass sie durch ihr Reiten viel von Pferden versteht, während ich hier ganz und gar keine Ahnung habe. Sie war jedoch sehr geduldig mit mir, als ich lange brauchte bis ich die verschiedenen Befehle und Gangarten nicht mehr ständig miteinander verwechselte.

Gemeinsame Projekte – vierte Therapiephase
Unser Spiel war wechselseitiger und kooperativer geworden. Die vierte und letzte Phase unserer Beziehung zeichnete sich durch gemeinsame Projekte aus. Amina setzte meist die Initiative, daraufhin erstellten wir gemeinsam Listen, wer von uns was in die nächste Stunde mitbringen würde, damit wir tun konnten, was wir tun wollten. Wir machten Salzteig, den wir mit Lebensmittelfarbe einfärbten, nähten Stoffsäckchen, in die wir Reis, Hirse, Linsen u. Ä. füllten; pflanzten diverse Blumen und Kräuter, mit denen Amina die Fensterbank in unserem Büro eroberte und die von meinen Kolleginnen (v. a. unserer Sekretärin) liebevoll mitbetreut wurden. Auf diese Weise planten wir sogar unsere Abschiedsstunde! – Immer wieder reiste ich mit Listen im Kalender nach Hause und hatte an eine Menge von Dingen zu denken, diese zu besorgen, zusammenzusuchen, abzufüllen, einzupacken und in meinem Rücksack mitzubringen. Doch auch Amina schleppte stets gewissenhaft mit sich, was sie mitzunehmen versprochen hatte. Es schien zum einen darum zu gehen, aus Dingen, die von uns zu Hause stammten, etwas gemeinsames zu schaffen, es ging zum anderen aber auch um die Wichtigkeit und die Besonderheit des Raumes, den Amina bei mir und in unserer Beratungsstelle für sich erobern mochte. Amina bleib jedoch niemals im Haben-Wollen stecken. Sie war stets bereit auch selbst etwas zu geben, versorgte sich und mich mit Zuckerln aus dem Auto ihrer Mutter, brachte sogar einen neuen Haken mit, als wir bei einem wilden Spiel, den schlecht montierten neuen Vorhang aus seiner Verankerung gerissen hatten.
Nach wie vor gab es zwischen uns Kämpfe mit den Schwimmnudelstücken, die sehr ans Fechten erinnerten. Immer wieder entstanden aus unseren Spielen direktere körperliche Interaktionen (z.B. Weglaufen und Einfangen, Kämpfe ohne Waffen etc.)
Besonders beeindruckt hat mich eine Spielidee, die Amina in unserer letzten Therapiephase immer wieder aufgriff und weiter entwickelte, wie z.B. am

31.03.03
Amina und ich sind beide Kinder (miteinander befreundete Mädchen), die Rollen tauschen um in der Welt der Anderen (v. a. in deren Familie/bei deren Mutter) zu leben. Mitunter schlüpfen wir in die Rollen der jeweils zugehörigen Mütter, die zwar Anzeichen der Veränderung ansprechen, den Tausch selbst jedoch nicht bemerken. Unsere Welten sind durch den Spieltunnel getrennt, dieser ist auch der Ort an dem wir uns treffen.
Amina geht nur ganz kurz in die Schule, kehrt dann nach einem Bummel und ihrem Kunstunterricht nach Hause zurück, wo sie von Musik aus dem Radio begleitet sehr schnell ihre Aufgaben macht. Danach geht sie spazieren und bereitet ein Treffen mit mir vor, von dem ihre (Spiel)Mutter nichts weiß.
Ich arbeite in der Schule, rechne, lese und halte mich im Hintergrund, bis Amina mir aufträgt, zu unserem Treffen die Getränke mitzubringen. Amina selbst hat Sessel und Polster für uns beide hergerichtet. Sie geht voll in der Rolle der Coolen, Schönen, Reichen, Erfolgverwöhnten auf. Hat Spielsachen als Geschenke für mich dabei. Wir erzählen uns unsere Tagesabläufe – wie lange wir in der Schule gewesen sind, wie viel wir zu arbeiten hatten, ob und wie lange wir nachsitzen mussten ... Amina fragt mich im Spiel nach meinen Schulleistungen, nicht ohne mir zuvor zu versichern, dass sie in der Schule exzellent sei (lauter Einser!) und bietet mir an, mir durch Rollentausch meine Noten auszubessern.
Dann wird der Rollentausch umgesetzt. Wir erklären einander die Besonderheiten unserer Welten z.B. unsere Taschen etc., wechseln teilweise unsere Kostüme und gehen in Interaktion mit unseren Müttern (gespielt von der jeweils anderen), die beide erkennen, dass ihre Töchter anders sind, was auf ein Wachstums- bzw. Schrumpfungsmittel zurückgeführt wird.


