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psychotherapeutische Arbeit mit lern- und leistungsschwachen Kindern

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Theorieteil – mit Legasthenie leben

Leichte Schwäche – schwere Folgen
Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten/Legasthenie/Teilleistungsschwäche

ICD-10: Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten
Lernstörungen irritieren Kinder, Eltern und Lehrer.
Den Wertmaßstäben unserer Leistungsgesellschaft entsprechend, führen kindliche Leistungsbeeinträchtigungen wesentlich häufiger zur Suche nach Hilfe, als Schwierigkeiten im emotionalen Bereich z.B. Depressionen im Kindesalter.
Besonders problematisch ist es, wenn (normal begabte Kinder) schon im Volksschulalter gravierende Probleme beim Erlernen der Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen – haben. Dementsprechend sind Lese-, Schreib- und Rechenstörungen im ICD-10 unter F81 (Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten) als psychische Störung mit Krankheitswert definiert.

Syndrom: Legasthenie
Im Gegensatz zum ICD-9 verzichtet der ICD-10 auf den 1916 von Ranschburg (vgl. Mann 2001, Seite 184) eingeführten Begriff Legasthenie (Leseschwäche: legere/
lesen; asthenia/Schwäche), der seither sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis höchst kontroversiell diskutiert wird.
Das Legasthenie genannte Krankheitsbild zeichnete sich erst nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im neunzehnten Jahrhundert ab. Damals wurde deutlich, dass sogar schwach begabte Menschen, die Kunst des Lesens und Schreibens bis zu einem gewissen Grad erlernen können, während es normal begabte gibt, die mit dem Erwerb der Schriftsprache enorme Schwierigkeiten haben. (Mann 2001)
1951 schuf Linder mit der sogenannten Diskrepanzdefinition, die bis heute wohl bedeutendste Legastheniebeschreibung im deutschen Sprachraum. (Die Lese- und Rechtschreibstörung F81.1 im ICD-10 ist nach wie vor sehr ähnlich dargestellt!):
„ ... spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbstständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz.“ (Zitiert nach Mann 2001, Seite 184).
Auch die Einführung statistischer Forschungsmethoden im humanwissenschaftlichen Bereich führte nicht zur Entwicklung der erhofften objektiven, reliablen und validen Testverfahren zur Ermittlung von Legasthenikern. Für das Finden eines Syndroms erwies sich die Gruppe der betroffenen Kinder als viel zu heterogen. In übergroßer Vielfalt zeigten sich Erscheinungsbilder (Lese-Rechtschreib-Schwäche, Leseschwäche etc.), Symptome (Verwechslung von harten und weichen Konsonanten, Vertauschung von Buchstaben, Umstellung von Reihenfolgen etc.) und Verursachungsmomente (familiäre Disposition, minimale cerebrale Dysfunktion, pädagogische Fehler etc.). – Also kam es Mitte der 70er-Jahre im Zuge der sogenannten Antilegastheniebewegung, zu heftiger Kritik an der Legasthenieforschung und am Konzept der Legasthenie.

Ätiologie: Teilleistungsschwäche
Etwa gleichzeitig damit entstand jedoch ein neuer auf entwicklungsneurologischen, neuropsychologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen beruhender Blickpunkt auf legasthene Menschen. Das Konzept der Teilleistungsschwächen, zu dem damals an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie- des Kindes und Jugendalters intensiv geforscht und publiziert wurde, erweis sich als hilfreich.
Den Erkenntnissen des sowjetischen Hirnforschers Luria folgend, nahm man an, dass jede cerebrale Funktion durch ein komplexes Zusammenwirken vieler Hirnareale zustande kommt, ob es sich nun um Wahrnehmung, Motorik, Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Sprache, ob es sich um Lesen, Schreiben oder Rechnen oder ob es sich um Radfahren, Singen oder Fischen handelt. (Vgl. Berger 1982)
Leontjew bezeichnet diese in der menschlichen Entwicklung immer komplexer werdenden funktionellen Systeme als „funktionelle Hirnorgane“. Er nimmt an, dass beim Erwerb einer bestimmten Leistung (z.B. Schifahren) die dafür nötigen cerebralen Grundfunktionen (die immer auch am Zustandekommen vieler anderer Leistungen beteiligt sind) zu einem stabilen neuronalen Funktionskreis geschaltet werden, der in der Qualität seiner Funktion, der Funktionalität von Organen (z.B. dem Ohr das hört) gleichkommt. (Vgl. Berger 1982, Seite 21).
Das bedeutet, dass Leistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nur dann gelingen können, wenn eine Vielzahl grundlegender Teilleistungen (auch Basisfunktionen genannt) ausreichend gut entwickelt ist und ausreichend gut zusammenspielt.
Zur Illustration ein Beispiel von Brigitte Sindelar (1994, Seite 15), einer ehemaligen Mitarbeiterin der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, das ich in meiner Zeit als Universitätsassistentin (wie alle meine Kolleginnen) Woche für Woche im Neurologiepflichtpraktikum für MedizinerInnen verwendet habe:

