5. Therapieverlauf
Ich möchte mich in Besprechung des
Therapieverlaufes am Prozesskontinuum nach Rogers
orientieren:
Rogers betrachtet den Therapieprozess als Antwort
des Klienten auf das Beziehungsangebotes des Therapeuten. „Wenn
der Klient feststellt, dass ihm jemand zuhört und ständig
akzeptiert, wie er seine Gedanken und Gefühle äußert, lernt er
nach und nach dem zuzuhören, was in seinem Inneren vorgeht; er
lernt wahrzunehmen, dass er wütend oder ängstlich ist oder
liebevolle Empfindungen verspürt. Allmählich wird er fähig, auf
Empfindungen in seinem Inneren zu lauschen, die ihm früher so
seltsam, so erschreckend oder bedrohlich erschienen waren, dass er
sie ganz aus seinem Bewusstsein verbannt hatte.“
Als Instrument, den therapeutischen Prozess zu
beschreiben entwickelte Rogers das Prozesskontinuum, dass er in
sieben Stufen unterteilt. Im Grossen und Ganzen verläuft in
diesem Prozesskontinuum die Entwicklung auf der Skala von einem
rigiden, äußeren Festgelegtsein der Einstellungen und
Wahrnehmungen hin, zu einer Veränderlichkeit in all diesen
Bereichen. Dies zeigt sich vom Entfernsein hin zur Unmittelbarkeit
des Erlebens. Dabei stellt sich eine Qualitätsveränderung des
Lebens ein, das zuerst statisch und strukturgebunden ist und
später prozesshaft und fließend wird.
Kurzdarstellung der sieben
Stufen:
-
Die Vorstellungen des Klienten in Bezug auf sich
und seine Umwelt sind an rigide psychische Strukturen gebunden.
Er ist von seinem Erleben entfernt und nimmt dies nicht wahr.
-
Die Person kann über Vorgänge sprechen, die als
außerhalb des Selbst liegend wahrgenommen werden. Persönliche
Konstrukte werden als Tatsachen betrachtet.
-
Mehr und mehr werden Gefühle aus rückschauender
Sicht mitgeteilt. Die Reaktionen werden aber nicht akzeptiert,
sondern negativ beurteilt. Das Erleben wird ebenso aus
zeitlicher Distanz oder ichfern
beschrieben. Konstrukte werden allmählich erkannt. Meist wird in
diesem Stadium eine Therapie begonnen.
-
Gefühle werden als Objekte in der Gegenwart
beschrieben. Gelegentlich werden diese sogar in der Gegenwart
geäußert. Der Großteil des therapeutischen Geschehens bewegt
sich auf Stufe 4. Der Klient erforscht sich und versucht sich
als fühlendes Wesen zu empfinden. Er ist verängstigt und oftmals
verwirrt, durch Elemente, die er vage spürt oder die
gelegentlich auftauchen.
-
Gefühle werden als unmittelbar gegenwärtig
innerhalb einer Beziehung mitgeteilt. Die persönlichen
Bedeutungen oder Empfindungen, die von der Gewahrwerdung
ausgeschlossen waren, werden nun annähernd voll erlebt.
Wachsende Einsicht in das aufgebaute Selbstbild und dem
tatsächlichen Erleben entsteht.
-
Es finden von entscheidenden Veränderungen statt,
wie z.B. das akzeptierte, unmittelbar gegenwärtige Erleben von
Gefühlen, die dem Bewusstsein vorher nicht zugänglich waren.
-
Diese Stufe stellt eine Leitvorstellung dar und
repräsentiert den voll entfalteten Menschen. Aufgrund der
Unerreichbarkeit sei sie hier nicht weiter ausgeführt.
In den ersten Stunden redet Frau E. sich vorwiegend
ihren Lebensschmerz von der Seele. Themen sind
Ursprungsfamilie, Exmann, Kinder, Beziehungen im Tageszentrum und
körperliche Symptome. Diese Themen bestimmen weiterhin den
gesamten Therapieverlauf.
