Mein Werdegang – mit Kindern auf dem Weg sein
In jeder Darstellung meines beruflichen Werdegangs steht: „Seit
meinem 15. Lebensjahr arbeite ich mit Kindern.“ Das sind mehr als 25
Jahre. Eine lange Entwicklungszeit für Art und Gründe meiner
Faszination durch den Arbeitsschwerpunkt Kinder.
Ich habe noch nie ungeschminkt und umfassend darüber nachgedacht,
weshalb ich bevorzugt mit Kindern bzw. für Kinder arbeite, möchte
aber – da ich eine kindertherapeutische Abschlussarbeit schreibe –
einen Blick hinter diesen meinen Standardsatz wagen bzw. gewähren.
Eines will ich meinen Ausführungen voranstellen: Es fällt mir
keineswegs leicht, mich – in meinem Interesse an der Arbeit mit
Kindern – zu zeigen, da ich (wahrscheinlich schon immer) weiß, dass
dieses keineswegs nur altruistisch, sondern sehr eng mit meinen
ureigensten Bedürfnissen verbunden ist. Doch – und auch das möchte
ich vorausschicken – besteht für mich die Herausforderung meiner
Abschlussarbeit eben in diesem mich selbst Sehen und auch Zeigen so
wie ich wirklich bin, mit all meinen Nach- aber auch Vorteilen.
Ich war ein sehr behütetes Kind, bekam und nahm mir wenig Eigenraum,
war sehr brav – dies jedoch nicht ohne eine (als fremd und böse
erlebte) innere Instanz, die gegen die Zähmung durch fremde Maßstäbe
ankämpfte.
Erste Freiräume fand ich in Kindergarten und Schule, wo ich u.a.
nach außerfamiliärer Anerkennung strebte, die ich mir mit meiner
intellektuellen und sozialen Kompetenz (v.a. mit meiner Fähigkeit
zur Anpassung) auch holen konnte. (Doch zweifelte ich schon früh an
meinen Fähigkeiten, wollte – trotz des Zutrauens meiner Eltern und
der Empfehlung meiner Volksschullehrerin – nicht ins Gymnasium
gehen, weil ich befürchtete, dort zu versagen.)
In der katholischen Jungschar jener Pfarre, in der unsere Familie
damals integriert war, fand ich einen weitern (von meinen religiösen
Eltern tolerierten) Freiraum. Diesen Raum betrachte ich heute für
meine Entwicklung als zentral. Ich weiß nicht mehr viel vom Besuch
der wöchentlichen Gruppenstunden, wesentlich tiefer hat sich mir die
Teilnahme an diversen Sommerlagern eingeprägt. Ich erinnere Wochen
in abgelegenen Selbstversorgerhütten ohne Installationen,
Matratzenlager auf Heuböden oder in Schlafsälen, Plumpsklos,
gemeinsame Verantwortung für das Besorgen von Wasser und Nahrung,
Küchendienste, Beleuchtung mit Kerzen und Taschenlampen,
Nachtwanderungen, Lagerfeuer, Lieder und Spiele – vor allem aber
viele Menschen, mit denen ich im Zuge dieser Tage puren und
intensiven Lebens in Berührung kam, die (u.a. durch ihre
Verschiedenheit) meinen engen Horizont erweiterten.
Als ich fünfzehn wurde, das Alter mit dem man der Jungschar
entwächst, wollte ich diese Welt außerhalb meiner Familie nicht
verlieren. Da ich jedoch nicht als Kind in der von mir so
geschätzten Gemeinschaft bleiben konnte, sah ich für mich keine
andere Möglichkeit weiter dazuzugehören, als selbst Verantwortung zu
übernehmen und Jungschargruppenleiterin zu werden. Ich glaube noch
heute über eine bildliche und gefühlsmäßige Erinnerung an das
diesbezügliche Gespräch mit meiner Gruppenleiterin und einem
weiteren Verantwortlichen zu verfügen. Diese enthält die (beschämende)
Gewissheit, mehr für mich als für andere zu tun.
