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Menschliches Sein aus Klientenzentrierter Sicht

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II.  Das Menschenbild der Klientenzentrierten Psychotherapie

Wie in der Hinführung schon angedeutet wurde, hat Rogers seine Persönlichkeitstheorie und sein psychotherapeutisches Konzept aus seinen Grundüberzeugungen anhand der Praxis  entwickelt.

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Bedeutung des Menschenbildes  in der Psychotherapie, sowie der etymologischen Betrachtung vom Begriff „Person“. Zudem sollen in  einem theologischen und philosophischen Rückblick unterschiedliche Verstehensweisen vom Personsein erörtert werden. 

1.  Bedeutung vom Menschenbild in der Psychotherapie

Ein  Menschenbild formt sich aus Modellannahmen („basic beliefs“ – Glaubensannahmen), die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Ist der Mensch gut oder böse? Hat er einen freien Willen oder ist er determiniert?

Diese und ähnliche Fragen finden auf dem Boden des jeweiligen Menschenbildes Antworten, die als Grundlage für unser praktisches Tun und unser theoretisches Forschen Voraussetzungen bilden. Ohne klares Bild vom Menschen würde es kaum eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Tun geben.

Auch wenn vom „Bild“ des Menschen die Rede ist, so zeigt sich in C. Rogers’ Vorstellung, dass die Grundbewegung des Menschen ein dynamisches- und prozesshaftes Geschehen ist. In dem dynamischen Menschenbild sind das Fließen und die Offenheit wichtige Merkmale, die das Leben in Richtung Freiheit und Verantwortung lenken.

C. Rogers hat im Zusammenspiel verschiedenster Einflüsse Grundüberzeugungen vom Menschen gewonnen, die für ihn verbindlich sind und seinen Umgang mit Menschen bestimmen.

Der Klientenzentrierte Ansatz geht explizit von einem Menschenbild aus. Psychotherapeutische Theorie und Praxis sind die Konsequenz der klientenzentrierten Anthropologie, die von der abendländischen Tradition bestimmt ist und in der die Person im Mittelpunkt steht.

2.  Etymologie vom Wort: „Person“

Dieser Abschnitt behandelt den Begriff Person im individualistischen Verständnis  und die damit verknüpfte Relation zum Gegenüber aus theologischer und philosophischer Sicht, um im geschichtlichen Kontext die personale Anthropologie von C. Rogers zu verstehen.

Vielleicht kann die etymologische Betrachtung vom Begriff „Person“ mehr an Klarheit zum Personverständnis beitragen. 

Die etymologische Klärung des Wortes Person ist nicht eindeutig. Eine Erklärung deutet auf das griechische Wort „pherson“ hin. Damit verbunden ist die Maske bzw. das Abbild eines Unterweltgottes, der zugleich Erd- und Totenreich vereint.

Ein weiterer Erklärungsansatz leitet „persona“ vom griechischen „prosopon“ ab, das vermutlich mit Antlitz, Gesicht zu übersetzen ist. Im Laufe der Geschichte hat sich das Wort  „prosopon“ mit dem Wort Maske verknüpft und meint jene Maske, die der Schauspieler trägt, die nicht verheimlicht, sondern Wesentliches verdeutlicht.

Neben diesen beiden Erklärungsansätzen werden ab dem Mittelalter die Definitionen „per se unum“ (durch sich selbst einigende und geeinte Einheit) und „per-sonare“ (hindurchtönen) verwendet. 

  • Die Trinitätsfrage

Der Begriff der Person stammt aus der Theologie, da im Rahmen der christologischen und trinitarischen Diskussion des 4. und 5. Jahrhunderts das Verhältnis von Vater – Sohn – Heiliger Geist erörtert wird. Das Zweite Konstantinische Konzil 553 definiert Vater – Sohn – Geist als Träger einer Natur in drei Personen.

Neben der völligen Gleichrangigkeit, die in dieser Definition steckt,  rückt der Personbegriff in das Interesse der Auseinandersetzung.

Wichtige Fragen zum Verhältnis Person und Umwelt drücken sich aus. Gibt es die menschliche Person aus sich selbst heraus? Gibt es die menschliche Person ohne Beziehung zu einem Gegenüber?

