Theorieteil – mit Legasthenie leben
Leichte Schwäche – schwere Folgen
Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer
Fertigkeiten/Legasthenie/Teilleistungsschwäche
ICD-10: Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten
Lernstörungen irritieren Kinder, Eltern und Lehrer.
Den Wertmaßstäben unserer Leistungsgesellschaft entsprechend, führen
kindliche Leistungsbeeinträchtigungen wesentlich häufiger zur Suche
nach Hilfe, als Schwierigkeiten im emotionalen Bereich z.B.
Depressionen im Kindesalter.
Besonders problematisch ist es, wenn (normal begabte Kinder) schon
im Volksschulalter gravierende Probleme beim Erlernen der
Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen – haben. Dementsprechend
sind Lese-, Schreib- und Rechenstörungen im ICD-10 unter F81
(Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten) als
psychische Störung mit Krankheitswert definiert.
Syndrom: Legasthenie
Im Gegensatz zum ICD-9 verzichtet der ICD-10 auf den 1916 von
Ranschburg (vgl. Mann 2001, Seite 184) eingeführten Begriff
Legasthenie (Leseschwäche: legere/
lesen; asthenia/Schwäche), der seither sowohl in der Wissenschaft
als auch in der Praxis höchst kontroversiell diskutiert wird.
Das Legasthenie genannte Krankheitsbild zeichnete sich erst nach der
Einführung der allgemeinen Schulpflicht im neunzehnten Jahrhundert
ab. Damals wurde deutlich, dass sogar schwach begabte Menschen, die
Kunst des Lesens und Schreibens bis zu einem gewissen Grad erlernen
können, während es normal begabte gibt, die mit dem Erwerb der
Schriftsprache enorme Schwierigkeiten haben. (Mann 2001)
1951 schuf Linder mit der sogenannten Diskrepanzdefinition, die bis
heute wohl bedeutendste Legastheniebeschreibung im deutschen
Sprachraum. (Die Lese- und Rechtschreibstörung F81.1 im ICD-10 ist
nach wie vor sehr ähnlich dargestellt!):
„ ... spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende
Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des
selbstständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder
(im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz.“
(Zitiert nach Mann 2001, Seite 184).
Auch die Einführung statistischer Forschungsmethoden im
humanwissenschaftlichen Bereich führte nicht zur Entwicklung der
erhofften objektiven, reliablen und validen Testverfahren zur
Ermittlung von Legasthenikern. Für das Finden eines Syndroms erwies
sich die Gruppe der betroffenen Kinder als viel zu heterogen. In
übergroßer Vielfalt zeigten sich Erscheinungsbilder
(Lese-Rechtschreib-Schwäche, Leseschwäche etc.), Symptome
(Verwechslung von harten und weichen Konsonanten, Vertauschung von
Buchstaben, Umstellung von Reihenfolgen etc.) und
Verursachungsmomente (familiäre Disposition, minimale cerebrale
Dysfunktion, pädagogische Fehler etc.). – Also kam es Mitte der
70er-Jahre im Zuge der sogenannten Antilegastheniebewegung, zu
heftiger Kritik an der Legasthenieforschung und am Konzept der
Legasthenie.
Ätiologie: Teilleistungsschwäche
Etwa gleichzeitig damit entstand jedoch ein neuer auf
entwicklungsneurologischen, neuropsychologischen und
entwicklungspsychologischen Grundlagen beruhender Blickpunkt auf
legasthene Menschen. Das Konzept der Teilleistungsschwächen, zu dem
damals an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie- des Kindes
und Jugendalters intensiv geforscht und publiziert wurde, erweis
sich als hilfreich.
Den Erkenntnissen des sowjetischen Hirnforschers Luria folgend, nahm
man an, dass jede cerebrale Funktion durch ein komplexes
Zusammenwirken vieler Hirnareale zustande kommt, ob es sich nun um
Wahrnehmung, Motorik, Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Sprache, ob es
sich um Lesen, Schreiben oder Rechnen oder ob es sich um Radfahren,
Singen oder Fischen handelt. (Vgl. Berger 1982)
Leontjew bezeichnet diese in der menschlichen Entwicklung immer
komplexer werdenden funktionellen Systeme als „funktionelle
Hirnorgane“. Er nimmt an, dass beim Erwerb einer bestimmten Leistung
(z.B. Schifahren) die dafür nötigen cerebralen Grundfunktionen (die
immer auch am Zustandekommen vieler anderer Leistungen beteiligt
sind) zu einem stabilen neuronalen Funktionskreis geschaltet werden,
der in der Qualität seiner Funktion, der Funktionalität von Organen
(z.B. dem Ohr das hört) gleichkommt. (Vgl. Berger 1982, Seite 21).
