Wie in der Hinführung schon angedeutet wurde, hat
Rogers seine Persönlichkeitstheorie und sein psychotherapeutisches
Konzept aus seinen Grundüberzeugungen anhand der Praxis
entwickelt.
Der
folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Bedeutung des
Menschenbildes in der Psychotherapie, sowie der etymologischen
Betrachtung vom Begriff „Person“. Zudem sollen in einem
theologischen und philosophischen Rückblick unterschiedliche
Verstehensweisen vom Personsein erörtert werden.
Ein
Menschenbild formt sich aus Modellannahmen („basic beliefs“ –
Glaubensannahmen), die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Ist
der Mensch gut oder böse? Hat er einen freien Willen oder ist er
determiniert?
Diese und
ähnliche Fragen finden auf dem Boden des jeweiligen Menschenbildes
Antworten, die als Grundlage für unser praktisches Tun und unser
theoretisches Forschen Voraussetzungen bilden. Ohne klares Bild
vom Menschen würde es kaum eine kritische Auseinandersetzung mit
dem eigenen Denken und Tun geben.
Auch wenn vom
„Bild“ des Menschen die Rede ist, so zeigt sich in C. Rogers’
Vorstellung, dass die Grundbewegung des Menschen ein dynamisches-
und prozesshaftes Geschehen ist. In dem dynamischen Menschenbild
sind das Fließen und die Offenheit wichtige Merkmale, die das
Leben in Richtung Freiheit und Verantwortung lenken.
C. Rogers hat
im Zusammenspiel verschiedenster Einflüsse Grundüberzeugungen vom
Menschen gewonnen, die für ihn verbindlich sind und seinen Umgang
mit Menschen bestimmen.
Der
Klientenzentrierte Ansatz geht explizit von einem Menschenbild
aus. Psychotherapeutische Theorie und Praxis sind die Konsequenz
der klientenzentrierten Anthropologie, die von der abendländischen
Tradition bestimmt ist und in der die Person im Mittelpunkt steht.
Dieser Abschnitt behandelt den Begriff Person im
individualistischen Verständnis und die damit verknüpfte Relation
zum Gegenüber aus theologischer und philosophischer Sicht, um im
geschichtlichen Kontext die personale Anthropologie von C. Rogers
zu verstehen.
Vielleicht kann die etymologische Betrachtung vom
Begriff „Person“ mehr an Klarheit zum Personverständnis
beitragen.
Die
etymologische Klärung des Wortes Person ist nicht eindeutig. Eine
Erklärung deutet auf das griechische Wort „pherson“ hin. Damit
verbunden ist die Maske bzw. das Abbild eines Unterweltgottes, der
zugleich Erd- und Totenreich vereint.
Ein weiterer
Erklärungsansatz leitet „persona“ vom griechischen „prosopon“ ab,
das vermutlich mit Antlitz, Gesicht zu übersetzen ist. Im Laufe
der Geschichte hat sich das Wort „prosopon“ mit dem Wort Maske
verknüpft und meint jene Maske, die der Schauspieler trägt, die
nicht verheimlicht, sondern Wesentliches verdeutlicht.
Neben diesen
beiden Erklärungsansätzen werden ab dem Mittelalter die
Definitionen „per se unum“ (durch sich selbst einigende und
geeinte Einheit) und „per-sonare“ (hindurchtönen) verwendet.
Der Begriff
der Person stammt aus der Theologie, da im Rahmen der
christologischen und trinitarischen Diskussion des 4. und 5.
Jahrhunderts das Verhältnis von Vater – Sohn – Heiliger Geist
erörtert wird. Das Zweite Konstantinische Konzil 553 definiert
Vater – Sohn – Geist als Träger einer Natur in drei Personen.
Neben der
völligen Gleichrangigkeit, die in dieser Definition steckt, rückt
der Personbegriff in das Interesse der Auseinandersetzung.
Wichtige
Fragen zum Verhältnis Person und Umwelt drücken sich aus. Gibt es
die menschliche Person aus sich selbst heraus? Gibt es die
menschliche Person ohne Beziehung zu einem Gegenüber?