Diese Spielsequenzen sind für mich Ausdruck von Aminas Bedürfnis eine andere, zu sein, eine erfolgreiche und anerkannte Schülerin – ein inniger und langgehegter Wunsch angesichts ihres Erlebens, sich nicht so leicht zu tun, wie sie sich gerne täte und eine Vielzahl von eigenen, elterlichen und schulischen Leistungsansprüchen nicht erfüllen zu können. Da Amina sich in ihrem Spiel auf ihre Wünsche zentriert übernehme ich die erheblich realistischere Rolle einer Schülerin, die sich anstrengen muss, neben Stärken auch Schwächen hat und die dem potenten Gegenüber spiegelt, dass es sehr schön sein müsste, so erfolgreich zu sein.

Das verbotene Zimmer
Das was Amina empfand, wenn sie nicht jene Leistungen erbringen konnte, die sie erbringen wollte, wenn sie z.B. die vierte Klasse wiederholen musste, um auch nach Volksschulnormen eine positive Deutschnote zu erlangen, wenn sie auch im Wiederholungsjahr nicht wie erhofft zum Star der neunen Klasse avancierte ... – dazu gewährte sie mir nur höchst selten Zutritt. Ihr Empfinden angesichts ihrer erheblichen Leistungsschwierigkeiten schien auch für sie selbst gleichsam ein verbotenes Zimmer zu sein, das sie so gut wie nie aufsuchte. In unseren gemeinsamen Stunden erfuhr ich nur sehr selten und auch nur ganz wenig von dem, was sie in diesem Zusammenhang bewegte – Anfang Mai 2002 (nach vier Monaten Arbeit) erstmals!

06.05.02
Wir bauen mit Dominosteinen, so dass unsere Bauwerke nach und nach umfallen, wenn wir den Anfangsstein anstoßen. Dabei tratschen Amina und ich. Nach etwa zwanzig Minuten fällt uns beiden versehentlich um, was wir bisher gebaut haben (vorher hatten wir gegenseitig unsere originellen Ideen bewundert). Amina, deren Konstuktion zuerst umgefallen war, meint zu mir, dass ich nun ebenfalls „Pech“ gehabt habe, dass es sie sehr beruhigt, damit nicht allein zu sein. Daraus entspinnt sich ein Gespräch, in dem Amina mir davon erzählt, wie sehr es sie oft frustriert, bei Schularbeiten nichts (nicht genug, nichts Fehlerfreies) zusammen zu bringen. So etwas habe ich noch nie zuvor von ihr gehört. Sie ist dann immer auch wütend, scheint jedoch Angst zu haben, die Wut auszuagieren, da sie Sanktionen der Lehrerin z.B. schlechtere Noten befürchtet. Daher hat sie eher Fluchtgedanken, mag weg sein, mag sagen, habt mich gern. Auch über den Kontakt mit Buben und über das Verleibt-Sein ... reden wir, was Amina ein wenig peinlich ist. Gegen Ende wird unser Spiel kooperativ – wir bauen zusammen (der Vorschlag stammt von Amina) und stoßen dann unser gemeinsames Bauwerk um. Dabei stellt Amina mir Fragen zu dem Mädchen, das nach ihr kommt (u. a. ob sie auch wegen Legasthenie bei mir ist), die ich jedoch nicht beantworte (klarer, liebe- und verständnisvoller Verweis auf Grenzen). Die Stimmung zwischen uns ist positiv, ruhig, kooperativ, vertrauensvoll – ich bin ein wenig stolz auf Amina und finde, sie entwickelt sich.