Harald sitzt in der zweiten Klasse Volksschule und soll eine Ansage schreiben. Was muss sein kindliches Gehirn dabei alles leisten?
Damit die angesagten Wörter richtig aufgeschrieben sind, muss Harald sehr viele verschiedene Teilleistungen vollbringen:
Harald muss seiner Lehrerin zuhören und darf sich nicht von anderen Geräuschen, die gleichzeitig auf sein Ohr treffen, ablenken lassen. Er darf also nicht auf seinen Freund hören, der gerade eine Bemerkung über das neueste Computerspiel macht, er darf nicht dem Geräusch lauschen, das ein Sitznachbar beim Zerlegen seiner Füllfeder verursacht, er darf nicht auf das Klappern horchen, das der Schulwart vor der Klassentür mit Eimer und Besen veranstaltet, er darf auch nicht das Aufheulen eines Motors auf der Straße beachten. Er muss die Stimme der Lehrerin aus all diesen gleichzeitig eintreffenden Geräuschen herausfiltern und quasi „laut“ schalten. Diese Teilleistung vollbringt er durch seine auditive Aufmerksamkeit.
Dann muss er den Satz, den die Lehrerin gesprochen hat, kurz in seinem Gedächtnis behalten. Dazu braucht er die Teilleistung des auditiven Gedächtnisses.
Danach muss er das Wort in die einzelnen Laute zergliedern, d.h. er muss „auseinander hören“, aus welchen Lauten dieses Wort besteht. Dazu beansprucht er die Teilleistung der auditiven Gliederung und Analyse.
In einem weiteren Schritt muss er diese herausisolierten Laute von anderen, die ähnlich klingen, unterscheiden. Er darf also nicht o und u, b und p, d und t, g und k, i und e, au und eu, ö und ü, lange und kurze Vokale usw. miteinander verwechseln. Dabei erbringt er die Teilleistung der auditiven Differenzierung.
Wenn Harald auch diese Teilleistung fehlerfrei durchgeführt hat, muss er nun die richtigen Buchstabengestalten zu den Lauten finden, d.h. er muss wissen, wie die gehörten Laute geschrieben aussehen. Dazu muss er die Teilleistung des visuellen Gedächtnisses beanspruchen.
Beim Heraussuchen einer richtigen Buchstabengestalt aus seinem visuellen Gedächtnis muss er darauf achten, dass er diese nicht mit ähnlich aussehenden Buchstabengestalten verwechselt, also nicht d und b, n und m, u und n, o und a, ei und ie usw. Diese Unterscheidung trifft er mithilfe der Teilleistung der visuellen Differenzierungsfähigkeit.
Dann muss er den gehörten Laut mit dem zu schreibenden Buchstaben verbinden, d.h. er muss Informationen zwischen den Sinnesgebieten miteinander verknüpfen. Dazu braucht Harald die Teilleistung der Intermodalität.
Wenn ihm auch das gelungen ist, muss er seine Hand steuern, um die Schreibbewegung durchzuführen, muss also das Bild des Buchstaben und die Schreibbewegung miteinander verbinden. Damit vollbringt er die Teilleistung der visomotorischen Koordination.
Außerdem muss er darauf achten, dass der Buchstabe an der richtigen Stelle und in der richtigen Stellung auf dem Papier steht. Dazu braucht er die Teilleistung der Raumorientierung.
Während all diese Einzelleistungen ablaufen, darf Harald die Serie, die Reihenfolge der Laute bzw. der Buchstaben nicht durcheinanderbringen und auch keinen Einzelteil aus dieser Serie verlieren. Er muss die Teilleistung der Serialität einsetzen.
Nur wenn es ihm gelingt, all diese Einzelleistungen oder Teilleistungen zu vollbringen, wird das Angesagte richtig auf dem Papier stehen. So überlegt, ist es eigentlich erstaunlich, dass der Mensch nach Ansage schreiben kann.