Im Laufe der Geschichte bilden sich zwei Sichtweisen heraus, die einerseits die Person als Einzelwesen betonen und andererseits das Wesen der Beziehung als wahres Personsein hervorheben. Ich möchte in weiterer Folge exemplarisch Vertreter der unterschiedlichen Ansätze skizzieren, um damit die Sichtweisen und Zugänge zur Person zu erweitern! 

3. Person als inneres Sein 

3.1.  Boethius

Als erster hat der Theologe Boethius (480–525) die Person als „die unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens“ und als solches als „selbst–stehendes“ Einzelwesen definiert. Die Person ist nach Boethius ein ungeteiltes und unteilbares (Individuum) Einzelwesen, das für sich sein kann. In dieser Selbständigkeit betont der Theologe die „für sich stehende Wirklichkeit“ (gr.:„hypostasis“) als Wesen der Person und grenzt sich damit vom bloßen Schein ab. Person zielt auf das Wirkliche im Gegensatz zum Anschein. 

3.2.  Thomas von Aquin

Thomas von Aquin (1225 – 1274) verändert diesen ontologisch–statischen Zugang zu einem aktiven „sich in Relation setzen zu seinem Sein“. Der Personbegriff wird neben dem Wesen an sich mit der ontologischen Dynamik des Seins vervollständigt. Das Personsein entsteht aus dem Sein und verweist auf das „Bei-sich-sein“ und dem „Aus-sich-selbst-Sein“. Die Person richtet sich aus  dem „tragenden Grund seines Sein“ auf. Da das Sein nach Thomas von Aquin  seines Seins selbst mächtig ist und durch Vernunft sich selbst versteht, ist der Mensch Person.

3.3  Immanuel Kant

Die durch Vernunft charakterisierte Person hat auch nach Immanuel Kant (1724-1804) die Fähigkeit sich seiner bewusst zu sein. Dieses Selbstbewusstsein verknüpft er mit sittlichen Kategorien, da er dem vernünftigen Wesen die Freiheit zutraut, dass sich die Person nur seinen sich selbst gebenden Gesetzen unterwirft. Die Freiheit und das sittliche Gesetz, das letztlich nur in Freiheit erkannt werden kann, konstituieren die Würde der Person. Kant schützt die Person in besonders eindringlicher Form: „In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst.“[1] 

3.4  Sören Kierkegaard

In der Tradition der Existentialisten wird die Entscheidung, das eigene Sein zu wählen, der bewusste Akt des Personwerdens. Sören Kierkegaard sieht die Grundsituation des Menschen im Abgrund, Tod und Angst charakterisiert. Er fordert den Menschen auf, es zu wagen sich als Person auf sein Leben - auf sein Sein - in dieser Welt einzulassen. Die Freiheit des Menschen ist, sich zu wählen und den einzigen Ausweg aus der Verzweiflung zu finden, indem man  danach trachtet „das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist.“

 3.5  Martin Heidegger

Martin Heidegger möchte anhand der Dimension des Seins des Menschen, das er in den Vordergrund seiner Betrachtung rückt, von der Erscheinung des Seins „zum Sinn von Sein“ vordringen. Da der Mensch nach dem Sinn des Daseins fragen kann, erschließt sich der Mensch einen Weg in diese Welt. Heidegger meint aber keine objektive Welt, die dem Menschen gegenüber steht, sondern eine Welt, die sich erst aus persönlichen Fragen heraus konstituiert und immer individuell sein wird.

Unter dem Begriff Existenz versteht M. Heidegger das „Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält“.[2]

In diese Existenz ist der Mensch hineingeworfen und vom Beginn seines Seins an mit dem Tod und der Angst vor dem Tod konfrontiert. Dennoch liegt in dieser Angst die Freiheit des Menschen, der sich dieser Angst nicht ausliefern muss, sondern sich durch aktive Entscheidungen begegnen kann. „In diesem Spielraum des Sich-Stellens oder In-den-Alltag-Fliehens begegnet der Mensch seiner Freiheit.“[3] 

3.6  Karl Jaspers

Karl Jaspers, ein Freund von Martin Heidegger, drückt diesen Sprung sich selbst zu wählen – den Sprung zu mir – als „existenzielle Wahl“ aus. Auf der Suche nach sich selbst kommt der Mensch in Grenzsituationen, die diesen Sprung zu sich selbst erfordern.

Dennoch betont Jaspers auch die Mitmenschlichkeit und die Möglichkeit der Kommunikation als bedeutsame Merkmale des Personseins.