Auch Mutter und Vater bezogen mich so gut wie nie mit ein, wenn es um Schulleistungen oder Schulenscheidungen ging. Die „freiwillige“ Wiederholung der vierten Klasse erfolgte auf sanften Druck der Volksschullehrerin, die bezweifelt hatte, dass sich außerhalb der ASO-Bewertung eine positive Deutschnote ausgehen würde und nach Entmutigung durch die Hautschuldirektorin, die betont hatte, die Kapazität für die Betreuung eines Problemfalls nicht sicher gewährleisten zu können.
Als mich Aminas Mutter kurz vor Schulschluss von der bereits fix beschlossenen Klassenwiederholung informierte, war ich irritiert, weil ich ahnte, dass diese (außer zusätzlichen Enttäuschungen) nicht viel bringen würde. An das Setting in unserer Praxis gewöhnt, fühlte ich mich schuldig, weil ich mich nicht früher informiert und eingegriffen hatte.
Beim ersten Elterngespräch des darauffolgenden Schuljahres, das im Oktober stattfand, schien noch alles in Ordnung, doch Ende März erfuhr ich von einer massiven elterlichen (v. a. mütterlichen) Beunruhigung wegen eines deutlichen Leistungs- und Motivationsabfalls bei Amina. Damals – leider erst sehr spät – meinte ich ein wenig von der Mutter-Tochter-Dynamik zu verstehen. Ich hatte mich der kompetenten Mutter gegenüber immer ein wenig wertlos (und vor allem unnütz) gefühlt, erkannte aber damals, dass sie verunsichert und verzweifelt, erschöpft und enttäuscht war – letztlich nicht mehr weiter wusste, dazu jedoch (auch wenn ich sie dabei zu unterstützen versuchte) kaum Kontakt fand und weiterhin über ihr Powern kompensierte. Aminas Mutter war kurz vor dem Gespräch darauf aufmerksam geworden, dass es in unserer Beratungsstelle eine Psychologin gibt, die Diagnostik, (Lern-)Beratung und Therapie bei Legasthenie anbietet und wollte von mir wissen, ob sie sich an diese wenden solle. Im Bewusstsein, dass ich mir mit dieser Kollegin schwer tue, weil sie zu jenen gehört, die stets vermitteln, alles zu wissen, was ich bezweifle aber auch beneide, bejahte ich, riet Aminas Mutter jedoch, in Anwesenheit ihrer Tochter vor allem mit dieser zu besprechen, ob sie damit einverstanden sei. Beim Elterngespräch erfuhr ich, dass Amina mich hier sehr ernst genommen und ihre Mutter mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass ich der Meinung sei, sie solle ihren Plan mit Amina besprechen. In diesem Zusammenhang scheint es der Mutter dann auch gelungen zu sein, Amina zu vermitteln, dass vielleicht sie etwas falsch mache und dass sie sich freuen würde, wenn die Psychologin etwas für sie wisse, denn sie könne Amina derzeit gar nicht gut helfen. (Ich hoffe hier zu größerer Echtheit zwischen Mutter und Tochter beigetragen zu haben! – Kurz darauf hat mir Amina in einem Gespräch vermittelt, dass sie sich einerseits freue, dass ihre Mama immer alles so gut schaffe, dass das andererseits aber für sie nicht immer leicht sei, da sie ihre Mama nirgends überrunden könne!)
Damals kam das Elterngespräch oftmals auf die „freiwillige“ Wiederholung der vierten Volksschulklasse, die Amina von ihren Eltern als Möglichkeit zur Vermeidung der Wiederholung der ersten Hauptschulklasse verkauft worden war. Umso frustrierender und auch bedrohlicher muss es für das Mädchen und auch für seine Eltern gewesen sein, dass es leistungsmäßig nach einem Anfangshoch zu einem Abfall in Mathematik und zu einer lediglich halbwegs stabilisierten Leistung in Deutsch gekommen war. Als ich Aminas enttäuschte Erwartungen in ein Bild kleidete – ein hoffnungsvolles Mädchen, das geglaubt hatte, es ginge als Star nach Hollywood, findet sich zwar als Star wieder, doch nur auf einer Provinzbühne – lachte die Mutter und es hatte für mich den Anschein, als hätte ich sie erreicht.
Aminas Enttäuschung bestätigte sich für mich u. a. auch darin, dass ihre Mutter mir erzählte, dass ihre Tochter ihren Lehrer nicht mochte (sie meinte er gebe wenig Halt, keine klaren Rückmeldungen, verhätschle sie, fordere sie nicht heraus) und sich wegen einiger wilder Buben in der neuen Klasse auch nicht wohl fühlte. In einer langen Diskussion über ihre derzeit schlechten Leistungen in Mathematik habe Amina zu ihrer Mutter gemeint: „Du hättest mich doch in die Hauptschule gehen lassen sollen!“
(Schade, dass Amina die Klassenwiederholung als Intention ihrer Eltern erleben musste und nicht als gewiss sehr unangenehme doch reale Rückmeldung der Schule erfahren konnte und dass sowohl sie als auch ihre Eltern, v. a. die Mutter, die aktuellen Leistungsprobleme stark mit dem Lehrer in Verbindung brachten!)