Brigitte Sindelar veranschaulicht Teilleistungsschwächen über das Bild eines Baumes. Die Baumkrone symbolisiert den aktuellen Entwicklungsstand (die aktuellen Hirnfunktionen) eines Menschen. In der Krone sitzen bei einem Volksschulkind u.a. seine Fähigkeiten zu Lesen, Schreiben, Rechnen, sich zu konzentrieren, situationsangepasst zu reagieren, aber auch zu Singen, Zeichnen, Hüpfen etc. Die Voraussetzungen für eine gute Entwicklung der Krone liegen im Stamm und den Wurzeln des Baumes. Hier sitzen die Teilleistungen/Basisfunktionen. Diese entwickeln sich meist einheitlich (einheitlich unterdurchschnittlich, einheitlich durchschnittlich, einheitlich überdurchschnittlich), sodass die Krone harmonisch wächst (harmonisch unterdurchschnittlich, harmonisch durchschnittlich, harmonisch überdurchschnittlich). Bei einem Ungleichgewicht in der Entwicklung der kognitiven Basisfunktionen spricht man von Teilleistungsschwäche. Die Uneinheitlichkeit in den grundlegenden Teilleistungen (Wurzeln und Stamm) führt zu einem dysharmonischen Entwicklungsprofil (Krone). Diese Dysharmonie kann sich im Schulalter in Symptomen zeigen wie z.B. Legasthenie, Rechenschwäche, Konzentrationsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten etc.

Der Tübinger Kinderpsychiater Reinhart Lempp betont in seinem 1992 erscheinen Buch „Vom Verlust der Fähigkeit sich selbst zu betrachten“, dass die klein imponierenden oft sogar unbemerkten, da gut kompensierten Schwächen große Folgen haben können. Er legt eine entwicklungspsychologische Erklärung der Schizophrenie vor, die er als Verlust der Überstiegsfähigkeit bzw. Rückstiegsfähigkeit aus der individuellen Nebenrealität in die gemeinsame Hauptrealität begreift und weist darauf hin, dass Teilleistungsstörungen das Erlernen dieses Überstiegs erschweren können, da sie von frühester Kindheit an zu einer Unsicherheit in der Umwelterfassung führen.
Lempp (1992), der sich vornehmlich mit visuellen und auditiven Teilleistungsstörungen, Störungen der Programmsteuerung und Raum-Lage-Labilität befasst, definiert Teilleistungsschwächen wie folgt:
„Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass die Verarbeitungsfähigkeit sensorisch aufgenommener Reize bei vielen Menschen meist in umschriebenen Bereichen beeinträchtigt ist. Wir sprechen dabei von Teilleistungsstörungen. Unter Teilleistungsstörungen verstehen wir seltener den Ausfall, sondern in der Regel die Beeinträchtigung einer umschriebenen Funktion in der Funktionskette der Reizaufnahme, der Reizverarbeitung, der Kurz- und Langzeitspeicherung, der Handlungsvorbereitung und der Handlungsdurchführung. An jeder Stelle dieses komplexen Funktionsgefüges können Schwächen oder Ausfälle vorliegen, welche es komplizieren oder erschweren.“