Zunächst beschäftigen uns die Verletzungen
innerhalb der Ehe durch den Exmann und der momentane Leidensdruck,
noch immer nicht von ihm loszukommen, da er seine Frau, sein Hab
und Gut noch braucht. Frau E. erlebt sich, trotz hingebender
Bemühungen und furchtbarer Ehejahre als schuld am scheitern der
Ehe. Sie fühlt sich ohnehin verantwortlich für alles. Eine
besondere Verpflichtung ist es aber nach wie vor, den Exmann zu
retten, der ihr in ihrem Bild der Beziehung nach Jahren des
Scheidungskampfes immer noch wie eine enganliegende und
luftabschnürende Latexhaut die Atmung und Bewegung verunmöglicht.
Innerlich zeigt Frau E. schon Distanz, möchte einfach nichts mehr
mit ihm zu tun haben. Sie will ohne ihn in Freiheit Leben und aus
dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis aussteigen. Frau E.
erlebt sich als Opfer, aber auch zunehmend als Täter, da es ihr
nicht gelungen ist, den Exmann zu retten, und eine heile
Familie mit ihm aufzubauen.
Im Hintergrund steht die
Ursprungsfamilie. Geborgenheit und Liebe blieben ihr dort weithin
versagt und sind der unerreichte Lebenstraum - die organismische
Sehnsucht: Was ich von meinen Eltern nicht erfahren konnte,
muss ich unbedingt mit dem eigenen Ehemann und den Kindern
erreichen.
Therapeutisch versuche ich in der ersten Zeit vor
allem die Gefühle, Schmerzen, die Trostlosigkeit und Verzweiflung
zuzulassen. Ich kann ihnen auch kaum entkommen. Weiteres versuche
ich ein verständnisvolles Beziehungsangebot anzubieten, um die
Bearbeitung bzw. die Exploration der traumatischen
Erlebnisse und deren Bedeutung für die Klientin zu erreichen.
Durch wiederholte Positionierungen versuche ich der
Klientin einen objektiven Bewertungsrahmen wie einen Spiegel vor
Augen zu führen:
Die Klientin wurde in ihrer Ehe vielfach verletzt,
sodass es nur normal und gesund wäre, den Mann zu verlassen und
sich eine neue Existenz anderswo aufzubauen. Ich versuche ihr dies
deutlich zu machen, dass es einfach naheliegend bzw. notwendig für
sie ist, die krankmachende Ehe zu beenden, um nicht hat selbst
total unterzugehen. Sie fühlt sich aber noch immer schuldig,
zuwenig zum Gelingen der Ehe beigetragen zu haben.
Diesen Widerspruch versuche ich aufzuzeigen und
Schuldigkeiten bzw. Verantwortungen klarzulegen. Ich nehme
selbstidealkritische Positionen ein, um dadurch ihr abgewertetes
Selbstbild von Schuldgefühlen zu entlasten.
Das folgende Transkript aus der zweiten Stunde soll
einen charakteristischen Einblick in die therapeutische Beziehung
geben:
Kl 1:
|
Mein
Lebensziel war eigentlich immer eine intakte Familie.
Weint, schluchzt. |
Eröffnung
des Lebenstraumes. |
Th 1: |
Ja, alleine
haben sie es nicht geschafft. Das ist auch nicht möglich. Sie
haben alles probiert. Ja? |
Versuch das
Verständnis der Klientin für sich zu wecken und die
Entscheidung als richtig zu bestätigen; Bearbeitung des
Selbstkonzeptes. |
Kl 2: |
Er (
Exmann) glaubt ja fest, ich habe die Familie zerstört, weil
ich die Scheidung eingereicht habe. Weint bitterlich. |
Schuldgefühle und Verantwortung für das Scheitern quälen Frau
E.