07.04.03
Amina kommt, geht aufs Klo, entdeckt mich im Computerzimmer und freut sich (wie zuletzt vereinbart) probieren zu können, in den Computer hinein zu kommen. Sie agiert zielstrebig und wendig. Als der PC das Password „Kinder“ ablehnt, versucht Amina es mit „kinder“ und ist drinnen, was sie sehr freut. Sie probiert ein Computerspiel (nach dem Schema fressen und gefressen werden), findet selbst heraus, wie es funktioniert und schafft es (mit zunehmender Anspannung) bis ins dritte Level, wo sie sich jedoch von so vielen Fresserchen und Totenköpfen bedroht sieht, dass sie freiwillig aussteigt. Als sie sich und mich fragt, welches Spiel sie als nächstes ausprobieren soll, versuche ich, eine Vereinbarung über die Computerzeit zu treffen (im Wissen darum, dass ich diese Form des Mit-dabei-aber-nicht-gefragt-Seins nicht so gerne mag). Ich schlage vor, maximal die Hälfte unserer Zeit am Computer zu verbringen, doch Amina entscheidet sich am Computer aufzuhören und ins Spielzimmer zu wechseln.
Während des Computerspiels hatte ich Amina bereits nach dem Ergebnis der M-Schularbeit gefragt und von ihrem 5er erfahren. Im Spielzimmer spreche ich sie nochmals darauf an. Amina meint auch viele andere Kinder haben negativ abgeschnitten, sie habe sich über ihr Scheitern gekränkt und ihre Mutter habe sich geärgert. Ich frage, ob die Mutter mit Amina und ihrem Bruder bereits bei meiner Kollegin war. Amina antwortet mit Nein und betont, dass die Mutter sie auch nicht gefragt hätte, ob sie das wolle. Also frage ich sie, ob es ihr recht wäre, worauf Amina meint, wenn die Psychologin nett und nicht zu streng sei, dann habe sie nix dagegen. Ich sage ihr, auf ihren Wunsch, dass ich meine Kollegin freundlich finde und dass ich neugierig bin, was Amina für einen Eindruck haben wird.
Danach möchte Amina an unsere letzte Stunde anknüpfen (wir spielen zwei Mädchen, die ihren Müttern einen Rollentausch unterjubeln), doch als sie (noch im ursprünglichen Spielplan) am Radio nach geeigneten Musiksendern sucht, fallen ihr unsere Pflanzen ein, die sie dann umgehend gießen möchte, was wir auch tun. Einige gedeihen prächtig, andere waren bereits aufgegangen, sind aber wieder abgestorben! (Zu wenig Pflege?). Als wir, mit einer Flasche Mineralwasser und Gläsern aus der Küche wieder ins Spielzimmer kommen, disponiert Amina um. Sie will sich (in der Kuschelecke) gemütlich hinlegen und Musik hören. Während sie uns Wasser einschenkt soll ich eine Decke auf den Teppich breiten, als sie sich darauf ausgestreckt hat, verlangt sie nach einer weiteren Decke um sich zuzudecken und zieht sogar ihre Jeans aus, weil diese so drücken. Sie kuschelt sich so richtig in die Situation hinein, lässt nur mehr ihren Kopf herauslugen und beginnt mit mir zu Plaudern. Übers Krank-Sein, über ihre Zahnspange, die sie immer in der Nacht tragen muss und über die Schule. Sie erzählt mir, dass sie den Lehrer nicht mag (er schreie herum, ziehe die Buben an den Haaren und lasse die ganze Klasse ausbaden, wenn einige schlimm sind). Insgesamt beschreibt sie ihre Klasse als laut, sogar in Schularbeitssituationen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, so meinte Amina ursprünglich, dem Lehrer ihre Abneigung durch schlechte Leistungen zeigen zu müssen, doch ihr Vater habe mit ihr geredet und ihr deutlich gemacht, dass sie ihre Leistungen sich selbst (und ihren Bildungschancen) zuliebe erbringe. Das habe sie eingesehen und sei jetzt (auch durch das elterliche Versprechen eines Handys für einen positiven Volksschulabschluss) motiviert, sich (die nicht mehr so lange Zeit) bis zum Schulschluss voll anzustrengen. Ich bekräftige die Aussage des Vaters und die Erkenntnis Aminas und versuche herauszufinden, ob sie ihr Empfinden dem Lehrer gegenüber im Spiel (Plakat o. Ä.) ausdrücken möchte, doch das lehnt Amina ab – sie scheint ihre Zeit mit mir nicht dafür verwenden zu wollen. Ich erzähle Amina vom Plan eines meiner Therapiekinder einen Schultagefresser zu machen, auf den sie so intensiv einsteigt, dass ich ihr anbiete auch so etwas zu versuchen.
Amina die heute ungewöhnlich anlehnungsbedürftig ist, betont beim Gehen pflichtbewusst und verzagt, dass ihr kalt ist, dass sie aber noch Hausübung machen muss. Doch ihre Mutter vermittelt Optimismus (wieder viel mehr als zuletzt), deutet beim Abschied an, dass es anlässlich der negativen Mathematiknote eine Familienkrise gegeben habe, vermittelt mir jedoch den Eindruck, als habe es sich dabei um ein reinigendes Gewitter gehandelt!


