Die Anthropologie von C. Rogers hat sich aus
verschiedenen und unterschiedlichen Einflüssen geformt. Im
folgenden Abschnitt führe ich wichtige Elemente des sich
entwickelnden Menschenbildes von C. Rogers an.
Carl Ranson
Rogers wird 1902 in Oak Parks, USA, geboren und wächst zusammen
mit vier Brüdern und einer Schwester in einem wohl behüteten
Elternhaus auf, das von tiefer Religiosität geprägt ist. In der
Atmosphäre des autoritären protestantischen Calvinismus stehen
schwere Arbeit, die Verinnerlichung und das Gebet im Zentrum des
familiären Lebens.
Carl Rogers
schreibt über seine Gefühle in dieser Zeit: „Wenn ich
zurückschaue, wird mir deutlich, dass mein Interesse an
Gesprächsführung und Therapie sicher zum Teil aus meiner frühen
Einsamkeit erwuchs. Hier war ein gesellschaftliche gebilligter
Weg, Menschen wirklich nahe zu kommen. Er stillte einen Teil des
Hungers, den ich zweifellos gefühlt hatte“.
Sein Interesse
am naturwissenschaftlichen Beobachten und Experimentieren leitet
ihn zum Studium im Bereich der Agrarwissenschaften an der
Universität von Wisconsin.
Nachdem er als
Sprecher einer Gruppe religiöser Jugendbetreuer der christlichen
Berufslaufbahn immer näher kommt, bildet eine Chinareise zu einer
christlichen Weltjugendkonferenz im Jahr 1921 den Boden, sein von
den Eltern geprägtes Weltbild in Richtung von mehr Toleranz und
Offenheit zu öffnen. Seine weitere, sehr fortschrittliche und
tolerante theologische Ausbildung emanzipiert ihn von seinen
Eltern und macht ihn als Persönlichkeit sicherer und unabhängiger.
Schließlich
wechselt er auf die pädagogische Hochschule mit den Schwerpunkten
Klinische Psychologie und Erziehungswissenschaften. Über seine
berufliche Motivation und den Abschied von der Theologie schreibt
er: „Dass die Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit
einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der einzelnen mich
wahrscheinlich immer interessieren würden, kannte ich. Ich konnte
jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem von mir verlangt
würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben. (...)
Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die
Freiheit der Gedanken ließ“.
Nach Abschluss
seines Studiums und der Erwerbung des Doktorates wird er 1929
Direktor der psychologischen Abteilung einer
Erziehungsberatungsstelle in Rogester und arbeitet dort bis 1939.
In dieser Zeit experimentiert er mit allen möglichen Formen
therapeutischer Beratungsmethoden, mit dem Wunsch möglichst
effizient mit seinen Klienten zu arbeiten.
In der
Folgezeit arbeitet er bis 1963 als Buchautor und Professor an den
Universitäten Ohio, Chicago und Wisconsin. Er formuliert in den
beiden Werken „Counseling and psychotherapie“(1942) und „Client-Centered
Therapy“(1951) seine Persönlichkeitstheorie und sein Verständnis
einer therapeutischen Beziehung.
In seinem
letzten Lebensabschnitt setzt er sich, wahrscheinlich auf Grund
des Todes seiner Frau Helen, erneut mit religiösen Fragen
auseinander. In dieser Phase hebt er die spirituelle Dimension des
Seins heraus. In Momenten tiefer Präsenz - im Spüren des
intuitiven Selbst-, transzendiert sich nach Rogers die Beziehung,
wird Teil von etwas Größerem und schafft Heilung.
Rogers hat
sich, wie aus der Biographie erkennbar wird, sehr grundsätzlich
mit dem christlichen Weltbild auseinandergesetzt, nicht nur aus
der Notwendigkeit der Abgrenzung von den elterlichen
Glaubensvorstellungen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit
den Existenzphilosophen. So meint etwa P. Schmid: „Kierkegaards
und Bubers Denken, um nur zwei >Gewährleute zu nennen<, auf die
sich Rogers so gerne beruft, sind ohne ihre tiefe Gottbezogenheit
nicht vorstellbar. Hat er hier einen wichtigen Teil des
Menschenseins ausgeklammert oder übersehen?“
Es ist ungewöhnlich, dass Carl Rogers Religiosität und Glauben in
seiner Konzeption offensichtlich nicht beachtet, zumal er selbst
Theologie studiert, als Seelsorger tätig ist und sogar einschlägig
publiziert. Auch wenn Rogers einer doktrinären Ausformung von
Religion nichts abgewinnen kann, so bleibt doch ein
jüdisch-christlicher Kerngedanke, den P. Schmid mit M. Buber
ausdrückt: „Aber Bubers ganzes Denken lebte aus dem Glauben an ein
Du Gottes, das sich im menschlichen Du erfahren lässt. Darin
lag für Buber ein befreiender und öffnender Aspekt.“
Vielleicht meint P. Schmid diesen Aspekt, wenn er davon spricht,
dass die Klientenzentrierte Psychotherapie ohne ihre
jüdisch-christlichen Wurzeln letztlich nicht wirklich zu verstehen
ist.