Im Laufe der Geschichte bilden sich zwei
Sichtweisen heraus, die einerseits die Person als Einzelwesen
betonen und andererseits das Wesen der Beziehung als wahres
Personsein hervorheben. Ich möchte in weiterer Folge exemplarisch
Vertreter der unterschiedlichen Ansätze skizzieren, um damit die
Sichtweisen und Zugänge zur Person zu erweitern!
Als erster hat
der Theologe Boethius (480–525) die Person als „die unteilbare
Substanz eines vernünftigen Wesens“ und als solches als
„selbst–stehendes“ Einzelwesen definiert. Die Person ist nach
Boethius ein ungeteiltes und unteilbares (Individuum) Einzelwesen,
das für sich sein kann. In dieser Selbständigkeit betont der
Theologe die „für sich stehende Wirklichkeit“ (gr.:„hypostasis“)
als Wesen der Person und grenzt sich damit vom bloßen Schein ab.
Person zielt auf das Wirkliche im Gegensatz zum Anschein.
Thomas von
Aquin (1225 – 1274) verändert diesen ontologisch–statischen Zugang
zu einem aktiven „sich in Relation setzen zu seinem Sein“. Der
Personbegriff wird neben dem Wesen an sich mit der ontologischen
Dynamik des Seins vervollständigt. Das Personsein entsteht aus dem
Sein und verweist auf das „Bei-sich-sein“ und dem „Aus-sich-selbst-Sein“.
Die Person richtet sich aus dem „tragenden Grund seines Sein“
auf. Da das Sein nach Thomas von Aquin seines Seins selbst
mächtig ist und durch Vernunft sich selbst versteht, ist der
Mensch Person.
Die durch
Vernunft charakterisierte Person hat auch nach Immanuel Kant
(1724-1804) die Fähigkeit sich seiner bewusst zu sein. Dieses
Selbstbewusstsein verknüpft er mit sittlichen Kategorien, da er
dem vernünftigen Wesen die Freiheit zutraut, dass sich die Person
nur seinen sich selbst gebenden Gesetzen unterwirft. Die Freiheit
und das sittliche Gesetz, das letztlich nur in Freiheit erkannt
werden kann, konstituieren die Würde der Person. Kant schützt die
Person in besonders eindringlicher Form: „In der ganzen Schöpfung
kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß
als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes
vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst.“
In der
Tradition der Existentialisten wird die Entscheidung, das eigene
Sein zu wählen, der bewusste Akt des Personwerdens. Sören
Kierkegaard sieht die Grundsituation des Menschen im Abgrund, Tod
und Angst charakterisiert. Er fordert den Menschen auf, es zu
wagen sich als Person auf sein Leben - auf sein Sein - in dieser
Welt einzulassen. Die Freiheit des Menschen ist, sich zu wählen
und den einzigen Ausweg aus der Verzweiflung zu finden, indem man
danach trachtet „das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist.“
Martin
Heidegger möchte anhand der Dimension des Seins des Menschen, das
er in den Vordergrund seiner Betrachtung rückt, von der
Erscheinung des Seins „zum Sinn von Sein“ vordringen. Da der
Mensch nach dem Sinn des Daseins fragen kann, erschließt sich der
Mensch einen Weg in diese Welt. Heidegger meint aber keine
objektive Welt, die dem Menschen gegenüber steht, sondern eine
Welt, die sich erst aus persönlichen Fragen heraus konstituiert
und immer individuell sein wird.
Unter dem
Begriff Existenz versteht M. Heidegger das „Sein selbst, zu dem
das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie
verhält“.
In diese
Existenz ist der Mensch hineingeworfen und vom Beginn seines Seins
an mit dem Tod und der Angst vor dem Tod konfrontiert. Dennoch
liegt in dieser Angst die Freiheit des Menschen, der sich dieser
Angst nicht ausliefern muss, sondern sich durch aktive
Entscheidungen begegnen kann. „In diesem Spielraum des
Sich-Stellens oder In-den-Alltag-Fliehens begegnet der Mensch
seiner Freiheit.“
Karl Jaspers,
ein Freund von Martin Heidegger, drückt diesen Sprung sich selbst
zu wählen – den Sprung zu mir – als „existenzielle Wahl“ aus. Auf
der Suche nach sich selbst kommt der Mensch in Grenzsituationen,
die diesen Sprung zu sich selbst erfordern.
