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Menschliches Sein aus Klientenzentrierter Sicht

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III. Persönlichkeitstheorie

Nachdem ich die Anthropologie von C. Rogers aus unterschiedlichen Richtungen beleuchtet habe, möchte ich auf seine Persönlichkeitstheorie eingehen. 

1. Aktualisierungstendenz

Eine der tiefsten Überzeugungen in C. Rogers’ Bild vom Menschen ist der Glaube, dass die menschliche Natur von ihrem Wesen her vertrauenswürdig, konstruktiv, schöpferisch, sozial und auf Reife hin ausgerichtet ist. Aus dieser Überzeugung kreiert er für sein Persönlichkeitskonzept den Begriff Aktualisierungstendenz, der „die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten“[1]aufweist.

Im Bild des Kleinkindes, das doch das Gehen erlernt, auch wenn es mit Krabbeln das Ziel schneller erreichen würde, zeigt sich diese von Natur aus wirkende Kraft, die Widerstände und Schmerzen überwindet und sich doch durchsetzt. 

  • A. Suters Verständnis der Aktualisierungstendenz

A. Suter sieht durch die Aktualisierungstendenz verschiedene Implikationen für die Klientenzentrierte Psychotherapie.

  • Sofern der Organismus frei ist, jede Richtung für seine Existenz zu wählen, so entscheidet er sich für die konstruktive. Das bedeutet, die Aktualisierungstendenz ist selektiv.
  • Ob der Organismus frei ist, wird entscheidend von seiner Umwelt bewirkt. Sind die maßgeblichen Umweltfaktoren weitgehend frei von Zwängen aller Art, ist die Aktualisierung des positiven menschlichen Kerns möglich. „Nur wo solche äussere(sic!) Freiheit gewährt ist, korrespondiert ihr eine innere, die Aktualisierung ermöglichende Freiheit.“[2] Den entscheidenden Faktor für die Erreichung äußerer Freiheit bilden die zwischenmenschlichen Beziehungen. Für C. Rogers gehört die Freiheit elementar zum Menschsein: „Es ist diese innere, subjektive, existentielle Freiheit, die ich beobachtet habe. Es ist die Einsicht, dass ich mich selbst leben kann, hier und jetzt, in eigener Entscheidung’“[3]
  • Existenz im Sinne der Selbstaktualisierung ist ein ständiger Prozess.
  • Dieser Prozess ist zwar für jeden individuell verschieden, weist aber bei allen Menschen gemeinsame Züge auf.

Als grundlegende Antriebskraft und Gestaltungskraft der Menschwerdung im Sinne qualitativer Transzendierung des jeweiligen Status Quo, darf die Aktualisierungstendenz nicht als individualistisch-egoistische Kraft missverstanden werden, da die Entfaltung des Einzelnen, wenn der Mensch als soziales Wesen verstanden wird, sehr eng mit der Entfaltung der Gemeinschaft verbunden ist.

Hier wird der relationale Personbegriff von Rogers wichtig, da die Aktualisierungstendenz von den physischen und psychischen Umgebungsbedingungen geleitet wird. Wie weit die Aktualisierung der Entwicklung gefördert oder blockiert wird, hängt von den äußeren Bedingungen ab.

Rogers bezeichnet den Glauben an die Aktualisierungstendenz als „grundlegende operationale Philosophie“, die nicht bloßes Konzept sein darf, sondern letztlich eine Verwirklichung in der Lebensweise einfordert.

Rogers ist in seinem Zugang zur Aktualisierungstendenz vom Vitalismus stark beeinflusst und damit der Denkfigur der Entelechie verbunden. Dieses Denken geht von einer gerichteten Größe, (einem Vektor) die keine Zweiteilung >erhalten und entfalten< zulässt, aus.  