Das Konzept der Teilleistungsschwächen ist ein (auf Legasthenie aber auch auf viele andere psychische Störungen anwendbares) Denkmodell, das ich an der Klinik kennen und schätzen gelernt habe. In der kinderpsychologischen Praxis meiner Freundin und Studienkollegin Mag. Karin Killer habe ich es wiedergefunden. Wir gehen davon aus, dass die diagnostische Suche nach den beeinträchtigten Teilleistungen sich lohnt, da die therapeutische Verbesserung unterentwickelter Basisfunktionen zur Verbesserung all jener Leistungen führt, an deren zu Stande kommen die trainierten Teilleistungen mitbeteiligt sind. Diagnostisch arbeiten wir u.a. mit dem von Brigitte Sindelar entwickelten Testverfahren, das primär modale, intermodale und seriale Teilleistungsschwächen im optischen und akustischen Sinnesbereich erfasst. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir Kinder, deren Legasthenie durch optische oder akustische Teilleistungsschwächen bedingt ist, mit unseren Methoden am besten unterstützen können. Wenn die Probleme der bei uns vorgestellten Kinder in basalere Sinnesbereiche (vestibuläres System – Schwerkraft und Bewegung; propriozeptives System – Muskeln und Gelenke; taktiles System – Berührung und Tastsinn) hineinreichen, empfiehlt sich unserer Ansicht nach eine Sensorische Integrationstherapie nach Jean Ayres, die meist von speziell weitergebildeten ErgotherapeutInnen angeboten wird.