Dennoch betont
Jaspers auch die Mitmenschlichkeit und die Möglichkeit der
Kommunikation als bedeutsame Merkmale des Personseins.
Je weiter die Philosophiegeschichte voranschreitet
und sich der Gegenwart annähert, desto differenzierter wird der
Begriff Person erörtert. Eine klare Trennung zwischen den
unterschiedlichen Zugängen zum Begriff Person wird immer
schwieriger.
In diesem Abschnitt möchte ich die Tradition, in
der das Wesen der Person aus ihrer Beziehungsorientiertheit und
dem Angewiesensein kommt, aufzeigen.
Auch das
relationale Personverständnis wurzelt im 4. und 5. Jahrhundert in
der Trinitätsfrage, wobei Augustinus festhält, dass der Vater nur
in Bezug auf den Sohn Vater sei und umgekehrt. Gottes Sein ist
reines Bezogensein, nur in diesem Sein zu etwas ist Beziehung
möglich.
Für Augustinus
findet sich der Mensch nur dann, wenn er Gott findet, da Gott
immer näher ist als der Mensch sich selbst. Nur im Dialog mit Gott
kann die Person sich selbst begreifen. Der Mensch ist so
geschaffen, dass er nur in personaler Relation – im Verhältnis vom
Ich zum Du - ganz er selbst werden kann.
Ludwig
Feuerbach orientiert sich an den Aussagen von Augustinus, entnimmt
den theologischen Aussagen den anthropologischen Gehalt und
bündelt sein Grundverständnis vom Menschen, indem er die Dynamik
vom Ich zum Du als Grundverhältnis und Grunddynamik des Menschen
hervorstreicht. Personsein ist lebendige Beziehung zwischen Ich
und Du.
Besonders die
Strömung des Personalismus im 18. Jahrhundert befasst sich
eindringlich mit der Würde des Menschen, die der Person aufgrund
ihrer unveräußerlichen Rechte und ihrer transzendenten Ausrichtung
grundgelegt ist.
Diese Strömung
kann als Antwort auf die individualistische Fixiertheit des
Menschen in der Zeit der Aufklärung, sowie auf die
kollektivistische Verschwommenheit des Einzelnen im Marxismus
gesehen werden.
Der jüdische
Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965), herausragender
Vertreter des Personalismus argumentiert, dass „die fundamentale
Tatsache der Existenz“ nicht der Mensch, sondern der „Mensch mit
Menschen“ ist, „weder der Einzelne als solcher noch die Gesamtheit
als solche“. „Beide, für sich betrachtet, sind nur mächtige
Abstraktionen. Der Einzelne ist Tatsache der Existenz, sofern er
zu anderen Einzelnen in Beziehung tritt.“
Die Existenz
des Menschen bedingt ein In-Beziehung-treten mit dem Du.
Die
Verhältnisse des Menschen zur Welt, nämlich Distanzierung und
Beziehung, bezeichnet M. Buber als die Grunddynamiken des
Menschen. Er bündelt diese Beziehungsqualitäten mit den
Wortpaaren: Ich-Es und Ich-Du.
Die Welt
bleibt in der Ich-Es Beziehung ein passives Etwas, das sich
erfahren lässt, aber nichts dazu tut. Wer hingegen die Welt als
Ich-Du anspricht, der begegnet der Welt und tritt mit ihr in
Beziehung. Das Du ist kein Gegenstand, der an andere Dinge grenzt
und erfahrbare Eigenschaften aufweist, sondern es wird zur alles
anderen ausschließenden Ganzheit, die durch Unmittelbarkeit und
Gegenwärtigkeit charakterisiert ist. „Die Beziehung zum Du ist
unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein
Vorwissen und keine Phantasie (...). Zwischen Ich und Du steht
kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme (...) Alles Mittel
ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht
Begegnung“.
Begegnung, so
wie sie M. Buber definiert, eröffnet eine neue Dimension der Welt,
die nur den beiden am Beziehungsgeschehen beteiligten Menschen
zugänglich ist und vom Wesen her im „Zwischen“
der beiden Personen passiert.