Interessant
erscheint mir in diesem Zusammenhang der bedingungslose Glaube an
den letztlich positiven Kern von Menschen, der klar im Widerspruch
zum fundamentalistischen-christlichen Weltbild seiner Eltern
steht. Rogers hat sich in seiner therapeutischen Praxis, in seinem
persönlichen Tun diesen grundsätzlichen Optimismus bewahrt. Dieser
Optimismus wird immer wieder als wirklichkeitsfremd und
unreflektiert kritisiert, dennoch bewahrt Carl Rogers diesen
Glauben an die konstruktive Kraft im Menschen und in der
Beziehung.
Rogers hat
Gott und Religion nicht auf psychologische Phänomene reduziert und
den Glauben nicht als Gegenstand der Therapie betrachtet.
Rogers ist
primär Empiriker und Phänomenologe, nicht Philosoph oder Theologe.
Er macht seine Forschungsergebnisse immer an der eigenen Erfahrung
fest und vermeidet anthropologische oder theologische
Grundsatzfragen.
Als
Kernerlebnis seiner Emanzipation von seinen Eltern gilt die
bereits erwähnte Reise nach China, bei der er erstmals mit
östlichem Gedankengut in sehr persönlichen Kontakt kommt. Das
folgende Zitat von Lao-Tse formuliert wesentliche Elemente einer
Klientenzentrierten Anthropologie:
„Wenn ich
Menschen nicht dazwischenfahre, passen sie auf sich selbst auf.
Wenn ich
Menschen nicht befehle, verhalten sie sich von selbst richtig.
Wenn ich
Menschen nicht predige, werden sie von selbst besser.
Wenn ich mich
Menschen nicht aufdränge, werden sie sie selbst.“
In diesem Text
wird sehr klar sichtbar, wie sich C. Rogers Beziehung zu Menschen
vorstellt.
Immer wieder
erwähnt er ein weiteres Lao-tse Zitat: „Um zu handeln, muss man
sein.“ Darin drückt sich der tiefe Wunsch nach authentischem,
klarem und spürbarem Dasein aus, auf dessen Boden Veränderung
möglich werden kann.
Rogers
beschäftigt sich in den Siebzigerjahren mit dem Zen-Buddhismus,
der von der persönlichen Erfahrung als wesentlichem Element des
Lernens und der persönlichen Entwicklung ausgeht. Er ist
beeindruckt von der Überzeugung, jegliche Form der Manipulation
vermeiden zu müssen, damit der Mensch innerlich wachsen kann.
Als geborener
Amerikaner, im Gegensatz zu vielen anderen namhaften Gründern
therapeutischer Schulen mit europäischer Herkunft, zeigt sich
Rogers’ Anthropologie vom Geist der Unabhängigkeitserklärung 1776
durchzogen. Dieser kulturelle Hintergrund festigt Rogers’
Verständnis vom Menschen als ein auf sich vertrauendes Individuum.
Der
einzigartige Mensch, der sich seine Individualität von Beginn
seines Daseins an erkämpfen und bewahren muss, wird vor seinem
individuellen Erfahrungshintergrund als Zentrum der Wirklichkeit
gesehen.
Das Erleben,
das aus der persönlichen Erfahrung entsteht, wird nach Rogers in
einem phänomenologischen Verständnis als einziger Weg zur
Wirklichkeit (und daraus abgeleitet einer „Wirklichkeitsveränderung“)
verstanden.
Die von Edmund
Husserl entwickelte Methode des phänomenologischen Schauens
versteht Wirklichkeit als intuitiv-sinnlich-geistiges Erleben der
Bedeutung der Phänomene.