Amina und ihr Bruder sind von meiner Kollegin getestet und mit Lernprogrammen und sommerlicher Lerntherapie (die Amina „hauptschulfit“ machen soll) versorgt worden, Amina hat einen positiven Schulabschluss erzielt und wechselt nach den großen Ferien (also morgen!) in die Hauptschule, wo sie in allen Hauptfächern vorerst in die dritte Leistungsgruppe eingestuft wird – von der aus sie jedoch auch aufsteigen kann. Aminas um ein Jahr jüngere Schwester (die während Aminas Klassenwiederholung zum ersten Mal die vierte Klasse absolviert hat) wird zeitgleich ins Gymnasium wechseln. Das ist für Amina keine leichte Ausgangssituation, doch sie fühlt sich sichtlich doch so stark, dass sie sich zutraut, ihren weiteren Weg auch ohne meine Unterstützung bewältigen zu können. Das kam so:

„Gell ich kann aufhören, aber ich will dich nicht verlassen!“ – der Abschied
Beim Elterngespräch Ende März besprach ich mit der Mutter auch die weitere Therapieperspektive. Ich schlug vor, Amina durch die vierte Schulstufe und auch zu Beginn ihrer Hauptschulzeit zu begleiten – außer Amina wolle etwas ganz anderes. Ich habe soeben in das Band reingehört und bemerkt, dass diese klare Aussage in einem wesentlich längeren und intensiveren Gespräch über das Thema Aufhören unterging. Weshalb?
Ich war bestrebt, der Mutter zu vermitteln, dass Aminas Standpunkt mir hier sehr wichtig sei. Diese betonte, dass Amina nichts von dem, was sie als hilfreich erlebt, wieder hergeben möchte. Ich versuchte, ihre Angst vor unendlicher Spieltherapie zu zerstreuen und erzählte ihr von meinen Erfahrungen mit Kindern, die nicht aufhören wollten, als ich ihnen mein prinzipielles Zutrauen vermittelte, dass sie nun stark genug seien, auch ohne mich weiterzugehen, von Kindern, die durch meine Zusicherung, dass sie zwar alleine gut zurecht kommen könnten, dass sie aber trotzdem gerne weiter kommen dürften, sichtlich so gestärkt waren, dass sie oft kurz darauf (für mich dann unvermutet) selbst abschließen wollten. Obwohl ich angenommen hatte, dass psychologische Testung und Legasthenietherapie als Hinweindung zu einem neuen gut kehrenden Besen und Ausmusterung des alten verbrauchten zu verstehen sei, hatte ich doch übersehen, dass die Mutter schon viel mehr als ich beim Thema Abschied war und mich so verstehen wollte, wie sie mich letztlich auch verstanden hat, nämlich dass ein Abschluss der Therapie mit Ende des Schuljahres sinnvoll sei. – Meine mangelnde Klarheit finde ich heute schade!
Zwei Monate später begann Amina unsere Stunde mit der oben genannten Frage bzw. Feststellung, daraus entspann sich zwischen uns der folgende Dialog:

J: „Also. Wie ist das mit dem Aufhören?“
A: „Dass ich nicht mag!
J: „Und sagt irgend jemand, dass du aufhören sollst?“
A: „Nein, aber meine Mama sagt, es wäre gut.“
J: „Was sagt sie wäre gut?“
A: „Weil ich komm jetzt auch am Dienstag hierher.“ (Zu meiner Kollegin!)
J: „Und jetzt denkt sich die Mama, das wird langsam zu viel.“
A: „Mhm. Aber ich mag ja nicht, weil ich dich mag und ...
J: „Mögen kann man sich auch, wenn man sich nicht sieht. Also nur weil du mich magst kommen ...“
A: „... auch weil ich mit dir spielen mag!“
J: „Wenn du das Gefühl hast, du brauchst meine Hilfe noch, dann musst du mit der Mama ausmachen, ob du noch kommen kannst, ob das noch geht.“
A: „Aber das ist ja das Problem!“
J: „Was ist da das Problem?“
A: „Wir sind doch Freunde irgendwie, oder?“
J: „Sind wir, ja!“
A: „Und daher mag ich dich ja, weil wir ja Freunde sind und daher will ich dich nicht verlassen, weil das schon für mich schwer ist.“
J: „Wir sind auf eine ganz besondere Art Freunde. Wir haben uns kennen gelernt, weil du Schwierigkeiten gehabt hast, weil es dir nicht gut gegangen ist und deswegen sind wir Freunde geworden. Wir sind auf jeden Fall Freunde, aber unser wichtigstes Ziel war, dass es dir wieder besser geht. Deshalb bist du gekommen. Und wenn es dir wieder besser geht, dann gibt es unsere Freundschaft noch in unseren Köpfen ...“
A (weinend): „Aber ich mag dich nicht verlassen!“
J: „Magst mich nicht verlassen!“
A weint mehr: „Mag dich nicht ...“
J: „Von mir aus brauchst mich auch nicht verlassen.“
A weint immer intensiver.
J: „Aber die Mama sagt du sollst. ... Und wieso sagt sie, dass du sollst?“
A: „Weil es langsam für mich Zeit wird.“
J: „Mhm. Und hast du das Gefühl, dass du wüsstest, wann für dich Zeit ist und hast du das Gefühl, dass du weißt, dass jetzt noch nicht Zeit ist? ... Wenn du ganz genauso machen könntest, wie du wolltest, wie würdest du das machen? ...
Amina schluchzt bitterlich und antwortet mir nicht.
J: „Die Vorstellung, dass du weggehst von mir, die macht dich sehr traurig, weil du schon sehr lange zu mir gekommen bist und weil es ganz grauslich ist, dir vorzustellen, dass du mich nicht mehr hast.“
Amina schluchzt und schluchzt.
J: „Du, da kann man auch traurig sein, das stimmt schon auch, denk ich mir.“
A: „Aber ich bleibe bis zu den Ferien. Drei Tage.“
J: „Bis zu den Ferien bleibst du auf jeden Fall, das ist ganz sicher, noch drei Stunden. ... Die Mama und du ihr könnt natürlich bestimmen, wann ihr aufhört, wobei da ganz wichtig ist, dass das nicht nur für die Mama stimmt, sondern dass das auch für dich stimmt. Und wenn man beschließt, dass man aufhört, dann braucht man noch so eine Phase, wo man einige Stunden hat um Abschied zu nehmen. Das schafft man nicht auf einmal. ... In den Ferien hätten wir sowieso eine lange Pause gemacht.“
A: „Aber ich will das nicht, das ich dich nicht mehr sehe!“

