www.personcentered.net

Inhaltsverzeichnis

Personzentrierte Beratung mit geistig behinderten Menschen

nächste Seite

5. Wie sieht es nun...
... in der Praxis aus?

Ein paar, zuerst unkommentierte...
...kritische Stimmen:

Damit Menschen mit einer geistigen Behinderung für Beratungen / Therapien in Frage kommen, muss eine ausreichende intellektuelle Eignung vorliegen, da eine Veränderung durch Beratung / Therapie von der Lernfähigkeit abhängig ist. Das bedeutet, dass die Beratung nur bei Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung und einem höheren Niveau anwendbar sein soll.

Ebenso sollte bei den Klienten ausreichend die Möglichkeit gegeben sein, eine zwischenmenschliche Beziehung aufzubauen. Dies würde psychotische und autistische Menschen mit einer geistigen Behinderung und Menschen mit gestörten Objektbeziehungen, ebenso Kinder mit frühkindlichen traumatischen Erfahrungen ausschließen.

Für eine Beratung / Therapie muss bei den Klienten eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit vorliegen.

Oft werden auch grundsätzliche Bedenken gegen eine Beratung / Therapie mit geistig behinderten Menschen angemeldet und die Meinung vertreten, man solle sie „akzeptieren anstatt therapieren“

Aus personzentrierter Sicht jedoch sind Beratung / Therapie und Akzeptieren kein Widerspruch. Im Gegenteil: Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, wird als Grundvoraussetzung für den therapeutischen Prozess betrachtet.
Was die anderen kritischen Stimmen betrifft, so ist in vielen Erfahrungsberichten beschrieben worden, dass Beratung / Therapie mit modifizierten Methoden (z.B. Prouty’s „Prä-Therapie“) auch bei Menschen mit geringen intellektuellen Fähigkeiten einsetzbar ist. Außerdem hat Prouty unter anderem auch gezeigt, dass mit prätherapeutischen Methoden auch bei Menschen mit starken (psychotischen) Kontaktstörungen therapeutisches Handeln sehr wohl möglich ist.
Was die Sprachfähigkeit eines schwer geistig behinderten Menschen betrifft, so kann ich nicht abstreiten, dass beispielsweise für eine Gesprächstherapie ein zumindest geringfügiges Ausmaß an passiver und aktiver Sprachfähigkeit vorhanden sein muss, will man noch von einer Form von Gesprächstherapie sprechen. Aber die Sprachfähigkeit muss nicht sehr hoch sein, will man einfach nur von einem Bearbeiten von Emotionen sprechen.
Wie aus dem Obenstehenden hervorgeht stimme ich nicht damit überein, dass personzentrierte Beratung lediglich bei Menschen mit leichten bis geringen geistigen Behinderungen anwendbar ist. Berater und Therapeuten die sich dieser interessanten und spannenden Aufgabe stellen, werden allerdings schnell feststellen, dass einige Einschränkungen und Änderungen in der Therapieform gegenüber anderen Klienten zu beachten sind.

So muss im Gespräch mit einem Menschen, dessen Sprachfähigkeit eingeschränkt ist, der eigene Wortsschatz möglichst fein auf dessen Sprachmerkmal abgestimmt werden. Das bedeutet beispielsweise, dass das Paraphrasieren – „das vom Klienten soeben Gesagte mit anderen Worten formulieren“ – sehr wenig oder gar nicht angewendet werden soll, da die Gefahr besteht, dass der Klient es nicht versteht. Ich greife oft darauf zurück und gebe dem Klienten genau das zurück – in seinen Worten – was ich eben verstanden habe.

Sind Fragen nötig, müssen diese sehr konkret formuliert werden. Die Frage, ob der Klient meint, dass ihre Gruppenmitglieder sie nicht gern haben, kann bereits zu vage sein, und es wäre in diesem Fall besser konkrete Namen zu nennen.

„Warum – Fragen“ sind oft unbeantwortbar und haben eine hemmende Wirkung in Bezug auf Gefühlsäußerungen und sollten also so wenig wie möglich gestellt werden.

Die Sitzungen müssen im allgemeinen kürzer sein, als bei Menschen ohne geistige Behinderung. 15 bis 20 Minuten sind ohne weiteres üblich, eine Sitzung von mehr als 30 Minuten kann unter Umständen schon zu lang sein. Zum einen kann das damit zusammenhängen, dass bei Menschen mit einer geistigen Behinderung die Schwelle für das Äußern heftiger Emotionen niedriger liegt, also das sie diesbezüglich weniger gehemmt sind. Zum anderen kann es, wenigstens für einige von ihnen, ungewohnt sein, gemeinsam mit einer anderen Person bei ihren Gefühlen und ihrem eigenen Erleben zu verweilen, so dass die Aufmerksamkeitsspanne, die in der Regel kürzer ist, in dieser Hinsicht seine Grenzen hat.

Auch ist bei vielen Menschen mit geistiger Behinderung eine verzögerte Reaktion beobachtbar. Das heißt, ihnen fällt etwas erst später ein, bzw. die Verarbeitung von eben gehörtem benötigt eine größere Zeitspanne um bearbeitet und verstanden zu werden.