„Menschliches
Bewusstsein ist (...) immer Bewusstsein von etwas, also immer
schon auf die Welt ausgerichtet. Und umgekehrt: alles, was der
Mensch weiß, weiß er zunächst aus eigener Erfahrung. (...)
Wesentliche
Kriterien für Erfahrung und Wissenschaft sind dabei nicht
Objektivierung, wissenschaftliche Sicherheit und
Unbezweifelbarkeit (...), sondern Zum-Ausdruck-kommen-lassen der
Dinge bzw. Sich-Einlassen auf das eigene Selbst“.
Trotz der Individualität der Erfahrungen können nach Husserl
allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden. In diesem
Verständnis ist auch eine Grundthese von Rogers, dass der
persönlichste Ausdruck des Einzelnen letztlich das Allgemeinste
darstellt, zu sehen.
Im
phänomenologischen Denken soll die Welt so wahrgenommen und
ausgedrückt werden, wie sie sich dem Einzelnen im Rahmen seiner
Erfahrungen darstellt.
Die
Humanistische Psychologie ist als Reaktion und als Gegenmodell
gegen den Behaviorismus und der Psychoanalyse zu verstehen. Rogers
wird neben Abraham Maslow, Rollo May, Gordon Allport und anderen
aufgrund der bisher skizzierten Anthropologie als typischer
Vertreter dieser Richtung genannt. In Rogers’ Kernthese und
grundlegendem Postulat der Aktualisierungstendenz wurde er von den
genannten Denkern stark beeinflusst.
Übereinstimmend gehen die Denker davon aus, dass jedem Organismus
eine zentrale motivationale Kraft innewohnt, die in Richtung
Selbstachtung, Autonomie, Komplexität und Weiterentwicklung
treibt.
Rogers wird in
seinem Denken von Kurt Goldstein beeinflusst, der von einem
organismischen, ganzheitlichen Prozess im Menschen ausgeht, der
diese Kraft entfaltet. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine
biologisch-philosophische Strömung aus den Zwanziger-Jahren, den
Vitalismus, verweisen.
Vitalismus ist
der Überbegriff für die Lehre, die meint, dass das Leben nicht nur
auf physikalisch-chemische Faktoren zurückzuführen ist und dass
immaterielle Faktoren die Gestalt und Funktion der Organismen
mitbedingen. Interessant scheint ein Versuch an Seeigelkeimen zu
sein, der zeigt, dass sich getrennte Teile aus sich heraus zu je
ganzen Seeigeln entwickeln. Den ganzheitsmachenden Faktor in der
Entwicklung nennt man Entelechie. Schon Aristoteles geht in einer
teleologischen Deutung der Welt auf diese Kraft ein. Der
Vitalismus schränkt diese Dynamik für organisches Leben ein und
erweitert damit den physikalisch beweisbaren Rahmen von
Entwicklung.
Die
philosophische Annahme des Vitalismus findet sich im Konzept von
C. Rogers vor allem in seinem Organismusverständnis wieder. Rogers
geht von einer Art Weisheit des Organismus aus, die einem
„vermittelt“, ob man sein wahres Selbst lebt oder nicht. Darum ist
es nach Rogers wichtig, die Signale seines Körpers wahrzunehmen
und auf sie zu vertrauen.
Immer wieder sind Ähnlichkeiten in den
Anthropologien von Rogers und der Existenzphilosophie erkennbar
.In welcher Form und Intensität gerade das Denken der
Existenzphilosophen Sören Kierkegaard und Martin Buber Carl Rogers
beeinflussen, möchte ich im Anschluss erörtern, um zu zeigen, dass
trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen von Philosophie und
Psychologie ähnliche anthropologische Grundannahmen möglich sind.
C. Rogers hat sich immer geweigert als Jünger der
Existentialphilosophie zu gelten. Dennoch sieht er in seiner
Therapie Parallelen zu Kierkegaard und Martin Buber.