Und doch war dieser Moment der Beginn meines Engagements für Kinder.
Gemeinsam mit einer damaligen Freundin übernahm ich ohne jede
Ausbildung eine Gruppe achtjähriger Mädchen – aus heutiger Sicht
eine glatte Überforderung. Trotzdem lief es halbwegs gut und bald
begann ich meine Rolle als Gruppenleiterin, meine Bedeutung für die
Kinder, offen gesagt, meine Macht und meinen Einfluss zu genießen.
Ich lernte aber auch sehr viel Anderes schätzen (hier erinnere ich
mich ebenfalls mehr an Situationen auf Sommerlagern als in
Gruppenstunden): gemeinsames kreatives Tun, philosophische Gespräche
über alles und jedes, Lebendigkeit und Originalität kindlicher
Gedankengänge, Nähe und Beziehung – vor allem aber meine
außerfamiliäre und außerschulische Erfahrungswelt.
Diese Vorgeschichte hat mich sicherlich bei der Wahl meines Studiums
(Psychologie) beeinflusst, dessen Inhalte für mich jedoch erst
konkrete Gestalt annahmen, als ich 1982 an der Universitätsklinik
für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters zu praktizieren
begann. Dieser Klinik, der zweiten außerfamiliären Welt, der ich
angehören wollte, blieb ich als Praktikantin bis 1988 und als
Universitätsassistentin von 1988 bis 1994 verbunden.
Abermals kann ich die Bedeutung meiner dortigen Macht (meines Status
und meiner Rolle) für meinen oft so geringen Selbstwert nicht
leugnen, doch waren mir in dem für mich diesbezüglich nährenden
Rahmen auch wesentliche und wertvolle neue Erlebnisse möglich. Ich
erfuhr Angst und Befremden aber auch Faszination und Gelassenheit
angesichts der (von mir ungeahnten) Vielfalt all dessen, was es gibt
– ob es sich nun um familiäre Lebensformen, soziale Grundlagen,
materielle Voraussetzungen, psychische Erlebensweisen oder physische
Beeinträchtigungen handelt.
Zwei wesentliche Erkenntnisse, die mich und meine Arbeit noch heute
prägen, haben bereits in meiner Zeit als Praktikantin Gestalt
gewonnen:
Strukturiertes Arbeiten gibt mir Orientierung und eröffnet mir Raum.
Ich finde schon seit langem immer wieder Halt bei ordnend-strukturierendem, mathematisch-naturwissenschaftlichem
Denken und Tun.
Diesem Interessens- und Begabungsschwerpunkt kommt die
psychologische Testdiagnostik sehr entgegen. Klar vorgegebene
Arbeitsaufträge, Auswertungs- und Interpretationsrichtlinien sind
für mich, so paradox dies klingen mag, hilfreich, Kontakt
aufzunehmen und Position zu beziehen.
So sollte ich z.B. einen Buben im Volksschulalter testen, dem die
Behörden eine Beschulung verweigerten, da sie annahmen, dass das
wegen eines Geburtstraumas an allen Extremitäten gelähmte Kind mit
mangelnder Kopfkontrolle nicht bildbar sei. Erst als ich den
gemeinsam mit seiner Mutter in der Ambulanz wartenden Buben eine
Zeit lang beobachtet hatte, fand ich den Mut, ihn dranzunehmen. Ich
hätte nie angenommen und ohne diesen Arbeitsauftrag auch nicht
erfahren, dass der Junge im Verbalteil des Vorschulintelligenztests
nach Wechsler einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten
erreichte. Er verfügte sogar über ein Maß an geistiger Wendigkeit,
Humor und Lebensfreude, von dem viele körperlich gesunde Menschen
nur träumen können! Natürlich habe ich in meinem Befund mit aller
Autorität und Leidenschaft den Wert und die Dringlichkeit
schulischer Weiterbildung für diesen Buben vertreten!