Das bedeutet, dass Leistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nur
dann gelingen können, wenn eine Vielzahl grundlegender
Teilleistungen (auch Basisfunktionen genannt) ausreichend gut
entwickelt ist und ausreichend gut zusammenspielt.
Zur Illustration ein Beispiel von Brigitte Sindelar (1994, Seite
15), einer ehemaligen Mitarbeiterin der Universitätsklinik für
Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, das ich in meiner
Zeit als Universitätsassistentin (wie alle meine Kolleginnen) Woche
für Woche im Neurologiepflichtpraktikum für MedizinerInnen verwendet
habe:
Harald sitzt in der zweiten Klasse Volksschule und soll eine Ansage
schreiben. Was muss sein kindliches Gehirn dabei alles leisten?
Damit die angesagten Wörter richtig aufgeschrieben sind, muss Harald
sehr viele verschiedene Teilleistungen vollbringen:
Harald muss seiner Lehrerin zuhören und darf sich nicht von anderen
Geräuschen, die gleichzeitig auf sein Ohr treffen, ablenken lassen.
Er darf also nicht auf seinen Freund hören, der gerade eine
Bemerkung über das neueste Computerspiel macht, er darf nicht dem
Geräusch lauschen, das ein Sitznachbar beim Zerlegen seiner
Füllfeder verursacht, er darf nicht auf das Klappern horchen, das
der Schulwart vor der Klassentür mit Eimer und Besen veranstaltet,
er darf auch nicht das Aufheulen eines Motors auf der Straße
beachten. Er muss die Stimme der Lehrerin aus all diesen
gleichzeitig eintreffenden Geräuschen herausfiltern und quasi „laut“
schalten. Diese Teilleistung vollbringt er durch seine
auditive Aufmerksamkeit.
Dann muss er den Satz, den die Lehrerin gesprochen hat, kurz in
seinem Gedächtnis behalten. Dazu braucht er die
Teilleistung des auditiven Gedächtnisses.
Danach muss er das Wort in die einzelnen Laute zergliedern, d.h. er
muss „auseinander hören“, aus welchen Lauten dieses Wort besteht.
Dazu beansprucht er die Teilleistung der
auditiven Gliederung und Analyse.
In einem weiteren Schritt muss er diese herausisolierten Laute von
anderen, die ähnlich klingen, unterscheiden. Er darf also nicht o
und u, b und p, d und t, g und k, i und e, au und eu, ö und ü, lange
und kurze Vokale usw. miteinander verwechseln. Dabei erbringt er die
Teilleistung der auditiven Differenzierung.
Wenn Harald auch diese Teilleistung fehlerfrei durchgeführt hat,
muss er nun die richtigen Buchstabengestalten zu den Lauten finden,
d.h. er muss wissen, wie die gehörten Laute geschrieben aussehen.
Dazu muss er die Teilleistung des visuellen
Gedächtnisses beanspruchen.
Beim Heraussuchen einer richtigen Buchstabengestalt aus seinem
visuellen Gedächtnis muss er darauf achten, dass er diese nicht mit
ähnlich aussehenden Buchstabengestalten verwechselt, also nicht d
und b, n und m, u und n, o und a, ei und ie usw. Diese
Unterscheidung trifft er mithilfe der
Teilleistung der visuellen Differenzierungsfähigkeit.
Dann muss er den gehörten Laut mit dem zu schreibenden Buchstaben
verbinden, d.h. er muss Informationen zwischen den Sinnesgebieten
miteinander verknüpfen. Dazu braucht Harald die
Teilleistung der Intermodalität.
Wenn ihm auch das gelungen ist, muss er seine Hand steuern, um die
Schreibbewegung durchzuführen, muss also das Bild des Buchstaben und
die Schreibbewegung miteinander verbinden. Damit vollbringt er die
Teilleistung der visomotorischen
Koordination.
Außerdem muss er darauf achten, dass der Buchstabe an der richtigen
Stelle und in der richtigen Stellung auf dem Papier steht. Dazu
braucht er die Teilleistung der
Raumorientierung.