Ich transkribiere und transkribiere, werde dabei immer ärgerlicher und ungeduldiger, hatte ich doch in Erinnerung Amina in ihrem Schmerz angenommen zu haben und ihr beigestanden zu sein, die Entscheidung der Mutter in Zweifel gezogen und das Mädchen gefragt zu haben, ob es weitermachen will (in der bewährten wöchentlichen oder einer anderen Form). Doch nun meine ich, ich habe übersehen, dass sowohl Amina als auch ich uns der mütterlichen Autorität gebeugt, die mütterliche Entscheidung vollzogen haben, ohne unsere Unterwerfung und die Angst vor einer klaren und deutlichen Auflehnung auch nur wahrzunehmen. Ich gäbe was darum, meine Wahrnehmungen und Aminas Aussagen folgendermaßen verdichtet zu haben: „Du sagst, du willst mich nicht verlassen doch die Mama sagt es wird langsam für dich Zeit. Und jetzt willst du einerseits brav sein und machen, was die Mama sagt, und andererseits willst du mich weiter sehen. Du bist ganz zerrissen!“
Ich habe den subjektiven Eindruck, es hat ewig gedauert, bis ich Amina so klar gefragt habe, wie lange sie gerne kommen würde, dass ich von ihr die eindeutige Antwort: „Bis ich erwachsen bin!“ erhielt. Etwas später habe ich Amina in diesem Gespräch auch erstmals vermittelt, wie ich ihre Entwicklung in unserer Therapie sehe und dass ich finde, dass sie nun wieder stabil genug ist, auch ohne mich gut zurecht zu kommen. Dass es aber nicht genügt, wenn ich ihr ein Weitergehen ohne mich zutraue, sondern dass es ganz besonders wichtig ist, dass sie selbst sich das traut. Ich habe Amina nicht nur ein ganz normal Weiterkommen bzw. ein langsames Aufhören mit selteneren Frequenzen im ersten Semester des kommenden Schuljahres – v. a. aber meine Unterstützung im Gespräch mit der Mutter – angeboten. Ich habe ihr auch versichert, dass sie das Allein-Weitergehen gerne ausprobieren und wieder zu mir kommen kann, wenn sich herausstellt, sie braucht meine Begleitung doch noch.

J: „Vielleicht hilft es dir beim Weggehen, zu wissen, dass du auch wieder zurück kommen könntest. Weggehen ist sehr schwer und ich glaube, es fällt dir ganz besonders schwer und tut dir sehr weh. ... Und ich finde das auch sehr sympathisch, denn wenn jemandem das Weggehen weh tut, dann heißt das, dass das Da-Sein schön gewesen ist und dass er was verliert und vermisst. Ich würde dich auch vermissen, wenn du nicht mehr kommst, und vielleicht wein ich auch ein bisschen. Aber auf der anderen Seite würde ich mich freuen, dass du es schaffst ohne mich und mir denken, ‚Mein Gott, hat sich die Amina toll entwickelt!’ Und das würde ich dir sehr gönnen, auch wenn ich traurig wäre, wenn du nicht mehr da bist. Da gibt’s zwei Sachen, weißt du. Und das könnt bei dir auch so sein, dass du ganz traurig bist, weil du gehst, dass du aber auch stolz bist auf dich. ... Weh wird es dir immer tun Amina, das Weggehen tut immer weh. Das hat der Emma (war vor Amina dran, hat vor kurzem aufgehört!) auch weh getan. Obwohl sie gesagt hat, ich will das und stolz war auf sich und ich auch stolz war auf sie, hat es ihr trotzdem weh getan, und mir auch. Wir haben beide geweint. Aber das wird immer sein!“

Amina bekam von mir ein Taschentuch, wir wechselten ins Spielzimmer, wo wir uns (endlich!) umarmten und noch kurz weiter sprachen, bevor wir zu malen begannen.