Hintergrundwissen über Möglichkeiten und Grenzen psychologischer
Testverfahren erleichtert es mir aber auch, relativierende
Zusatzinformationen zu sammeln und zu berücksichtigen bzw. mich zur
Abweichung von vorgegebenen Pfaden zu autorisieren. Hier denke ich
an Kinder, deren Testwerte erst durch Zusatzbeobachtungen
interpretierbar wurden, z.B. ein Mädchen mit unklarer Sehstörung,
das sich bei einem Subtest, der das Zeichnen von vorgegebenen
Symbolen in Figuren bzw. unter Zahlen verlangt, sichtlich so sehr
bemühte, seine visuellen Defizite zu kompensieren, dass wir die
Verdachtsdiagnose Konversionssymptom revidieren mussten und in
wieterer Folge eine Macula-Degneration feststellen konnten.
Auch habe ich Kinder vor Augen, deren kognitive Kompetenz mit
gängigen Intelligenztests nicht darstellbar war, sich aber in
Experimenten nach Piaget bzw. im konkreten Kontakt zeigte, z.B.
einen türkischsprachigen Buben mit einer sehr seltenen
neurologischen Erkrankung, die laut Literatur enorme Einschränkungen
im visuellen (Katarakte), motorischen (cereballäre Gehstörung) und
intellektuellen (Debilität) Bereich mit sich bringt. Er schaffte es,
mir (die ich seinen Zahlbegriff überprüfend mit einem großen
Schaumgummiwürfel und einem Türkischwörterbuch vor ihm saß)
vorzugaukeln, er könne die Anforderung nicht bewältigen, um, als ich
das Wörterbuch zumachte, triumphierend auf Deutsch von eins bis
sechs zu zählen.
Das Zusammentreffen mit diesen und vielen anderen Kindern wird mir
immer in Erinnerung bleiben und ist für mich Symbol für den Reichtum,
den ich erlebe, wenn ich mich (mit all meinen Barrieren) um Kontakt
bemühe in der ehrlichen Absicht, die Wirklichkeit einer Person zu
sehen, die sich meist hinter ihrer (viel zu rasch bewerteten)
Oberfläche verbirgt. Durch diese und viele andere Erlebnisse wuchs
in mir die Gewissheit, dass die Welt wesentlich bunter und
schattierter ist, als ich ursprünglich angenommen habe, aber auch
die Zuversicht, dass sich Menschen und Dinge in ihrer Vielfalt
zeigen wollen und dass ich über gute Möglichkeiten verfüge, diese
auch wahr zu nehmen.
Spiel erleichtert mir (und anderen) die Begegnung. In der Zeit als
Praktikantin bei einer Psychologin, die für eine der Bettenstationen
der Klinik zuständig war, wurzelt diese für mich wesentliche Grunderfahrung. Eines Tages wurde ich mit der täglichen Betreuung
eines Mädchens betraut, dem es wegen seiner degenerativen
neurologischen Krankheit, die sich unter anderem in bedrohlichen
Schluckstörungen manifestierte, auch psychisch sehr schlecht ging.
Anfangs war ich wie gelähmt von meiner und des Mädchens Angst vor
ihrer tragischen Diagnose, doch nach und nach machte ich die
Erfahrung, dass gemeinsam zu spielen, nicht nur mir, sondern auch
dem Mädchen die Begegnung erleichterte, dass das Spiel uns auch in
dieser Grenzsituation Normalität und Halt gab, dass es uns half, das
Ausmaß unserer Nähe zu dosieren und im Hier und Jetzt zu verbleiben,
wo doch der Gedanke an die Zukunft so viel Angst machte.
Mittlerweile weiß ich, dass ich die Sprache des Spiels mit Kindern
u.a. auch deshalb liebend gerne spreche, weil sie mir (auch in
wesentlich weniger extremen Situationen) hilft, Beziehung
aufzunehmen und zu entwickeln.