Während all diese Einzelleistungen ablaufen, darf Harald die Serie,
die Reihenfolge der Laute bzw. der Buchstaben nicht
durcheinanderbringen und auch keinen Einzelteil aus dieser Serie
verlieren. Er muss die Teilleistung der
Serialität einsetzen.
Nur wenn es ihm gelingt, all diese Einzelleistungen oder
Teilleistungen zu vollbringen, wird das Angesagte richtig auf dem
Papier stehen. So überlegt, ist es eigentlich erstaunlich, dass der
Mensch nach Ansage schreiben kann.
Brigitte Sindelar veranschaulicht Teilleistungsschwächen über das
Bild eines Baumes. Die Baumkrone symbolisiert den aktuellen
Entwicklungsstand (die aktuellen Hirnfunktionen) eines Menschen. In
der Krone sitzen bei einem Volksschulkind u.a. seine Fähigkeiten zu
Lesen, Schreiben, Rechnen, sich zu konzentrieren,
situationsangepasst zu reagieren, aber auch zu Singen, Zeichnen,
Hüpfen etc. Die Voraussetzungen für eine gute Entwicklung der Krone
liegen im Stamm und den Wurzeln des Baumes. Hier sitzen die
Teilleistungen/Basisfunktionen. Diese entwickeln sich meist
einheitlich (einheitlich unterdurchschnittlich, einheitlich
durchschnittlich, einheitlich überdurchschnittlich), sodass die
Krone harmonisch wächst (harmonisch unterdurchschnittlich,
harmonisch durchschnittlich, harmonisch überdurchschnittlich). Bei
einem Ungleichgewicht in der Entwicklung der kognitiven
Basisfunktionen spricht man von Teilleistungsschwäche. Die
Uneinheitlichkeit in den grundlegenden Teilleistungen (Wurzeln und
Stamm) führt zu einem dysharmonischen Entwicklungsprofil (Krone).
Diese Dysharmonie kann sich im Schulalter in Symptomen zeigen wie
z.B. Legasthenie, Rechenschwäche, Konzentrationsprobleme,
Verhaltensauffälligkeiten etc.
Der Tübinger Kinderpsychiater Reinhart Lempp betont in seinem 1992
erscheinen Buch „Vom Verlust der Fähigkeit sich selbst zu
betrachten“, dass die klein imponierenden oft sogar unbemerkten, da
gut kompensierten Schwächen große Folgen haben können. Er legt eine
entwicklungspsychologische Erklärung der Schizophrenie vor, die er
als Verlust der Überstiegsfähigkeit bzw. Rückstiegsfähigkeit aus der
individuellen Nebenrealität in die gemeinsame Hauptrealität begreift
und weist darauf hin, dass Teilleistungsstörungen das Erlernen
dieses Überstiegs erschweren können, da sie von frühester Kindheit
an zu einer Unsicherheit in der Umwelterfassung führen.
Lempp (1992), der sich vornehmlich mit visuellen und auditiven
Teilleistungsstörungen, Störungen der Programmsteuerung und
Raum-Lage-Labilität befasst, definiert Teilleistungsschwächen wie
folgt:
„Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass die
Verarbeitungsfähigkeit sensorisch aufgenommener Reize bei vielen
Menschen meist in umschriebenen Bereichen beeinträchtigt ist. Wir
sprechen dabei von Teilleistungsstörungen. Unter
Teilleistungsstörungen verstehen wir seltener den Ausfall, sondern
in der Regel die Beeinträchtigung einer umschriebenen Funktion in
der Funktionskette der Reizaufnahme, der Reizverarbeitung, der Kurz-
und Langzeitspeicherung, der Handlungsvorbereitung und der
Handlungsdurchführung. An jeder Stelle dieses komplexen
Funktionsgefüges können Schwächen oder Ausfälle vorliegen, welche es
komplizieren oder erschweren.“
Das Konzept der Teilleistungsschwächen ist ein (auf Legasthenie aber
auch auf viele andere psychische Störungen anwendbares) Denkmodell,
das ich an der Klinik kennen und schätzen gelernt habe. In der
kinderpsychologischen Praxis meiner Freundin und Studienkollegin
Mag. Karin Killer habe ich es wiedergefunden. Wir gehen davon aus,
dass die diagnostische Suche nach den beeinträchtigten
Teilleistungen sich lohnt, da die therapeutische Verbesserung
unterentwickelter Basisfunktionen zur Verbesserung all jener
Leistungen führt, an deren zu Stande kommen die trainierten
Teilleistungen mitbeteiligt sind. Diagnostisch arbeiten wir u.a. mit
dem von Brigitte Sindelar entwickelten Testverfahren, das primär
modale, intermodale und seriale Teilleistungsschwächen im optischen
und akustischen Sinnesbereich erfasst. Wir haben die Erfahrung
gemacht, dass wir Kinder, deren Legasthenie durch optische oder
akustische Teilleistungsschwächen bedingt ist, mit unseren Methoden
am besten unterstützen können. Wenn die Probleme der bei uns
vorgestellten Kinder in basalere Sinnesbereiche (vestibuläres System
– Schwerkraft und Bewegung; propriozeptives System – Muskeln und
Gelenke; taktiles System – Berührung und Tastsinn) hineinreichen,
empfiehlt sich unserer Ansicht nach eine Sensorische
Integrationstherapie nach Jean Ayres, die meist von speziell
weitergebildeten ErgotherapeutInnen angeboten wird.