Im Anhören
der Tonbandaufnahme merke ich, wie betroffen ich bin und wie
aggressiv ich auf den Exmann werde. |
Th 2: |
Sie haben
nichts zerstört, sie haben etwas beendet, was schon lange
vorbei war. Für eine intakte Familie braucht man auch einen
anständigen Mann und nicht so einen, wie sie ihn hatten. |
Eindeutige
Positionierung pro Entscheidung Klientin. Mein Ärger auf den
Exmann kommt heraus.
Erweiterung
des Blickwinkels. |
Kl 3: |
Weint,
schluchzt; |
Frau E. ist
sehr betroffen. |
Th 3: |
Sie haben
alles probiert, aber alleine geht es nicht. Und wenn sie noch
10 und 100mal mehr Kraft gehabt hätten. |
Versuch um
Verständnis für das eigene Handeln zu werben. Stärkung des
Selbstbildes contra Selbstideal. |
Kl 4: |
Wie oft hab
ich ihn gebeten, ich wollte immer haben, dass die Kinder zu
ihm aufschauen können, zum Vater. Weint. |
Die
Klientin versucht sich zu entschuldigen und mitzuteilen, was
sie alles versucht hat. Sie will nicht als Vernaderin
dastehen, sondern vermitteln, dass sie wirklich Gründe hatte,
sich vom Exmann zu trennen. |
Th 4: |
Mhmm. |
Ich
versuche Unterstützung - Verständnis zu vermitteln. |
Kl 5: |
Pause.
Klientin weint…. Es ist ja das Interessante, ein
Schweigersohn, der ist von der jüngeren Tochter, der ist
hauptsächlich für die Familie da. Das ist ein Waschlappen in
seinen (Exmann) Augen. Wenn einer etwas tut mit der Familie
und mit den Kindern, das ist ein Waschlappen für ihn. Aber der
Schwiegersohn, der gleich ist, wie er, den verehrt er. Der ist
alles für ihn. |
Darstellung, dass sich der schlechte Einfluss des Vaters, auch
im Leben der Kinder auswirkt.
Vielleicht
soll damit das Dilemma verdeutlicht werden, dass sich das
Negative in der Familie weiterspinnt, durch ihn, den Vater.
Ich vermute, die Klientin versucht bei mir mehr Verständnis zu
erwecken, da sie Unterstützung spürt. Sie ist sich aber noch
unsicher. Ich bin schließlich auch ein Mann. Sie sagt später
einmal, dass sie diesbezüglich vorerst auch kritisch war, was
sie mir als Mann erzählen kann und was nicht. Wahrscheinlich
ist das heute in manchen Dingen auch noch so. |
Th 5: |
Na ja, der
stoßt ihn nicht auf sein schlechtes Gewissen. |
Interpretiere für mich laut die Motivation des Exmannes,
verlasse momentan die Beziehungsebene zur Klientin.
|
Kl 6: |
Er merkt es
gar nicht, wie weh er (Schwiegersohn) dem Kind tut. |
Klientin
bleibt bei Ihrem, erzählt weiter. |
Th 6: |
So wie er
es nicht gemerkt hat, ihr Mann? |
Stelle
Verbindung zwischen dem Schwiegersohn und dem Exmann her.
Führe zum Thema Exmann zurück. |
Kl 7: |
Wie die
Tochter den ersten Freund gehabt hat, das hab ich lange Jahre
nicht einmal gewusst, hat sie mir nichts gesagt, weil sie mir
nicht wehtun wollte. Da ist ER(Exmann) ihr nachgefahren und
hat ihr im Gasthaus eine Watschn gegeben, weil er
draufgekommen ist, dass der Bursche einmal einen Blödsinn
gemacht und eine Strafe bekommen hatte. ER hat ein paar mal
Beziehungen zerstört, der Tochter auch. |
Klientin
vermittelt weiter: er war auch zu den Kindern schlecht, wirbt
weiter um meine Zustimmung für ihre Entscheidung.