Der Wechsel von der Praktikantin zur Mitarbeiterin, von der
Studentin zur Wissenschaftlerin ist mir nicht gelungen. Nach dem
Abschluss des Studiums aber auch in meiner Zeit als
Universitätsassistentin haben sich meine emotionalen Schwierigkeiten
erstmals so intensiv gezeigt, dass ich (auf den Rat einer Freundin
hin) psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm, die ich damals
ganz bewusst nicht mit einer einschlägigen Ausbildung in Verbindung
bringen wollte. Noch gab es kein Psychotherapiegesetz und wir Jungen
und Unausgebildeten wurden in der Klinik gerne mit besonders
schweren Fällen betraut. Nach dem Erstgespräch bei meinem späteren
Therapeuten habe ich meiner Überforderung (v.a. durch die
„Therapien“ mit zwei Anorektikerinnen) Rechnung getragen und u.a.
die mir damals angebotene „Therapie“ einer Jugendlichen mit einem
schweren Borderlinesyndrom abgelehnt. Dabei scheine ich das Kind mit
dem Bade ausgeschüttet zu haben, habe ich doch in meiner Zeit an der
Klinik nie wieder begonnen, mich um eine Psychotherapieausbildung zu
bemühen, neue Fälle zu übernehmen, mich (zumindest in einem ersten
Schritt) auf Kinderspieltherapie zu konzentrieren, in der ich
(teilweise noch in der unbeschwerten Praktikantinnenzeit) erste
Erfahrungen gesammelt hatte, an die anzuknüpfen für mich interessant
und lohnend gewesen wäre.
Ich erinnere mich noch lebhaft an meine Begegnungen mit einem Buben
mit Enkopresis, einem Mädchen mit selektivem Mutismus und der
grenzbegabten Tochter einer psychotischen Mutter, die ich lange
Jahre betreute. Auch hier empfand ich sie, meine Faszination und
auch eine gewisse Leichtigkeit im therapeutischen Spiel mit Kindern.
Leider ließ ich mich in meinen Impulsen (z.B. mitzuspielen) leicht
bremsen, hatte ich doch Virgina M. Axlines Buch „Kinderspieltherapie
im nicht-direktiven Verfahren“ zur Doktrin erkoren. Auf Stefan
Schmidtchen bin ich erst später gestoßen, doch verzichtete ich
angesichts eines Zweijahresvertrags (mit Verlängerungsoption) als
Assistentin an der Klinik auf ein einjähriges Auslandsstipendium bei
ihm in Hamburg. Mitunter bedauere ich das, doch hege ich
gleichzeitig den Verdacht, dass diese Herausforderung für mich
damals zur riesengroßen Überforderung geworden wäre.
Heute denke ich, ich habe nach meiner Anstellung und dem (vielleicht
auch nur vermeintlichen) Verlust meines Schonraums als „In-Entwicklung-Begriffene“,
weder die Erwartungen erfüllt, die ich in anderen geweckt, noch die,
die ich in mich selbst gesetzt hatte. Ich bin abgetaucht, habe klare
Konturen weder entwickelt vor allem aber nicht erkennen lassen, bin
darüber gestolpert, dass ich damals nicht erwachsen werden konnte
oder wollte. Auch wenn ich nach vier Jahren dissertiert hatte und
(mit Ach und Krach) für weitere sechs Jahre verlängert worden war,
musste ich doch klar erkennen, dass ich in dieser Zeit
wissenschaftlich nicht mehr würde aufholen können, was ich zuvor
versäumt hatte – dass ich gescheitert war.
Privat und beruflich erfuhr ich einen kurzen Aufschwung als ich
meinen Mann kennen lernte und als leitende Redakteurin zur
Fachzeitschrift für Kindergarten- und Kleinkindpädagogik wechselte.
Doch bald durchlebte ich eine nächste Krisenzeit, in der ich merkte,
dass ich die konkrete Arbeit mit Kindern vermisste, die ich als
meine berufliche Wurzel erkannte, aus der ich abstraktere
Tätigkeiten, wie z.B. die redaktionelle, entwickle. Also beschloss
ich mich dieser meiner Wurzeln nicht länger zu berauben und einen
halben Tag in der Woche in der psychologischen Praxis meiner auf
Kinder mit Lern- und Leistungsschwächen spezialisierten Freundin
Karin mitzuarbeiten. Vorerst lediglich diagnostisch, doch bald
erweiterte ich auf einen ganzen Tag und es kamen, auf meinen
erklärten Wunsch, auch Betreuungen von Kindern hinzu.
