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Menschliches Sein aus Klientenzentrierter Sicht

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6. Rogers C. und seine anthropologische Einbettung

Die Anthropologie von C. Rogers hat sich aus verschiedenen und unterschiedlichen Einflüssen geformt. Im folgenden Abschnitt führe ich wichtige Elemente des sich entwickelnden Menschenbildes von C. Rogers an. 

6.1 Biographie

Carl Ranson Rogers wird 1902 in Oak Parks, USA, geboren und wächst zusammen mit vier Brüdern und einer Schwester in einem wohl behüteten Elternhaus auf, das von tiefer Religiosität geprägt ist. In der Atmosphäre des autoritären protestantischen Calvinismus stehen schwere Arbeit, die Verinnerlichung und das Gebet im Zentrum des familiären Lebens.

Carl Rogers schreibt über seine Gefühle in dieser Zeit: „Wenn ich zurückschaue, wird mir deutlich, dass mein Interesse an Gesprächsführung und Therapie sicher zum Teil aus meiner frühen Einsamkeit erwuchs. Hier war ein gesellschaftliche gebilligter Weg, Menschen wirklich nahe zu kommen. Er stillte einen Teil des Hungers, den ich zweifellos gefühlt hatte“.[1]

Sein Interesse am naturwissenschaftlichen Beobachten und Experimentieren leitet ihn zum Studium im Bereich  der Agrarwissenschaften an der Universität von Wisconsin.

Nachdem er als Sprecher einer Gruppe religiöser Jugendbetreuer der christlichen Berufslaufbahn immer näher kommt, bildet eine Chinareise zu einer christlichen Weltjugendkonferenz im Jahr 1921 den Boden, sein von den Eltern geprägtes Weltbild in Richtung von mehr Toleranz und Offenheit zu öffnen. Seine weitere, sehr fortschrittliche und tolerante theologische Ausbildung  emanzipiert ihn von seinen Eltern und macht ihn als Persönlichkeit sicherer und unabhängiger.  

Schließlich wechselt er auf die pädagogische Hochschule mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Erziehungswissenschaften. Über seine berufliche Motivation und den Abschied von der Theologie schreibt er: „Dass die Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der einzelnen mich wahrscheinlich immer interessieren würden, kannte ich. Ich konnte jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem von mir verlangt würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben. (...) Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken ließ“.[2]

Nach Abschluss seines Studiums und der Erwerbung des Doktorates wird er 1929 Direktor der psychologischen Abteilung einer Erziehungsberatungsstelle in Rogester und arbeitet dort bis 1939. In dieser Zeit experimentiert er mit allen möglichen Formen therapeutischer Beratungsmethoden, mit dem Wunsch möglichst effizient mit seinen Klienten zu arbeiten.

In der Folgezeit arbeitet er bis 1963 als Buchautor und Professor an den Universitäten Ohio, Chicago und Wisconsin. Er formuliert in den beiden Werken „Counseling and psychotherapie“(1942) und „Client-Centered Therapy“(1951) seine Persönlichkeitstheorie und sein Verständnis einer therapeutischen Beziehung.

In seinem letzten Lebensabschnitt setzt er sich, wahrscheinlich auf Grund des Todes seiner Frau Helen, erneut mit religiösen Fragen auseinander. In dieser Phase hebt er die spirituelle Dimension des Seins heraus. In Momenten tiefer Präsenz - im Spüren des intuitiven Selbst-, transzendiert sich nach Rogers die Beziehung, wird Teil von etwas Größerem und schafft Heilung.

6.1.1        Religion und Glaube 

Rogers hat sich, wie aus der Biographie erkennbar wird, sehr grundsätzlich mit dem christlichen Weltbild auseinandergesetzt, nicht nur aus der Notwendigkeit der Abgrenzung von den elterlichen Glaubensvorstellungen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit den Existenzphilosophen. So meint etwa P. Schmid: „Kierkegaards und Bubers Denken, um nur zwei >Gewährleute zu nennen<, auf die sich Rogers so gerne beruft, sind ohne ihre tiefe Gottbezogenheit nicht vorstellbar. Hat er hier einen wichtigen Teil des Menschenseins ausgeklammert oder übersehen?“[3] Es ist ungewöhnlich, dass Carl Rogers Religiosität und Glauben in seiner Konzeption offensichtlich nicht beachtet, zumal er selbst Theologie studiert, als Seelsorger tätig ist und sogar einschlägig publiziert. Auch wenn Rogers einer doktrinären Ausformung von Religion nichts abgewinnen kann, so bleibt doch ein jüdisch-christlicher Kerngedanke, den P. Schmid mit M. Buber ausdrückt: „Aber Bubers ganzes Denken lebte aus dem Glauben an ein Du Gottes, das sich im menschlichen Du erfahren lässt.   Darin   lag  für  Buber  ein  befreiender  und öffnender  Aspekt.“[4]   Vielleicht meint P. Schmid diesen Aspekt, wenn er davon spricht, dass die Klientenzentrierte Psychotherapie ohne ihre jüdisch-christlichen Wurzeln letztlich nicht wirklich zu verstehen ist.

Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang der bedingungslose Glaube an den letztlich positiven Kern von Menschen, der klar im Widerspruch zum fundamentalistischen-christlichen Weltbild seiner Eltern steht. Rogers hat sich in seiner therapeutischen Praxis, in seinem persönlichen Tun diesen grundsätzlichen Optimismus bewahrt. Dieser Optimismus wird immer wieder als wirklichkeitsfremd und unreflektiert kritisiert, dennoch bewahrt Carl Rogers diesen Glauben an die konstruktive Kraft im Menschen und in der Beziehung.  

Rogers hat Gott und Religion nicht auf psychologische Phänomene reduziert und den Glauben nicht als Gegenstand der Therapie betrachtet.  

Rogers ist primär Empiriker und Phänomenologe, nicht Philosoph oder Theologe. Er macht seine Forschungsergebnisse immer an der eigenen Erfahrung fest und vermeidet anthropologische oder theologische Grundsatzfragen. 

6.2 Fernöstliche Einflüsse    

Als Kernerlebnis seiner Emanzipation von seinen Eltern gilt die bereits erwähnte Reise nach China, bei der er erstmals mit östlichem Gedankengut in sehr persönlichen Kontakt kommt. Das folgende Zitat von Lao-Tse formuliert wesentliche Elemente einer Klientenzentrierten Anthropologie: 

„Wenn ich Menschen nicht dazwischenfahre, passen sie auf sich selbst auf.

Wenn ich Menschen nicht befehle, verhalten sie sich von selbst richtig.

Wenn ich Menschen nicht predige, werden sie von selbst besser.

Wenn ich mich Menschen nicht aufdränge, werden sie sie selbst.“[5] 

In diesem Text wird sehr klar sichtbar, wie sich C. Rogers Beziehung zu Menschen vorstellt.  

Immer wieder erwähnt er ein weiteres Lao-tse Zitat: „Um zu handeln, muss man sein.“ Darin drückt sich der tiefe Wunsch nach authentischem, klarem und spürbarem Dasein aus, auf dessen Boden  Veränderung möglich werden kann. 

  • Zen-Buddhismus

Rogers beschäftigt sich in den Siebzigerjahren mit dem Zen-Buddhismus, der von der persönlichen Erfahrung als wesentlichem Element des Lernens und der persönlichen Entwicklung ausgeht. Er ist beeindruckt von der Überzeugung, jegliche Form der Manipulation vermeiden zu müssen, damit der Mensch innerlich wachsen kann.  

6.3 Einflüsse des Individualismus und Subjektivismus 

Als geborener Amerikaner, im Gegensatz zu vielen anderen namhaften Gründern therapeutischer Schulen mit europäischer Herkunft, zeigt sich Rogers’ Anthropologie vom Geist der Unabhängigkeitserklärung 1776 durchzogen. Dieser kulturelle Hintergrund festigt Rogers’ Verständnis vom Menschen als ein auf sich vertrauendes Individuum.

Der einzigartige Mensch, der sich seine Individualität von Beginn seines Daseins an erkämpfen und bewahren muss, wird vor seinem individuellen Erfahrungshintergrund als Zentrum der Wirklichkeit gesehen.  

Das Erleben, das aus der persönlichen Erfahrung entsteht, wird nach Rogers in einem phänomenologischen Verständnis als einziger Weg zur Wirklichkeit (und daraus abgeleitet einer „Wirklichkeitsveränderung“) verstanden. 

6.3.1 Exkurs zur Phänomenologie

Die von Edmund Husserl entwickelte Methode des phänomenologischen Schauens versteht Wirklichkeit als intuitiv-sinnlich-geistiges Erleben der Bedeutung der Phänomene.

„Menschliches Bewusstsein ist (...) immer Bewusstsein von etwas, also immer schon auf die Welt ausgerichtet. Und umgekehrt: alles, was der Mensch weiß, weiß er zunächst aus eigener Erfahrung. (...)