Ursachen und Wirkungen: Ein komplexes Zusammenspiel
Spezifische Lese-Rechtschreibstörungen sind laut Steinhausen (1996)
bei bis zu 7% aller Kinder zu erwarten. Sindelar (1995) schätzt,
dass etwa 20% aller Kinder Teilleistungsschwächen haben. Es handelt
sich also um eine bedeutende Patientengruppe.
In meinen Anfängen als Legasthenietherapeutin konnte ich das Ausmaß
und die Dimensionalität dieses Arbeitsfeldes noch nicht erkennen.
Ich meinte mit der Suche nach den Teilleitungsschwächen und deren
Training sei es im Großen und Ganzen getan. Diese Sichtweise zeigte
einerseits dass ich Newcomerin war, vereinfachen musste, um ein
Stück Verständnis zu erreichen, kam aber auch meinem Bedürfnis nach
Ordnung und Systematik, nach Halt und Orientierung entgegen. Erst
nach und nach lehrten mich die Kinder und Eltern, mit denen ich
arbeiten durfte, wie tief Teilleistungsschwächen die Entwicklung
eines Menschen irritieren können und welch umfassender,
differenzierter und vernetzter therapeutischer Begleitung sie
bedürfen.
Ich möchte an dieser Stelle (nur kurz) auf die Literatur zu drei
Aspekten eingehen, die unserer Erfahrung nach in die Therapie
integriert werden müssen:
• Persönlichkeit
Es gibt unzählige Belege dafür, dass Legasthenie zu einer
gravierenden Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung führen
kann. Da ich mich im klientenzentrierten Teil meiner Arbeit sowohl
theoretisch als auch praktisch intensiv mit der Notwendigkeit und
den Möglichkeiten von Psychotherapie bei Kindern mit Legasthenie
auseinandersetzen werde, möchte ich hier lediglich auf zwei Autoren
verweisen.
Lotte Schenk-Danzinger setzt sich in ihrem Buch über Legasthenie
(1984, 1. Auflage 1975!) in einem eigenen Kapitel mit den möglichen
Auswirkungen der klassischen Legasthenie auf die psychische und
soziale Situation und auf den Lebensweg auseinander. Sie schreibt
auf Seite 82:
„Gehäufte unverschuldete Misserfolgserlebnisse und ungünstige
Umweltreaktionen, wie sie fast alle Legastheniker über lange Zeit
und meist ohne Unterbrechung erleben müssen, können nicht ohne
Rückwirkungen auf psychischen Zustand und Verhaltensweisen bleiben.
Als Reaktion auf diese Frustrationen entwickeln sich zwangsläufig
Abneigungen gegenüber Leistungsbereichen und Personen und es
entstehen Spannungen, die der Legastheniker zu vermeiden oder
abzuregieren trachtet, um das seelische Gleichgewicht einigermaßen
zu erhalten oder wiederherzustellen.“
In einer aktuellen Studie haben Andreas Bäcker und Gerhard Neuhäuser
(2003) den Nachweis erbracht, dass eine Klinikstichprobe von Kindern
mit Lese-Rechtschreibstörungen in der Child Behaviour Checklist (CBCL)
viermal mehr Verhaltensauffälligkeiten aufweist als die
Normpopulation. Bei etwa zwei Drittel der Kinder aus dieser
Stichprobe (n=77) wurden psychiatrische Syndrome nach ICD-10
diagnostiziert: besonders häufig Anpassungsstörungen, wegen der kaum
zu bewältigenden Leistungsanforderungen, aber auch hyperkinetische
und Angststörungen. Dieses Ergebnis deckt sich mit unserer
praktischen Erfahrung: Kinder mit Legasthenie haben großen Bedarf an
psychotherapeutischer Unterstützung; Maßnahmen zur
Leistungsförderung allein reichen vielfach nicht aus.