Das Projekt Psychotherapieausbildung (Schritt 1: Propädeutikum) nahm
ich damals ebenfalls in Angriff, v.a. um mir Chancen zur Rückkehr in
den psychologisch-psychotherapeutischen Arbeitsbereich zu eröffnen.
Als es im Fachspezifikum um die Erlangung des Status „Psychotherapeutin
in Ausbildung unter Supervision“ ging, habe ich erstmals begonnen,
meine Betreuungen legasthenischer Kinder als Psychotherapie zu
begreifen und darzustellen. Ich komme mir manchmal vor wie der
Panter im Gedicht: Ein Panter, ein Panter; erst lag er, dann stand
er; erschrak so darüber; da lag er gleich wieder. Ich war bereits
längere Zeit gestanden, durfte es jedoch nicht merken, um nicht
wieder hinzufallen. Ich scheine einige Jahre eines definitionsfreien
Raums gebraucht zu haben um mich entwickeln zu können und um selbst
gehen zu lernen. Doch nun ist es Ziel meiner Abschlussarbeit, zu
reflektieren und darzustellen, in welcher Weise ich
psychotherapeutisch mit lern- und leistungsschwachen Kindern
arbeite, weshalb mich diese Kinder berühren und wie es mir gelingt,
sie zu erreichen.
Wie ich in meiner Arbeit noch ausführen werde, besteht das Drama von
Kindern mit umschriebenen Lern- und Leistungsstörungen darin, dass
sie in jener Entwicklungsphase, in der es für sie gilt,
herauszufinden, was sie sind und was sie werden können, wegen eines
Ungleichgewichts in der Entwicklung ihrer kognitiven Basisfunktionen,
berechtigte Leistungserwartungen (die eigenen und die anderer) nicht
zu erfüllen vermögen.
Ich selbst habe zwar alle schulischen Anforderungen (mit viel Angst
vor Versagen) sehr gut bewältigt, sehe mich jedoch als Person mit
grundlegenden sensorischen Defiziten (vor allem im
Gleichgewichtssystem) und einer damit korrespondierenden
Schwierigkeit meine affektive Balance zu bewahren. Ich kenne die
unausweichliche Irritation durch eine unverständliche und vorerst
unbeeinflussbare Dysharmonie im Fähigkeitsspektrum. Ich verstehe das
Bedürfnis Erwartungen zu wecken, mich dann aber vor deren Erfüllung
zu drücken, mich zur gegebenen Zeit zu verstecken anstatt mich
abermals der Möglichkeit des Scheiterns auszusetzen. Ich weiß, dass
es sehr schwer ist, mich ehrlich und liebevoll zu betrachten, wenn
ich dabei auf jene Instabilität und Zerrissenheit stoße, die durch
diese meine Dysharmonie bedingt ist. Und ich kann nur zu gut
verstehen in welchen Aufruhr und welche Vielfalt (oft sehr
unangenehmer) Gefühle man gerät, wenn man unverhältnismäßig oft auf
die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten stößt.
Strukturiertes Arbeiten und Spiel, die Schwerpunkte, die mich
beruflich tragen, lassen sich bei meiner bevorzugten Art von
Legasthenietherapie eng miteinander verbinden. Es handelt sich
hierbei um einen mehrdimensionalen Ansatz; der aus
Basisfunktionstraining, Lese- und Rechtschreibübungen, dem Erwerb
von Kompensationsstrategien vor allem aber der psychotherapeutischen
Unterstützung des betoffenen Kindes und seines sozialen Systems
besteht. Die analytische Komponente meines Vorgehens gibt mir
Sicherheit und das Spiel ermöglicht mir den Rückgriff auf frühe (vorsprachliche)
Formen der Symbolisierung, die ich als zusätzlichen Raum erlebe.