Wesentliche Kriterien für Erfahrung und Wissenschaft sind dabei nicht Objektivierung, wissenschaftliche Sicherheit und Unbezweifelbarkeit (...), sondern Zum-Ausdruck-kommen-lassen der Dinge bzw. Sich-Einlassen auf das eigene Selbst“[6].  Trotz der Individualität der Erfahrungen können nach Husserl allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden. In diesem Verständnis ist auch eine Grundthese von Rogers, dass der persönlichste Ausdruck des Einzelnen letztlich das Allgemeinste darstellt, zu sehen.

Im phänomenologischen Denken soll die Welt so wahrgenommen und ausgedrückt werden, wie sie sich dem Einzelnen im Rahmen seiner Erfahrungen darstellt.  

6.4 Humanistische Psychologie 

Die Humanistische Psychologie ist als Reaktion und als Gegenmodell gegen den Behaviorismus und der Psychoanalyse zu verstehen. Rogers wird neben Abraham Maslow, Rollo May, Gordon Allport und anderen aufgrund der bisher skizzierten Anthropologie als typischer Vertreter dieser Richtung genannt. In Rogers’ Kernthese und grundlegendem Postulat der Aktualisierungstendenz wurde er von den genannten Denkern stark beeinflusst.  

Übereinstimmend gehen die Denker davon aus, dass jedem Organismus eine zentrale motivationale Kraft innewohnt, die in Richtung Selbstachtung, Autonomie, Komplexität und Weiterentwicklung treibt.  

Rogers wird in seinem Denken von Kurt Goldstein beeinflusst, der  von einem organismischen, ganzheitlichen Prozess im Menschen ausgeht, der diese Kraft entfaltet. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine biologisch-philosophische Strömung aus den Zwanziger-Jahren, den Vitalismus, verweisen. 

6.4.1 Exkurs: Vitalismus 

Vitalismus ist der Überbegriff für die Lehre, die meint, dass das Leben nicht nur auf physikalisch-chemische Faktoren zurückzuführen ist und dass immaterielle Faktoren die Gestalt und Funktion der Organismen mitbedingen. Interessant scheint ein Versuch an Seeigelkeimen zu sein, der zeigt, dass sich getrennte Teile aus sich heraus zu je ganzen Seeigeln entwickeln. Den ganzheitsmachenden Faktor in der Entwicklung nennt man Entelechie. Schon Aristoteles geht in einer teleologischen Deutung der Welt auf diese Kraft ein. Der Vitalismus schränkt diese Dynamik für organisches Leben ein und erweitert damit den physikalisch beweisbaren Rahmen von Entwicklung.

Die philosophische Annahme des Vitalismus findet sich im Konzept von C. Rogers vor allem in seinem Organismusverständnis wieder. Rogers geht von einer Art Weisheit des Organismus aus, die einem „vermittelt“, ob man sein wahres Selbst lebt oder nicht. Darum ist es nach Rogers wichtig, die Signale seines Körpers wahrzunehmen und auf sie zu vertrauen.  

6.5 Existenzialphilosophie 

Immer wieder sind Ähnlichkeiten in den Anthropologien von Rogers und der Existenzphilosophie erkennbar .In welcher Form und Intensität gerade das Denken der Existenzphilosophen Sören Kierkegaard und Martin Buber Carl Rogers beeinflussen, möchte ich im Anschluss erörtern, um zu zeigen, dass trotz der unterschiedlichen Zugangsweisen von Philosophie und Psychologie ähnliche anthropologische Grundannahmen möglich sind. 

C. Rogers hat sich immer geweigert als Jünger der Existentialphilosophie zu gelten. Dennoch sieht er in seiner Therapie Parallelen zu Kierkegaard und Martin Buber. 

6.5.1 Sören Kierkegaard 

Carl Rogers bezeichnet Sören Kierkegaard als Freund, der die menschliche Erfahrung als einen wesentlichen Bestandteil seiner Philosophie betont und ihn  damit bestärkt, auf seine eigenen Erfahrungen mehr und mehr zu vertrauen. Im Besonderen verweist Carl Rogers in seiner Begründung der therapeutischen Grundhaltung der Echtheit auf ein Zitat von Sören Kierkegaard, wenn dieser darauf hinweist, „dass man im allgemeinen am stärksten verzweifelt ist, wenn man sich nicht dafür entscheidet oder dazu bereit ist, man selbst zu sein; dass es aber die tiefste Form der Hoffnungslosigkeit ist, wenn man sich dafür entscheidet, >ein anderer als man selbst zu sein<. Andererseits  >ist der Entschluss, das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist, wahrhaft das Gegenteil von Verzweiflung<, und diese Möglichkeit der Entscheidung ist die tiefste Verantwortung des Menschen.“[7] 

Gemeinsam ist den beiden Denkern der Grundgedanke, dass der Organismus die Energiequelle für eine ständige Entwicklung in Richtung reife Persönlichkeit ist, die letztlich aber einer Entscheidung des Einzelnen bedarf.  