Förderliche Bedingungen ...
... im Alltag

Bei Menschen mit geistiger Behinderung im Allgemeinen und ganz besonders bei solchen mit schweren Verhaltensauffälligkeiten ist es wichtig, dass die Beratung /Therapie nicht in einem zu großen Gegensatz zu ihrem Alltag steht. Ein Klima, welches Menschen mit geistiger Behinderung als eigenständige Persönlichkeiten akzeptiert und fördert, ist auch im Alltag unerlässlich, damit ihre innere Isolation und damit ihre Verhaltensauffälligkeiten nicht - wenn auch weder bewusst noch mit Absicht - weiter verstärkt werden.

Menschen mit geistiger Behinderung sind überfordert, wenn das, was sich im Verlauf der Therapie entwickelt und das, was in ihrem Umfeld verlangt oder toleriert wird, zu weit auseinander klafft. Berater / Therapeut und Bezugspersonen dürfen auf keinen Fall gegeneinander arbeiten, denn es sind immer die behinderten Menschen, die es ausbaden müssen und die darunter leiden. Deshalb ist ein gelegentlicher Erfahrungsaustausch mit den Bezugspersonen wünschenswert und notwendig, zugleich aber muss unbedingt die Vertraulichkeit der Therapiestunde gewahrt bleiben. Das ist eine heikle Balance, die vom Berater / Therapeuten Subtilität, Transparenz und klares Differenzieren erfordert. Er muss einerseits den Bezugspersonen beratend beistehen und bei ihnen Verständnis wecken für seine Arbeit und für den Entwicklungsprozess des Klienten, andererseits aber auch über die Realität ihres Alltags Bescheid wissen und sich - genau wie beim Klienten - in ihre Situation einfühlen können und sie ernst nehmen.

Günstig sind die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit Mitarbeitern von Institutionen, in denen auf personzentrierter Grundlage gearbeitet wird.

Auch im Alltag müssen behinderte Menschen ernst genommen werden in ihrer ganz persönlichen Art und Weise sich auszudrücken , selbst wenn sie bizarr und unverständlich erscheinen mag: Für den betreffenden Menschen hat sie einen Sinn. Schon allein das Bemühen um Verstehen - auch wenn es oft nicht gelingt - verändert die Haltung der Bezugspersonen in einer Art und Weise, die für den anderen Menschen spürbar und entscheidend ist.

Auch im Alltag muss Eigenständigkeit, wo immer dies möglich ist, unterstützt und gefördert, müssen Wahlmöglichkeiten geboten werden, selbst wenn es sich von außen gesehen um belanglose Nebensächlichkeiten zu handeln scheint: Für das Selbstwertgefühl und Wohlbefinden des betreffenden Menschen sind sie von Bedeutung. Es macht etwas aus, ob jemand selbst entscheiden kann, wo sein Rollstuhl hingestellt werden soll. Es hebt die Menschenwürde, wenn jemand, der nicht allein zur Toilette gehen kann, gefragt wird: "Ist es recht, wenn ich Sie/Dich jetzt zur Toilette bringe?" Es ist ein anderes Lebensgefühl für einen Menschen, wenn in seiner Anwesenheit nicht über ihn, sondern mit ihm gesprochen wird. Auch für Menschen, die selber nicht sprechen können, bedeutet es etwas, gefragt zu werden, sie spüren die Haltung, die dahinter steht, spüren, ob sie ernst genommen werden oder ob einfach über sie verfügt wird. Und wenn jemand für Sprache überhaupt nicht zugänglich ist (was selten vorkommt), kann eine solche Frage bzw. die Bereitschaft ihn mit entscheiden zu lassen, auch mit Gesten ausgedrückt werden.

Auch für den Alltag gilt: Nicht was fehlt, ist entscheidend, sondern was da ist. Nicht nur auf die Defizite zu starren, auf das, was behinderte Menschen nicht können oder falsch machen, sondern ihre Ressourcen zu entdecken, die vielleicht winzig kleinen Schritte, die ihnen manchmal gelingen, gebührend zu beachten und zu ermutigen trägt nicht nur entscheidend zur Verbesserung ihrer Lebensqualität bei, sondern macht auch die Arbeit der betreuenden Personen wesentlich interessanter und befriedigender.

Jörg Fengler bringt diesen Aspekt mit einem treffenden Bild zum Ausdruck: "Ressourcen-Orientierung hat unmittelbar mit Psychohygiene zu tun. Wer als Therapeut den Therapieverlauf als Entwicklung und Entfaltung von Möglichkeiten betrachtet und sich selbst entsprechend als Gärtner sieht oder als Heger, oder als jemand, der ein kostbares Geschenk auspackt, also auswickelt oder entwickelt, wird gewiss von einem anderen Lebensgefühl dabei geleitet sein als jemand, der eine Behinderung mit psychologischen Techniken bekämpft. Denn dieser letztere befindet sich im Krieg" (FENGLER 1996, 131).

Ich meine, dass nicht nur Berater und Therapeuten sich an diesen Satz halten sollten, sondern alle, die in irgendeiner Weise mit Menschen mit geistiger Behinderung zu tun haben.

Inhaltsverzeichnis

Personzentrierte Beratung mit geistig behinderten Menschen

nächste Seite