J: „Du musst dir überlegen, was alles sein muss, damit du gut gehen kannst, damit’s dir gut geht, auch wenn’s traurig ist.“
A: „Aber ich hab dich lieb!“
J: „Ja! ... Hast du das Gefühl wenn du weggehst, hast du mich nimmer lieb?“
A verneint.
J: „Und hast du Angst, dass ich glaub, du magst mich nimmer?“
A: „Nein, dass du mich vergisst!“
J: „Glaubst du wirklich das ich dich vergesse?“
A: „Mhm!“
J: „Ich kann dich gar nicht vergessen, das geht nicht. So viele kommen ja nicht zu mir. Ich hab dich im Kopf und im Gefühl. Es kann dann sein, wenn es schon lange her ist, dass ich ein bisserl nachdenken muss, wer war den die Amina und was haben wir zusammen gemacht, aber wirklich vergessen tu ich dich nicht. Wir haben ja so viele Sachen gespielt miteinander.“
A: „Mhm.“

Es fiel Amina sehr schwer loszulassen. Auch sie wünschte sich von Herzen einen Besuch von mir (am besten mit Valentin) bei sich zu Hause und wollte sich auch vorstellen, mich jederzeit in der Beratungsstelle besuchen zu können. Es ist mir gut gelungen, diese Wünsche anzunehmen ohne sie zu erfüllen. Und Amina ist es in diesen drei Stunden auch erstaunlich gut gelungen, Abschied zu nehmen. Wir malten füreinander Bilder, die wir einander schenkten, sprachen immer wieder übers Abschied nehmen, erinnerten uns an das, was wir miteinander erlebt hatten, spielten manche unserer Lieblingsspiele noch ein letztes Mal und machten auch unseren Abschied zum gemeinsamen Projekt. Wieder stand eine Liste in meinem Kalender, ich hatte übernommen, die Getränke und ein Abschiedsgeschenk für Amina mitzunehmen, diese brachte den Kuchen und ein Geschenk für mich.

23.06.03
Wir decken unseren Abschiedstisch. Teller, Gläser, Servietten, Getränke, Kuchen, Geschenke. Zuvor hat Amina ein Foto von sich auf das Bild geklebt, das sie mir zum Abschied gemalt hat, damit ich nicht vergesse, wie sie ausgesehen hat. Wir essen und trinken, packen unsere Geschenke aus und bewundern diese. Amina hat mir ein selbst bemaltes Häferl mit meinem Namen mitgebracht sowie Zuckerl, die ich gerne mag und die wir immer miteinander gegessen haben, für Valentin ein von ihrer Mutter besticktes Kapperl. Mein Geschenk eine Karte (Text: „Liebe Amina! Für mich war es schön mit dir zu spielen, auf die vielen verschiedenen Arten, in denen wir gespielt haben. Diese gemeinsamen Erlebnisse und vor allem dich, werde ich nicht vergessen. Abschied nehmen fällt schwer und tut auch weh, aber ich finde, es wird leichter, wenn man sich an schöne gemeinsame Zeiten erinnern kann. Schön finde ich es auch, wenn du spüren kannst, dass du so stark bist, dass du auch ohne mich gut zurecht kommst. In Gedanken und im Herzen mit dir. Judith“) und zwei Tiere (Katze & Maus – weil wir das so oft gespielt haben). Beim abschließenden Elterngespräch erzählt mir die Mutter, dass Amina die beiden Tiere bei sich trägt und darauf angesprochen meint, dass sie diese von mir hat, weil wir in der Therapie so oft Katz und Maus gespielt haben. (Übergangsobjekte?)
Zum Abschied kämpfen wir nochmals mit den Nudeln, natürlich gewinnt Amina. Zuletzt umarmen wir uns, räumen weg und sehen uns gemeinsam mit Aminas Mutter aktuelle Fotos von Valentin an, die ich auf Wunsch von Amina mitgebracht habe.