Die Person hat die Möglichkeit bzw. die Wahlfreiheit sich für sich zu entscheiden. Diese Verständnis von Wahl und Entscheidung ist die eindeutigste Verbindung zu Sören Kierkegaard. Der Mensch kann sich nicht von jeglichen Einflüssen gesellschaftlicher und politischer Natur lösen, dennoch schlummert in jeder Person subjektive Freiheit und damit zusammenhängende Verantwortlichkeit sich selbst und anderen gegenüber. Dieser Freiheit sind Sören Kierkegaard wie auch Carl Rogers auf der Spur und jeder versucht auf seine Weise den Menschen diese Freiheit wiederzugeben. 

  6.5.2  Martin Buber 

Das Denken Martin Bubers hat zur Anthropologie von Carl Rogers große Ähnlichkeit und kann fast als geistige Heimat von Carl Rogers bezeichnet werden. Eindeutige Berührungspunkte gibt es hinsichtlich der von Carl Rogers formulierten Grundbedingungen (Echtheit, Wertschätzung und Empathie) für eine hilfreiche Beziehung von Person zu Person. Bubers Konzept von der „Ich-Du-Beziehung“ und das Konzept der „Begegnung“ eröffnen Carl Rogers auch hinsichtlich des Personbegriffs neue Perspektiven. Der Vorwurf, dass das Menschenbild von Rogers zu individualistisch sei, kann mit Berücksichtigung der Einflussnahme Martin Bubers relativiert werden. 

  • Der Dialog

Interessant sind die unterschiedlichen Denkansätze, die in einem Dialog Buber - Rogers im Jahr 1957 sichtbar werden und die ich kurz erörtern möchte. 

Die „Ich-Du-Beziehung“ von Martin Buber hat gewisse Ähnlichkeiten zum Grundkonzept einer hilfreichen Beziehung von Rogers, dennoch kann nach Buber die dialogische Existenz nur in Ansätzen funktionieren, da der Therapeut und der Klient nicht auf der selben Stufe stehen. „Er kommt zu Ihnen um Hilfe. Sie kommen nicht zu ihm um Hilfe“.[8] 

Ein weiterer Unterschied kristallisiert sich aus dem Begriff „Bestätigen“ von Martin Buber und dem Begriff „Akzeptieren“ von Carl Rogers heraus, da Buber in seiner Anthropologie von Gut und Böse (Ja und Nein, Vertrauen und Ablehnung) im Menschen ausgeht.  

Daher ist es nach Buber legitim, den Einzelnen in diesem Kampf der gegensätzlichen Kräfte zu unterstützen und auf dem „guten“ Weg zu „bestätigen“, aber nicht in einer oberflächlichen Form, sondern im tiefen Erkennen des Wesens des Gegenüber, um zur Persönlichkeit zu leiten, „die er zu werden erschaffen wurde“.[9]  

Rogers hält mit dem Begriff „Akzeptieren“ stärker am Vertrauen zum Klienten fest, da aus diesem Vertrauen die konstruktive Kraft der Person wirksam werden kann und den Weg zu mehr Wachstum finden kann. Diese Kraft sieht Carl Rogers ausschließlich im Rahmen der Beziehung, aber doch „in“ der Person und nicht wie Buber meint im „Zwischen“ von Ich und Du.  

Neben den unterschiedlichen Zugängen und Begrifflichkeiten beider Denker, möchte ich klar herausstreichen, dass sie in einer echten, existenziellen Begegnung das Wesen der Veränderung sehen. Das ist der gemeinsame Boden von Martin Buber und Carl Rogers.


[1] Rogers C., zit. nach: Schmid P., Personale Begegnung, 77.

[2] Rogers C., zit. nach: Schmid P., Personale Begegnung, 79.

[3] Schmid P., Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, 199.

[4] Schmid P., Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, 200.

[5] Rogers C., Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, 196.

[6] Keil W., Grundlagen der Klientenzentrierten Psychotherapie, 15.

[7] Rogers C., zit. nach: Rogers C., Schmid P., Person-zentriert, 138.

[8] Buber M., zit. nach: Schmid P., Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, 179.

[9] Buber M., zit. nach: Rogers C., Schmid P., Person-zentriert, 141.

 

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