4. Person als Relationalität 

Je weiter die Philosophiegeschichte voranschreitet und sich der Gegenwart annähert, desto differenzierter wird der Begriff Person erörtert. Eine klare Trennung zwischen den unterschiedlichen Zugängen zum Begriff Person wird immer schwieriger.

In diesem Abschnitt möchte ich die Tradition, in der das Wesen der Person aus ihrer Beziehungsorientiertheit und dem Angewiesensein kommt, aufzeigen. 

4.1 Augustinus

Auch das relationale Personverständnis wurzelt im 4. und 5. Jahrhundert in der Trinitätsfrage,  wobei Augustinus festhält, dass der Vater nur in Bezug auf den Sohn Vater sei und umgekehrt. Gottes Sein ist reines Bezogensein, nur in diesem Sein zu etwas ist Beziehung möglich.

Für Augustinus findet sich der Mensch nur dann, wenn er Gott findet, da Gott immer näher ist als der Mensch sich selbst. Nur im Dialog mit Gott kann die Person sich selbst begreifen. Der Mensch ist so geschaffen, dass er nur in personaler Relation – im Verhältnis vom Ich zum Du -  ganz er selbst werden kann.  

4.2 Ludwig Feuerbach

Ludwig Feuerbach orientiert sich an den Aussagen von Augustinus, entnimmt den theologischen Aussagen den anthropologischen Gehalt und bündelt sein Grundverständnis vom Menschen, indem er die Dynamik vom Ich zum Du als Grundverhältnis und Grunddynamik des Menschen  hervorstreicht. Personsein ist lebendige Beziehung zwischen Ich und Du. 

4.3 Martin Buber

Besonders die Strömung des Personalismus im 18. Jahrhundert befasst sich eindringlich mit der Würde des Menschen, die der Person aufgrund ihrer unveräußerlichen Rechte und ihrer transzendenten Ausrichtung grundgelegt ist.

Diese Strömung kann als Antwort auf die individualistische Fixiertheit des Menschen in der Zeit der Aufklärung, sowie auf die kollektivistische Verschwommenheit des Einzelnen im Marxismus gesehen werden. 

  • Mensch mit Menschen

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965), herausragender Vertreter des Personalismus argumentiert, dass „die fundamentale Tatsache der Existenz“ nicht der Mensch, sondern der „Mensch mit Menschen“ ist, „weder der Einzelne als solcher noch die Gesamtheit als solche“. „Beide, für sich betrachtet, sind nur mächtige Abstraktionen. Der Einzelne ist Tatsache der Existenz, sofern er zu anderen Einzelnen in Beziehung tritt.“[4]

Die Existenz des Menschen bedingt ein In-Beziehung-treten mit dem Du.

Die Verhältnisse des Menschen zur Welt, nämlich Distanzierung und Beziehung, bezeichnet M. Buber als die Grunddynamiken des Menschen. Er bündelt diese Beziehungsqualitäten mit den Wortpaaren: Ich-Es und Ich-Du.

  • Ich-Du / Ich-Es

Die Welt bleibt in der Ich-Es Beziehung ein passives Etwas, das sich erfahren lässt, aber nichts dazu tut. Wer hingegen die Welt als Ich-Du anspricht, der begegnet der Welt und tritt mit ihr in Beziehung. Das Du ist kein Gegenstand, der an andere Dinge grenzt und erfahrbare Eigenschaften aufweist, sondern es wird zur alles anderen ausschließenden Ganzheit, die durch Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit charakterisiert ist. „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie (...). Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme (...) Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung“.[5]

  • Begegnung

Begegnung, so wie sie M. Buber definiert, eröffnet eine neue Dimension der Welt, die nur den beiden am Beziehungsgeschehen beteiligten Menschen zugänglich ist und vom Wesen her im „Zwischen“[6] der beiden Personen passiert.

In diesem „Zwischen“ liegt die Kraft der Veränderung, da der Mensch darin die Vergegenwärtigung gegenseitiger Akzeptanz und Bejahung erfährt. „In seinem Sein bestätigt, will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des anderen eine Gegenwart haben“.[7]  

5.     Der Klientenzentrierte Personbegriff 

Welche Bedeutung haben die angeführten Traditionen des Personbegriffs für die Klientenzentrierte Psychotherapie? Diese Frage soll im Weiteren beantwortet werden. 