Ursachen und Wirkungen: Ein komplexes Zusammenspiel
Spezifische Lese-Rechtschreibstörungen sind laut Steinhausen (1996) bei bis zu 7% aller Kinder zu erwarten. Sindelar (1995) schätzt, dass etwa 20% aller Kinder Teilleistungsschwächen haben. Es handelt sich also um eine bedeutende Patientengruppe.
In meinen Anfängen als Legasthenietherapeutin konnte ich das Ausmaß und die Dimensionalität dieses Arbeitsfeldes noch nicht erkennen. Ich meinte mit der Suche nach den Teilleitungsschwächen und deren Training sei es im Großen und Ganzen getan. Diese Sichtweise zeigte einerseits dass ich Newcomerin war, vereinfachen musste, um ein Stück Verständnis zu erreichen, kam aber auch meinem Bedürfnis nach Ordnung und Systematik, nach Halt und Orientierung entgegen. Erst nach und nach lehrten mich die Kinder und Eltern, mit denen ich arbeiten durfte, wie tief Teilleistungsschwächen die Entwicklung eines Menschen irritieren können und welch umfassender, differenzierter und vernetzter therapeutischer Begleitung sie bedürfen.
Ich möchte an dieser Stelle (nur kurz) auf die Literatur zu drei Aspekten eingehen, die unserer Erfahrung nach in die Therapie integriert werden müssen:
• Persönlichkeit
Es gibt unzählige Belege dafür, dass Legasthenie zu einer gravierenden Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung führen kann. Da ich mich im klientenzentrierten Teil meiner Arbeit sowohl theoretisch als auch praktisch intensiv mit der Notwendigkeit und den Möglichkeiten von Psychotherapie bei Kindern mit Legasthenie auseinandersetzen werde, möchte ich hier lediglich auf zwei Autoren verweisen.
Lotte Schenk-Danzinger setzt sich in ihrem Buch über Legasthenie (1984, 1. Auflage 1975!) in einem eigenen Kapitel mit den möglichen Auswirkungen der klassischen Legasthenie auf die psychische und soziale Situation und auf den Lebensweg auseinander. Sie schreibt auf Seite 82:
„Gehäufte unverschuldete Misserfolgserlebnisse und ungünstige Umweltreaktionen, wie sie fast alle Legastheniker über lange Zeit und meist ohne Unterbrechung erleben müssen, können nicht ohne Rückwirkungen auf psychischen Zustand und Verhaltensweisen bleiben. Als Reaktion auf diese Frustrationen entwickeln sich zwangsläufig Abneigungen gegenüber Leistungsbereichen und Personen und es entstehen Spannungen, die der Legastheniker zu vermeiden oder abzuregieren trachtet, um das seelische Gleichgewicht einigermaßen zu erhalten oder wiederherzustellen.“
In einer aktuellen Studie haben Andreas Bäcker und Gerhard Neuhäuser (2003) den Nachweis erbracht, dass eine Klinikstichprobe von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen in der Child Behaviour Checklist (CBCL) viermal mehr Verhaltensauffälligkeiten aufweist als die Normpopulation. Bei etwa zwei Drittel der Kinder aus dieser Stichprobe (n=77) wurden psychiatrische Syndrome nach ICD-10 diagnostiziert: besonders häufig Anpassungsstörungen, wegen der kaum zu bewältigenden Leistungsanforderungen, aber auch hyperkinetische und Angststörungen. Dieses Ergebnis deckt sich mit unserer praktischen Erfahrung: Kinder mit Legasthenie haben großen Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung; Maßnahmen zur Leistungsförderung allein reichen vielfach nicht aus.
• Familie
Das Leben mit einem teilleistungsschwachen/legasthenischen Kind ist nicht leicht. Am auffälligsten ist die Diskrepanz zwischen der guten intellektuellen Begabung auf der einen und den (unerklärlichen) Defiziten auf der anderen Seite. Was liegt also näher, als anzunehmen, das Kind könne ja, aber es wolle nicht. Dadurch kommt es zu einem für alle Beteiligten höchst aufreibenden und schmerzhaften Wechselspiel. Eltern, die sich die Probleme ihres Kindes nicht erklären können, meinen entweder härter oder auch liebevoller mit ihm umgehen zu müssen. Doch scheitern sie in ihren Bemühungen einen Ausweg aus der bedrohlichen Situation zu finden genauso nachhaltig wie ihre Kinder, die sich in ihren verzweifelten Anstrengungen, jene Leistungen zu erbringen, die von ihnen erwartet werden, weder gesehen noch geschätzt fühlen.
Wenn dann noch instabile familiäre Verhältnisse (Spannungen, Trennungen, neue Beziehungen), hohe elterliche Leistungsansprüche, problematische Erziehungsstile etc. hinzukommen, so ist eine weitere Eskalation der familiären Lage zu befürchten.
Auch auf diesen in die Legasthenietherapie miteinzubeziehenden Faktor werde ich im Laufe meiner Arbeit noch genauer eingehen, hier will ich lediglich einen weiteren Aspekt ansprechen, der die Situation von Familien mit legasthenischen Kindern zusätzlich erschwert: Legasthenie kann auch erblich sein. Mechthild Firnhaber, die selbst aus einer Legasthenikerfamilie stammt, hat 1999 am 13. Fachkongress des (deutschen) Bundesverbandes für Legasthenie darauf hingewiesen, dass sich in molekulargenetischen Untersuchungen die Hinweise verdichten, dass die für Legasthenie verantwortlichen Gene auf den Chromosomen 2, 6 und 15 liegen. Man vermutet, dass das Gen auf Chromosom 6 für die phonologischen und dass das Gen auf Chromosom 15 für die visuellen Fähigkeiten verantwortlich zeichnet. Diese Befunde sind neu und auch noch nicht ganz gesichert, bestätigen aber Vermutungen und Beobachtungen, die bis an die Anfänge der Legasthenieforschung zurückreichen. Egal ob die weitere Forschung diese neuesten Erkenntnisse bestätigt oder nicht und egal welche gesellschaftlichen Konsequenzen daraus gezogen werden, für Eltern, die selbst legasthenisch sind, ist es doppelt schwer ihre leserechtschreibschwachen Kinder zu begleiten. Nicht nur, dass sie verarbeiten müssen, dass sie ein oft großes Problem an ihr Kind weitergegeben haben, es kommen ihnen angesichts der Schulerfahrungen ihres Kindes oft auch eigene unverarbeitete Kindheitserlebnisse hoch.