Wahrscheinlich hätte ich auch bei einem ähnlich intensiven Arbeiten
mit Erwachsenen viele für mich kostbare Erfahrungen gemacht, doch
verbinde ich meine Entwicklungsschritte mit konkreten Kindern,
Jugendlichen bzw. ihren Eltern – auch wenn ich meine Angst vor
Jugendlichen und Eltern erst in den letzten Jahren (mit zunehmender
Sicherheit in meinem fachlichen Selbstverständnis und langsam
ansteigender Fähigkeit zur Verwirklichung der therapeutischen
Grundhaltungen) ein wenig abmildern konnte. Zu wichtigen neuen
Erfahrungen hat mir die Geburt meines heute dreizehn Monate alten
Sohnes Valentin verholfen. Im Besteben meine Ausbildung
abzuschließen, fing ich schon bald nach seiner Geburt an, wieder
stundenweise zu arbeiten. Zeit ist für mich im letzten Jahr kostbar
geworden und ich habe zu sehen gelernt, dass mein bloßes Dasein
(dessen Wert ich vor lauter unerfüllbaren Ansprüchen nie gesehen
hatte) nicht nur für mich etwas Besonders ist, sondern auch für
meine KlientInnen. In diesem Jahr habe ich mich auf die Vielfalt all
jener Erfahrungen eingelassen, die in der Beratungsstelle in der ich
mitarbeite für mich möglich war, darunter auch eine Paartherapie.
Ich habe über den Zaun geschaut, dabei meinen Horizont erweitert,
aber auch meine therapeutische Identität und meinen Schwerpunkt als
Kindertherapeutin so weit gestärkt, dass ich nun bereit bin dazu zu
stehen.
Meiner Ansicht nach ist es kein Zufall, dass ich mit Kindern
arbeite, ich wäre manchmal gerne Kind, bestehe oft noch heute auf
kindlichen Verhaltensweisen, kann mich aus diesen und anderen
Gründen genauso rasch wie leicht in Kinder hineinversetzen, weiß,
dass ich einiges nachzuholen hätte ... – doch der wichtigste Grund
ist, dass ich die spielerische Begegnung in der Kindertherapie als
viel angenehmer erlebe als die sprachliche in der
Erwachsenentherapie, dass ich Nähe und Distanz viel leichter
regulieren kann, mehr ich selbst bin und mehr vom anderen wahrnehme,
wenn ich mit einem Kind spiele, als wenn ich mit einem Erwachsenen
spreche. Was mich nach der Zusammenschau meines Weges berührt ist,
wie sehr ich bis heute dazu neige, mich zu schämen, dass meine
Arbeit mir selbst so viel gibt, so viele meiner Defizite auffüllt
und mir so viele wertvolle Entwicklungen in einer guten und
geschützten Position ermöglicht hat.
Während ich dies schreibe erinnere ich mich an Hermann van Veens
Text „Alles was ich hab, hab ich von einem Andern“, den ich bei
meiner Sponsion verschenkt habe und entwickle die Ahnung, dass es
vielleicht mehr so ist, wie Paget es zu beschreiben versuchte:
Entwicklung für mich und andere findet im Raum zwischen mir und
anderen statt. Konsequent weitergedacht müsste das auch heißen, dass
wenn ich mich dabei entwickelt habe, die Begegnung mit mir auch
anderen bei ihrer Entwicklung geholfen hat. Daran will ich glauben,
so wie an mein Gefühl (im Zuge meiner Ausbildung zur
Psychotherapeutin) endlich Identität entwickelt zu haben. Ich möchte
bei der Arbeit mit Kindern erwachsen sein können und meiner dritten
Ersatzfamilie, den PsychotherpeutInnen, nun bald als reifes Mitglied
angehören. Ich will meine Reife entwickeln, auch wenn ich mich (weil
ich so bin wie ich bin) auch in den Beziehungen zu meinen Freunden,
meiner Herkunftsfamilie, meinem Mann und meinem Sohn immer wieder
von neuem bemühen muss, sie zu bewahren.
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