  • Selbständigkeit und Angewiesensein

Das klientenzentrierte Verständnis vom Personbegriff steht im Spannungsfeld der angeführten Traditionen des Personseins. Die Person existiert in Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit, sowie einer Beziehungsoffenheit und einem Angewiesensein auf den anderen. Der Mensch ist von Anfang an die je eigene und unverwechselbare Person – Individuum -, und er ist von Anfang an auf personale Gemeinschaft angewiesen. Die Frage nach dem Selbst wird nur mit dem biographischen Hintergrund - dem „Woher“ -  vertieft werden können.  

Person bedeutet, dass der Mensch „gleichermaßen als unverwechselbar Selbständiger (individualistischer oder substantieller Aspekt am Personbegriff) und aus der liebenden Begegnung Gewordener und Werdender (relationaler Aspekt) zu begreifen ist. Seine Natur kann weder im Aus-sich-Sein und Für-sich-Sein allein, noch im Aus-der-Beziehung-Sein und In-Beziehung-Sein allein verstanden werden“[8]

P. Schmid sieht den Menschen in der Dialektik zwischen den Polen Souveränität – und damit Freiheit, Achtung und Würde der Person, ihre Unaustauschbarkeit, Leiblichkeit und Einzigartigkeit – und Engagement – und damit der grundlegenden Hinordnung des Menschen auf das Du, auf eine Gemeinschaft, Fähigkeit zum Dialog, zur Partnerschaft und Transzendenz, - als Person existieren. 

  • Spannungsfeld Therapie

Diese Spannung zwischen Selbständigkeit und Angewiesensein des Einzelnen zeigt sich im Besonderen im therapeutischen Prozess. Die Therapie schafft Raum, in der das personale Beziehungsangebot des Therapeuten auf dem Boden von Authentizität, Einfühlsamkeit und Wertschätzung das Gegenüber, eben zu dieser personalen Beziehung wachruft und “zum Vorschein bringt, was schon angelegt war, aber der Beziehung bedurfte, es zu wecken und zu (neuem) Wachstum anzuregen.“[9] 

In der konkreten Arbeit mit dem Klienten Anton I. (siehe Praxisteil), wird für mich die Spannung zwischen Selbständigkeit und doch auch Angewiesensein auf das Gegenüber sehr deutlich. Ich erlebe den Klienten in einer einsamen Welt, mit wenig Möglichkeiten Beziehung zu leben, obwohl der Wunsch nach Beziehung spürbar ist. Auch als Therapeut erlebe ich mich in der Spannung als Spezialist aufzutreten und mich in meine Persönlichkeit zurückzuziehen, oder den Schritt zum Klienten zu wagen und in meiner Unsicherheit und Ängstlichkeit da zu sein. 

Auf diesem Hintergrund verstehe ich mein therapeutisches Angebot, als Bemühen in einer Atmosphäre von Wertschätzung, die Welt des Klienten näher zu begreifen. Gleichzeitig bin ich als Persönlichkeit gefordert, in der Beziehung da zu sein. Dieses Dasein erlebe ich im therapeutischen Prozess oft sehr mühsam und verwirrend, da die Dynamik der Annäherung und  des Zurückweichens herausfordernd ist.

Es stellt sich die Frage, wie die philosophischen Zugänge zur Person mit dem praktischen psychotherapeutischen Arbeiten zusammenhängen? Nach meinem Empfinden leuchtet der philosophische Hintergrund auf einer abstrakten Ebene den therapeutischen Raum aus. Psychotherapie findet auf konstruiertem Boden statt. Dieses Konstrukt wird mit dem philosophischen Hintergrund mit einer Fülle existenzieller  Bedeutungen  gefüllt.


[1] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

[2] Heidegger Martin, Sein und Zeit, 12

[3] Keil W., Grundlagen der klientenzentrierten Psychotherapie, 16f.

[4] Buber M., zit. Nach: Rogers C., Schmid., Person-zentriert, 66

[5] Buber M., Ich und Du, 78

[6] Buber M., Das Problem des Menschen, Heidelberg 1971, 167

[7] Buber M., zit. nach: Suter A., Menschenbild und Erziehung bei M. Buber und C. Rogers

[8] Schmid P., Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, 107f.

[9] P. Frenzel, W. Keil, P. Schmid, N. Stölzl, Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie, S.63

 

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