Therapie mit teilleistungsschwachen Kindern bedarf meist auch intensiver begleitender Elternarbeit.
• Schule
Das Unterrichten von teilleistungsschwachen Kindern ist ebenfalls nicht leicht, besonders dann, wenn man hierzu – so wie die meisten österreichischen Volksschullehrer – über wenig handlungsrelevantes Hintergrundwissen und über keine verbindliche Selbsterfahrung verfügt.
Die Eltern teilleistungsschwacher Kinder fordern von Lehrern oft mehr Milde oder Strenge; sie haben meist Hypothesen darüber, wie die Schule zur Minderung der Legasthenie ihrer Kinder beitragen könnte.
Im Zuge der Wechselwirkungsprozesse zwischen Elternhaus und Schule ist nicht nur darauf zu achten, dass Lehrer nicht von Eltern unter Druck gesetzt werden, sondern auch darauf, dass Eltern den Druck, den Lehrer ihnen machen, nicht übernehmen und an ihre Kinder weitergeben.
Wir wissen, dass LehrerInnen sowohl durch ihre Unterrichtsmethodik als auch durch ihre Persönlichkeit das Ausmaß der Beeinträchtigung von teilleistungsschwachen Kindern (sowohl im Leistungs- als auch im Persönlichkeitsbereich) so positiv wie negativ beeinflussen können. So ist etwa seit den 30er-Jahren bekannt, dass es von der Art des Erstlesunterrichts abhängt, ob Kinder mit visuellen oder Kinder mit auditiven Schwierigkeiten eine Lese-Rechtschreib-Schwäche entwickeln (Mann 2003). Der Einfluss der Lehrerpersönlichkeit auf die Entwicklung legasthenischer Kinder ist meines Wissens nicht untersucht, meiner Erfahrung nach jedoch nicht zu bestreiten.
Legasthenietherapie bedeutet für mich immer auch, die Zusammenarbeit mit Lehrern und Schulen zu versuchen, mitunter auch Lehrer- bzw. Schulwechsel zu veranlassen bzw. für eine sinnvolle Art des Umgangs der Institution Schule mit dem Syndrom Legasthenie zu plädieren.
Ich halte Rechtschreibung, eine, wie wir im Zuge der Rechschriebreform deutlich sehen konnten, völlig willkürliche Übereinkunft über Richtig und Falsch, für wesentlich weniger wichtig, als angstfreies Leben mit Schriftsprache. Rechtschreibkompetenz ist für mich nicht – so wie vielfach vermutet, wissenschaftlich jedoch längst widerlegt – Ausdruck von Intelligenz und Bildung. Ich möchte nicht in Kauf nehmen, dass unser gesellschaftlicher (vor allem schulischer) Umgang mit Rechtschreibfehlern dazu führt, dass es Menschen gibt, die aus lauter Angst vor Fehlern vermeiden, sich Notizen zu machen, die darauf verzichten, ihre Gedanken und Empfindungen über den Augenblick hinaus für sich und/oder andere festzuhalten. Ich kann auch nicht akzeptieren, dass der Umgang unserer Gesellschaft (insbesondere der Schule) mit der Situation der Lautlesens bei manchen Menschen bis hin zur Verweigerung des stillen Lesens führt und dass diese sich damit ausschließen von der Teilnahme an der weiten Welt verschriftlichter Erfahrungen, Gedanken, Phantasien anderer.
Christine Mann (2001, Seite 398) plädiert für die Abkehr von einem Bild der Legasthenie als „einer im Kind schlummernden Krankheit, die mit Beginn des Lese- und Schreiblehrgangs zum Ausbruch kommt.“ Sie meint, dass in der Schule der Schaden einklagbar werden muss, „wenn Lehrer beim Unterricht im Lesen oder Schreiben Kunstfehler begehen, sodass die Kinder in eine falsche Lese- oder Schreibstrategie hineinrutschen und den Schulunfall Legasthenie erleiden.“ Ich teile ihre Ansicht nicht ganz, bin jedoch ebenfalls der Meinung, dass eine Professionalisierung des schulischen Umgangs mit teilleistungsschwachen Kindern dringend Not tut, deren Probleme von der Schule, die ihre Mitbeteiligung kaum reflektiert, zu Unrecht individualisiert werden. Es ist für mich unverständlich, dass sich entgegen anderslautenden (oft nicht weitergeleiteten!) Erlässen falsche Unterrichtsstrategien wie zB vergleichendes Rechtschriebtraining hartnäckig halten, dass es noch immer Aufsätze gibt, die entgegen dem geltenden Schulunterrichtsgesetz, alleine wegen mangelnder Rechtschreibleistung (diese ist das letztgereihte von vier Bewertungskriterien!) negativ beurteilt werden, dass Kinder keine Möglichkeit erhalten ihre Schwächen durch Stärken in andern Teilbereichen (z.B. Referate, Projektarbeiten etc.) auszugleichen. – Ich merke ich bin hier sehr leidenschaftlich und auch böse, habe ich doch sehen müssen, wie fachlich inkompetent vor allem aber wie lieblos und demütigend Kinder mit diagnostizierten Teilleistungsschwächen oft von ihren Lehrern behandelt werden!
 

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Judith Reimitz

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