Carl Rogers
bezeichnet Sören Kierkegaard als Freund, der die menschliche
Erfahrung als einen wesentlichen Bestandteil seiner Philosophie
betont und ihn damit bestärkt, auf seine eigenen Erfahrungen mehr
und mehr zu vertrauen. Im Besonderen verweist Carl Rogers in
seiner Begründung der therapeutischen Grundhaltung der Echtheit
auf ein Zitat von Sören Kierkegaard, wenn dieser darauf hinweist,
„dass man im allgemeinen am stärksten verzweifelt ist, wenn man
sich nicht dafür entscheidet oder dazu bereit ist, man selbst zu
sein; dass es aber die tiefste Form der Hoffnungslosigkeit ist,
wenn man sich dafür entscheidet, >ein anderer als man selbst zu
sein<. Andererseits >ist der Entschluss, das Selbst zu sein, das
man in Wahrheit ist, wahrhaft das Gegenteil von Verzweiflung<, und
diese Möglichkeit der Entscheidung ist die tiefste Verantwortung
des Menschen.“
Gemeinsam ist
den beiden Denkern der Grundgedanke, dass der Organismus die
Energiequelle für eine ständige Entwicklung in Richtung reife
Persönlichkeit ist, die letztlich aber einer Entscheidung des
Einzelnen bedarf.
Die Person hat
die Möglichkeit bzw. die Wahlfreiheit sich für sich zu
entscheiden. Diese Verständnis von Wahl und Entscheidung ist die
eindeutigste Verbindung zu Sören Kierkegaard. Der Mensch kann sich
nicht von jeglichen Einflüssen gesellschaftlicher und politischer
Natur lösen, dennoch schlummert in jeder Person subjektive
Freiheit und damit zusammenhängende Verantwortlichkeit sich selbst
und anderen gegenüber. Dieser Freiheit sind Sören Kierkegaard wie
auch Carl Rogers auf der Spur und jeder versucht auf seine Weise
den Menschen diese Freiheit wiederzugeben.
Das Denken
Martin Bubers hat zur Anthropologie von Carl Rogers große
Ähnlichkeit und kann fast als geistige Heimat von Carl Rogers
bezeichnet werden. Eindeutige Berührungspunkte gibt es
hinsichtlich der von Carl Rogers formulierten Grundbedingungen
(Echtheit, Wertschätzung und Empathie) für eine hilfreiche
Beziehung von Person zu Person. Bubers Konzept von der
„Ich-Du-Beziehung“ und das Konzept der „Begegnung“ eröffnen Carl
Rogers auch hinsichtlich des Personbegriffs neue Perspektiven. Der
Vorwurf, dass das Menschenbild von Rogers zu individualistisch
sei, kann mit Berücksichtigung der Einflussnahme Martin Bubers
relativiert werden.
Interessant
sind die unterschiedlichen Denkansätze, die in einem Dialog Buber
- Rogers im Jahr 1957 sichtbar werden und die ich kurz erörtern
möchte.
Die
„Ich-Du-Beziehung“ von Martin Buber hat gewisse Ähnlichkeiten zum
Grundkonzept einer hilfreichen Beziehung von Rogers, dennoch kann
nach Buber die dialogische Existenz nur in Ansätzen funktionieren,
da der Therapeut und der Klient nicht auf der selben Stufe stehen.
„Er kommt zu Ihnen um Hilfe. Sie kommen nicht zu ihm um Hilfe“.
Ein weiterer
Unterschied kristallisiert sich aus dem Begriff „Bestätigen“ von
Martin Buber und dem Begriff „Akzeptieren“ von Carl Rogers heraus,
da Buber in seiner Anthropologie von Gut und Böse (Ja und Nein,
Vertrauen und Ablehnung) im Menschen ausgeht.
Daher ist es
nach Buber legitim, den Einzelnen in diesem Kampf der
gegensätzlichen Kräfte zu unterstützen und auf dem „guten“ Weg zu
„bestätigen“, aber nicht in einer oberflächlichen Form, sondern im
tiefen Erkennen des Wesens des Gegenüber, um zur Persönlichkeit zu
leiten, „die er zu werden erschaffen wurde“.
Rogers hält
mit dem Begriff „Akzeptieren“ stärker am Vertrauen zum Klienten
fest, da aus diesem Vertrauen die konstruktive Kraft der Person
wirksam werden kann und den Weg zu mehr Wachstum finden kann.
Diese Kraft sieht Carl Rogers ausschließlich im Rahmen der
Beziehung, aber doch „in“ der Person und nicht wie Buber meint im
„Zwischen“ von Ich und Du.
Neben den
unterschiedlichen Zugängen und Begrifflichkeiten beider Denker,
möchte ich klar herausstreichen, dass sie in einer echten,
existenziellen Begegnung das Wesen der Veränderung sehen. Das ist
der gemeinsame Boden von Martin Buber und Carl Rogers.