Während ich den Text der Karte transkribiere, den ich Amina vorgelesen und dabei mit ihr besprochen habe, spüre ich meine eigene Traurigkeit über diesen und andere Abschiede. Ich denke, das Thema haben Amina und ich gemeinsam. Während des Schreibens habe ich auch die Idee entwickelt, dass ich diese Traurigkeit nicht zufällig am Ende des zentralen Teils meiner Abschlussarbeit empfinde. Ich nehme Abschied von meinem Status als Auszubildende, verliere dadurch den darüber definierten Kontakt zu meinen Ausbildnern, Beatrix und Helmut, habe, so wie Amina, das Bedürfnis diesen in einer verwandelten Form weiter aufrecht zu erhalten und gehe in eine eher ungewisse Zukunft, vor der ich mich fürchte. Zum Glück ist in mir auch Versöhnlichkeit, ich muss mein Vorgehen in diesen letzten Stunden nicht mehr so hart kritisieren, meine, es ist doch recht gut gelaufen.
Auch wenn das Gefühl der Traurigkeit derzeit im Vordergrund steht, ist mir jetzt zugänglich, dass ich neben Traurigkeit und Angst, während meines Schreibens auch immer wieder große Lust auf neue Erfahrungen mit neuen KlientInnen verspürt habe, dass ich gespannt bin, ob und wie diese Abschlussarbeit mich und meine Arbeitsweise verändert und welche weiteren Entwicklungen sich daraus ergeben.
Valentin hat in meiner letzten vollen Arbeitswoche gelernt zu gehen und diese Fähigkeit, die ihm große Freude bereitet (er juchzt dabei!), in den letzten Tagen (trotz Dreitagesfieber) erstaunlich rasch weiterentwickelt. Dabei habe ich eine Melodie aus „My fair Lady“ im Kopf, wo der von Mr. Higgins unterrichteten Eliza Doolittle der Knopf aufgeht und sowohl er als auch sie zunehmend begeistert singen „Ich glaub jetzt hat sie’s.“ bzw. „Ich glaub jetzt hab ich’s.“ Auch ein Spruch von Woody Allen fällt mir ein, der etwa so lautet: „Psychoanalyse ist wie Klavierunterricht. Jahrelang bemerkt man keinen Fortschritt und plötzlich kann man Klavierspielen.“ – Doch möchte ich zu Valentin zurück kommen, der heute mit großer Begeisterung geht, davor jedoch das Aufstehen und auch das Hinfallen sehr gut gelernt hat und trotz seines Faibles fürs Gehen auch das altbewährte Krabbeln nicht von der Hand weist, weil er auch damit seine Ziele erreicht!“ – Ich bin mir bewusst, dass ich (als Psychotherapeutin) gehen kann, dass ich immer wieder Hinfallen und Aufstehen werde. Wenn ich mir ein Stück von meiner Freude an meinem Prozess bewahren kann, mich nicht immer nur fürchte, sondern erwarte, dass und spüre, wenn ich hinfalle, brauche ich nicht starr sein bzw. werden sondern kann (so wie z.B. jetzt schreibend) nachdenken, wie ich wieder aufstehen und in Bewegung zu kommen vermag. Das Potential zum zu allem Nötigen, zum Gehen, Fallen und Aufstehen, habe ich in mir – ich muss es nur nutzen!

Ein so wichtiger wie unwichtiger Vergleich
Es war mir die ganze Zeit das größte Anliegen die Therapieprozesse von Nina und Amina miteinander zu vergleichen. Doch jetzt habe ich, schon bevor ich dazu komme, das Gefühl (bei mir) angekommen und zufrieden zu sein, der Druck ist draußen.
Lange Zeit hatte ich die Hypothese, dass das mehrdimensionale Therapiesetting, in dem ich mit teilleistungsschwachen Kindern arbeite und spiele, dem rein spieltherapeutischen überlegen sei, da das Thema Schulleistung, mit dem sich diese Kinder (emotional) so intensiv auseinander setzen müssen, dabei mit wesentlich größerer Wahrscheinlichkeit angesprochen und somit auch bearbeitbar wird. Mit Nina habe ich viel mehr über ihre Scham und Trauer, ihre Wut und Verzweiflung, ihre Erschöpfung und Erstarrung ... angesichts ihres schulischen Leistungsversagens gesprochen. Amina hat sich mir gegenüber dazu nur einmal direkt geäußert. Doch im Spiel haben sich beide mir so wichtigen Mädchen (das wird wohl das sein, was sie für mich verbindet) durchaus ähnlich gezeigt. Mit mir spielend haben sie mir von ihrer Wut und von ihrem Bedürfnis sich abzugrenzen erzählt, sie haben mir vermittelt, dass sie sich schrecklich ohnmächtig fühlen, dass sie liebend gerne furchtbar toll wären, dass sie ein riesiges Bedürfnis haben sich auch als gestaltend und gewinnend zu erleben, dass sie einen guten Platz bei mir brauchen aber auch gehen wollen. Spielend habe ich versucht sie liebevoll zu verstehen und dabei sind sie beide mehr sie selbst und im Kontakt mit sich und mir sicherer, wahrhaftiger und wärmer geworden.
Was lerne ich daraus: Umfeldvariable wie z.B. Setting oder Materialien sind wichtig, doch viel wichtiger sind die Menschen, die sich begegnen, meine Klienten und ich. Es gibt viele verschiedene Versionen sich zu zeigen und zu verstehen – auf die Aktualisierungstendenz ist Verlass. Wichtige Themen brechen auf, sie kommen immer wieder, auch wenn ich etwas falsch verstehe und Fehler mache. Wenn sich die Art in der sich die Themen zeigen ändert, wenn sie sich abschließen, wenn neue Schritte, möglich sind, dann ist Weiterentwicklung passiert und im Gang.

 

Inhaltsverzeichnis

Judith Reimitz

Literaturverzeichnis