  • D. Höger und Aktualisierungstendenz

D. Höger hat Rogers’ Verständnis der Aktualisierungstendenz kritisch hinterleuchtet und benennt zwei wichtige Aspekte, die zu beachten sind, um Missverständnisse um den Begriff zu vermeiden.Der Begriff >Aktualisierungstendenz< ist „explizit und konsequent als übergeordnetes, zusammenfassendes Prinzip menschlicher Motivation und Verhaltensorganisation zu definieren und die beiden Aspekte der Entfaltung und der Erhaltung sind begrifflich strikt zu trennen“, damit man sie in ihrer Unterschiedlichkeit betont, „um der Komplexität dieses Begriffs und Abhängigkeit des Organismus von den Umweltbedingungen gerecht zu werden“[4] 

2.  Selbst und Selbstaktualisierungstendenz

Da der Mensch sein eigens Ich reflektieren kann, bildet sich eine Vorstellung vom Ich. Aus den Erfahrungen mit sich selbst bildet sich das Bild vom eigenen Sein, das in der Theorie von Rogers als „das Selbst“ benannt wird. Aus der Ganzheit der Erfahrungen des Ich und den Wahrnehmungen des Ich zu seiner Umwelt und der damit verbundenen Bewertungen entsteht das Selbst. Es kann bewusst oder unbewusst sein, dient aber jedenfalls als konstanter Bezugspunkt für eine Person. Dieser Bezugspunkt ist aber nichts Fixiertes. In prozesshafter Form verändert und entwickelt sich das Selbst durch das Integrieren der Erfahrungen und deren Bedeutung.

Das Selbstkonzept bildet sich aus den Wertungen der Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich die betreffende Person selbst zuschreibt. Mit dem Begriff Selbstaktualisierungstendenz wird die Dynamik beschrieben, die dazu dient das Selbst zu erhalten und zu verbessern. Es wird als relativ eigenständiges Subsystem der Aktualisierungstendenz gesehen.

  • Symbolisieren

Mit dem Begriff „fully functioning person“ hat Rogers ein abstrahiertes Ideal einer Persönlichkeit benannt, die es schafft, ständig neue Erfahrungen exakt symbolisiert in sein Selbst aufzunehmen.

Symbolisieren bedeutet Erfahrungen und deren Bedeutung bewusst werden zu lassen. Diese Symbolisierungen können sich verbal oder auf körperlicher Ebene ausdrücken.

Je mehr ein Mensch neue Erfahrungen zulassen und in sein Selbst integrieren kann, desto kongruenter ist die Person (echt, authentisch). Wenn organismische Erfahrungen und das Selbst weitgehend korrelieren, ist die Person flexibel und stabil, anpassungsfähig und fähig, nach außen Widerstand zu leisten. Die Person fühlt sich nicht bedroht und ist offen für Neues. 

  • Inkongruenz

Wenn organismische Erfahrungen nicht symbolisiert werden können und nicht in das Selbst integriert werden können, muss die Person diese Erfahrungen abwehren, da das Selbst bedroht ist. Die Person versucht die Bedeutung einer Erfahrung so abzuändern, dass sie möglichst mit dem Selbst übereinstimmt.

Je nach Intensität der Erfahrung kann die Person die Erfahrung verzerren, verleugnen oder verneinen. In dieser Inkongruenz, dem Widerspruch von Selbst und Erfahrung, bleibt eine ständige Spannung gegeben. Die Person will ein Selbst aktualisieren („ich bin sehr bescheiden“), das mit der Erfahrung  (Neid) nicht übereinstimmt. Der Ausweg liegt in der Abwehr des Neides, die sich möglicherweise in einem Überlegenheitsgefühl äußert. 

  • Bedürfnis nach bedingungsloser positiver Beachtung

Der Mensch hat das grundlegende Bedürfnis, im eigenen Erleben gesehen, beachtet und verstanden zu werden. Für Rogers bedeutet positive Beachtung eine Person zu schätzen, ungeachtet der verschiedenen Bewertungen, die man selbst ihren Verhaltensweisen gegenüber hat.

Nach Biermann-Ratjen können Erfahrungen und deren Bewertung nur Selbsterfahrungen werden, wenn das Kind wahrnehmen kann, dass es in diesen Erfahrungen und den Bewertungen empathisch verstanden und ohne Bedingungen wertgeschätzt wird.  


[1] Rogers C., Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen      

                      Beziehungen,21.

[2] Suter A., Menschenbild und Erziehung bei M. Buber und C. Rogers, 98.

[3] Rogers C., zit. nach Suter A., Menschenbild und Erziehung bei M. Buber und C. Rogers, 99.

[4] Höger D., Die Entwicklung der Person und ihre Störung, 27.

 

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