• Familie
Das Leben mit einem teilleistungsschwachen/legasthenischen Kind ist
nicht leicht. Am auffälligsten ist die Diskrepanz zwischen der guten
intellektuellen Begabung auf der einen und den (unerklärlichen)
Defiziten auf der anderen Seite. Was liegt also näher, als
anzunehmen, das Kind könne ja, aber es wolle nicht. Dadurch kommt es
zu einem für alle Beteiligten höchst aufreibenden und schmerzhaften
Wechselspiel. Eltern, die sich die Probleme ihres Kindes nicht
erklären können, meinen entweder härter oder auch liebevoller mit
ihm umgehen zu müssen. Doch scheitern sie in ihren Bemühungen einen
Ausweg aus der bedrohlichen Situation zu finden genauso nachhaltig
wie ihre Kinder, die sich in ihren verzweifelten Anstrengungen, jene
Leistungen zu erbringen, die von ihnen erwartet werden, weder
gesehen noch geschätzt fühlen.
Wenn dann noch instabile familiäre Verhältnisse (Spannungen,
Trennungen, neue Beziehungen), hohe elterliche Leistungsansprüche,
problematische Erziehungsstile etc. hinzukommen, so ist eine weitere
Eskalation der familiären Lage zu befürchten.
Auch auf diesen in die Legasthenietherapie miteinzubeziehenden
Faktor werde ich im Laufe meiner Arbeit noch genauer eingehen, hier
will ich lediglich einen weiteren Aspekt ansprechen, der die
Situation von Familien mit legasthenischen Kindern zusätzlich
erschwert: Legasthenie kann auch erblich sein. Mechthild Firnhaber,
die selbst aus einer Legasthenikerfamilie stammt, hat 1999 am 13.
Fachkongress des (deutschen) Bundesverbandes für Legasthenie darauf
hingewiesen, dass sich in molekulargenetischen Untersuchungen die
Hinweise verdichten, dass die für Legasthenie verantwortlichen Gene
auf den Chromosomen 2, 6 und 15 liegen. Man vermutet, dass das Gen
auf Chromosom 6 für die phonologischen und dass das Gen auf
Chromosom 15 für die visuellen Fähigkeiten verantwortlich zeichnet.
Diese Befunde sind neu und auch noch nicht ganz gesichert,
bestätigen aber Vermutungen und Beobachtungen, die bis an die
Anfänge der Legasthenieforschung zurückreichen. Egal ob die weitere
Forschung diese neuesten Erkenntnisse bestätigt oder nicht und egal
welche gesellschaftlichen Konsequenzen daraus gezogen werden, für
Eltern, die selbst legasthenisch sind, ist es doppelt schwer ihre
leserechtschreibschwachen Kinder zu begleiten. Nicht nur, dass sie
verarbeiten müssen, dass sie ein oft großes Problem an ihr Kind
weitergegeben haben, es kommen ihnen angesichts der Schulerfahrungen
ihres Kindes oft auch eigene unverarbeitete Kindheitserlebnisse
hoch.
Therapie mit teilleistungsschwachen Kindern bedarf meist auch
intensiver begleitender Elternarbeit.
• Schule
Das Unterrichten von teilleistungsschwachen Kindern ist ebenfalls
nicht leicht, besonders dann, wenn man hierzu – so wie die meisten
österreichischen Volksschullehrer – über wenig handlungsrelevantes
Hintergrundwissen und über keine verbindliche Selbsterfahrung
verfügt.
Die Eltern teilleistungsschwacher Kinder fordern von Lehrern oft
mehr Milde oder Strenge; sie haben meist Hypothesen darüber, wie die
Schule zur Minderung der Legasthenie ihrer Kinder beitragen könnte.
Im Zuge der Wechselwirkungsprozesse zwischen Elternhaus und Schule
ist nicht nur darauf zu achten, dass Lehrer nicht von Eltern unter
Druck gesetzt werden, sondern auch darauf, dass Eltern den Druck,
den Lehrer ihnen machen, nicht übernehmen und an ihre Kinder
weitergeben.