In diesem
„Zwischen“ liegt die Kraft der Veränderung, da der Mensch darin
die Vergegenwärtigung gegenseitiger Akzeptanz und Bejahung
erfährt. „In seinem Sein bestätigt, will der Mensch durch den
Menschen werden und will im Sein des anderen eine Gegenwart
haben“.
Welche
Bedeutung haben die angeführten Traditionen des Personbegriffs für
die Klientenzentrierte Psychotherapie? Diese Frage soll im
Weiteren beantwortet werden.
-
Selbständigkeit und Angewiesensein
Das
klientenzentrierte Verständnis vom Personbegriff steht im
Spannungsfeld der angeführten Traditionen des Personseins. Die
Person existiert in Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit, sowie
einer Beziehungsoffenheit und einem Angewiesensein auf den
anderen. Der Mensch ist von Anfang an die je eigene und
unverwechselbare Person – Individuum -, und er ist von Anfang an
auf personale Gemeinschaft angewiesen. Die Frage nach dem Selbst
wird nur mit dem biographischen Hintergrund - dem „Woher“ -
vertieft werden können.
Person
bedeutet, dass der Mensch „gleichermaßen als unverwechselbar
Selbständiger (individualistischer oder substantieller Aspekt am
Personbegriff) und aus der liebenden Begegnung Gewordener und
Werdender (relationaler Aspekt) zu begreifen ist. Seine Natur kann
weder im Aus-sich-Sein und Für-sich-Sein allein, noch im
Aus-der-Beziehung-Sein und In-Beziehung-Sein allein verstanden
werden“.
P. Schmid
sieht den Menschen in der Dialektik zwischen den Polen
Souveränität – und damit Freiheit, Achtung und Würde der Person,
ihre Unaustauschbarkeit, Leiblichkeit und Einzigartigkeit – und
Engagement – und damit der grundlegenden Hinordnung des Menschen
auf das Du, auf eine Gemeinschaft, Fähigkeit zum Dialog, zur
Partnerschaft und Transzendenz, - als Person existieren.
Diese Spannung
zwischen Selbständigkeit und Angewiesensein des Einzelnen zeigt
sich im Besonderen im therapeutischen Prozess. Die Therapie
schafft Raum, in der das personale Beziehungsangebot des
Therapeuten auf dem Boden von Authentizität, Einfühlsamkeit und
Wertschätzung das Gegenüber, eben zu dieser personalen Beziehung
wachruft und “zum Vorschein bringt, was schon angelegt war, aber
der Beziehung bedurfte, es zu wecken und zu (neuem) Wachstum
anzuregen.“
In der konkreten
Arbeit mit dem Klienten Anton I. (siehe Praxisteil), wird für mich
die Spannung zwischen Selbständigkeit und doch auch Angewiesensein
auf das Gegenüber sehr deutlich. Ich erlebe den Klienten in einer
einsamen Welt, mit wenig Möglichkeiten Beziehung zu leben, obwohl
der Wunsch nach Beziehung spürbar ist. Auch als Therapeut erlebe
ich mich in der Spannung als Spezialist aufzutreten und mich in
meine Persönlichkeit zurückzuziehen, oder den Schritt zum Klienten
zu wagen und in meiner Unsicherheit und Ängstlichkeit da zu sein.
Auf diesem
Hintergrund verstehe ich mein therapeutisches Angebot, als Bemühen
in einer Atmosphäre von Wertschätzung, die Welt des Klienten näher
zu begreifen. Gleichzeitig bin ich als Persönlichkeit gefordert,
in der Beziehung da zu sein. Dieses Dasein erlebe ich im
therapeutischen Prozess oft sehr mühsam und verwirrend, da die
Dynamik der Annäherung und des Zurückweichens herausfordernd ist.
Es stellt sich die
Frage, wie die philosophischen Zugänge zur Person mit dem
praktischen psychotherapeutischen Arbeiten zusammenhängen? Nach
meinem Empfinden leuchtet der philosophische Hintergrund auf einer
abstrakten Ebene den therapeutischen Raum aus. Psychotherapie
findet auf konstruiertem Boden statt. Dieses Konstrukt wird mit
dem philosophischen Hintergrund mit einer Fülle existenzieller
Bedeutungen gefüllt.