Wir wissen, dass LehrerInnen sowohl durch ihre Unterrichtsmethodik
als auch durch ihre Persönlichkeit das Ausmaß der Beeinträchtigung
von teilleistungsschwachen Kindern (sowohl im Leistungs- als auch im
Persönlichkeitsbereich) so positiv wie negativ beeinflussen können.
So ist etwa seit den 30er-Jahren bekannt, dass es von der Art des
Erstlesunterrichts abhängt, ob Kinder mit visuellen oder Kinder mit
auditiven Schwierigkeiten eine Lese-Rechtschreib-Schwäche entwickeln
(Mann 2003). Der Einfluss der Lehrerpersönlichkeit auf die
Entwicklung legasthenischer Kinder ist meines Wissens nicht
untersucht, meiner Erfahrung nach jedoch nicht zu bestreiten.
Legasthenietherapie bedeutet für mich immer auch, die Zusammenarbeit
mit Lehrern und Schulen zu versuchen, mitunter auch Lehrer- bzw.
Schulwechsel zu veranlassen bzw. für eine sinnvolle Art des Umgangs
der Institution Schule mit dem Syndrom Legasthenie zu plädieren.
Ich halte Rechtschreibung, eine, wie wir im Zuge der
Rechschriebreform deutlich sehen konnten, völlig willkürliche
Übereinkunft über Richtig und Falsch, für wesentlich weniger
wichtig, als angstfreies Leben mit Schriftsprache.
Rechtschreibkompetenz ist für mich nicht – so wie vielfach vermutet,
wissenschaftlich jedoch längst widerlegt – Ausdruck von Intelligenz
und Bildung. Ich möchte nicht in Kauf nehmen, dass unser
gesellschaftlicher (vor allem schulischer) Umgang mit
Rechtschreibfehlern dazu führt, dass es Menschen gibt, die aus
lauter Angst vor Fehlern vermeiden, sich Notizen zu machen, die
darauf verzichten, ihre Gedanken und Empfindungen über den
Augenblick hinaus für sich und/oder andere festzuhalten. Ich kann
auch nicht akzeptieren, dass der Umgang unserer Gesellschaft
(insbesondere der Schule) mit der Situation der Lautlesens bei
manchen Menschen bis hin zur Verweigerung des stillen Lesens führt
und dass diese sich damit ausschließen von der Teilnahme an der
weiten Welt verschriftlichter Erfahrungen, Gedanken, Phantasien
anderer.
Christine Mann (2001, Seite 398) plädiert für die Abkehr von einem
Bild der Legasthenie als „einer im Kind schlummernden Krankheit, die
mit Beginn des Lese- und Schreiblehrgangs zum Ausbruch kommt.“ Sie
meint, dass in der Schule der Schaden einklagbar werden muss, „wenn
Lehrer beim Unterricht im Lesen oder Schreiben Kunstfehler begehen,
sodass die Kinder in eine falsche Lese- oder Schreibstrategie
hineinrutschen und den Schulunfall Legasthenie erleiden.“ Ich teile
ihre Ansicht nicht ganz, bin jedoch ebenfalls der Meinung, dass eine
Professionalisierung des schulischen Umgangs mit
teilleistungsschwachen Kindern dringend Not tut, deren Probleme von
der Schule, die ihre Mitbeteiligung kaum reflektiert, zu Unrecht
individualisiert werden. Es ist für mich unverständlich, dass sich
entgegen anderslautenden (oft nicht weitergeleiteten!) Erlässen
falsche Unterrichtsstrategien wie zB vergleichendes
Rechtschriebtraining hartnäckig halten, dass es noch immer Aufsätze
gibt, die entgegen dem geltenden Schulunterrichtsgesetz, alleine
wegen mangelnder Rechtschreibleistung (diese ist das letztgereihte
von vier Bewertungskriterien!) negativ beurteilt werden, dass Kinder
keine Möglichkeit erhalten ihre Schwächen durch Stärken in andern
Teilbereichen (z.B. Referate, Projektarbeiten etc.) auszugleichen. –
Ich merke ich bin hier sehr leidenschaftlich und auch böse, habe ich
doch sehen müssen, wie fachlich inkompetent vor allem aber wie
lieblos und demütigend Kinder mit diagnostizierten
Teilleistungsschwächen oft von ihren Lehrern behandelt werden!
|