|
Th 7: |
Aber sie
versuchen, dass er Verständnis hat oder etwas mitkriegt, von
der Situation und bei ihm geht das nicht. |
Versuch
Selbstideal: ich muss meinen Mann retten - in Frage zu
stellen. |
Kl 8: |
Nein. |
Zustimmung. |
Th 8: |
Das geht
überhaupt nicht. |
Herausarbeiten der Unmöglichkeit, den Exmann zu beeinflussen. |
Kl 9: |
Nein, das
geht überhaupt nicht. |
Einsicht
setzt sich in der Klientin etwas fest. |
Th 9: |
Das kann
niemand, auch sie nicht. Sie haben soviel probiert - auch ihn
zu verändern oder ein paar Dinge klarzumachen, wie er ist und
was er damit anrichtet. |
Fortsetzung
des Begonnenen. Aufzeigen der Bemühungen der Klientin in der
Vergangenheit. Hinweis auf die Unmöglichkeit den Exmann zu
ändern. |
Kl 10: |
Er merkt
das gar nicht. |
Frau E.
drückt die Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen aus. |
Th 10: |
Das geht
nicht, das schafft er nicht. Da ist er irgendwo drinnen, wo
sie gar nicht hinkommen, auch wenn sie sich noch so bemühen.
Er bleibt der - |
Bearbeitung
im gleichen Sinne. |
Kl 11: |
Aber ich
will gar nicht, dass es ihm schlecht geht. Es tut mir
irgendwie weh, irgendwie bin ich noch verbunden mit ihm. Es
ist mir nicht gleichgültig, wie es ihm geht, ich wünsch ihm
nichts Schlechtes, aber ich wäre viel beruhigter, wenn ich
merken würde, dass er eine Freundin hat; dass es ihm gut geht,
wäre mir viel lieber.
|
Klientin
kommt zum Anfang zurück und äußert Mitgefühl mit dem Exmann
und die Hoffnung, dass er eine andere findet, um aus dem
Schussfeld zu kommen. |
Th 11: |
Mhmm. Ja,
vielleicht glaubt er eh, dass er eine hat und meint sie damit? |
Nehme die
unterschwellige Angst auf, und konfrontiere die Klientin mit
der Situation, dass er an ihr festhält. |
Kl 12: |
Ja eben. |
Klientin
nimmt meine Darlegung auf und stimmt mir zu. |
Th 12: |
Und wenn
sie sich ihm zuwenden, indem sie sich interessieren, wie es
ihm geht. Ich glaub er meint, dass er sie dann hat. |
Aufzeigen
der Hinwendungsfalle: Hinwendung heißt, wieder sein Besitz zu
sein und Hoffnungen aufkeimen zu lassen. |
Kl 13: |
Ja, er
macht sich immer Hoffnungen, wenn wir reden, aber ich will eh
schon nicht mehr reden, ich will ihm keine Hoffnungen machen.
Ich hab ihm klipp und klar gesagt, ich will keine Beziehung,
wir können jederzeit reden und auch auswärts treffen, auf
neutralem Boden, wenn er niemanden zum reden hat. Weil er
stoßt ja alle weg, nicht nur mich und die Kinder, auch seine
Geschwister und Nachbarn. Ich glaube er muss krank sein. |
Klientin
erinnert sich an ihre Entscheidung. Ihr Entschluss ist klarer
und entschlossener, sie teilt ihre Einsicht mit. |
Th 13 |
Ja, und ich
glaube sie können ihm nicht helfen. Wenn sie ihm etwas
entgegenbringen, dann glaubt er, er kann mit ihnen
schlittenfahren. |
Bestätigung
und vertiefende Zentrierung der Gefahr eines
Beziehungsangebotes auf dem Hintergrund des eigentlichen
Zieles, den Mann loszuwerden. |
Kl 14: |
Er lehnt
alles ab. |
Frau E.
erkennt die Aussichtslosigkeit, ihm zu helfen. |
Th 14: |
Mmhm. Aber
im Grunde ist es sein Leben. |
Versuch
Verantwortlichkeit des Exmannes für sein Leben zu
verdeutlichen und Frau E. zu entlasten. |
Kl 15: |
Ja, das
sagt mir der Arzt auch immer. |
„Allein mir
fehlt der Glaube“. |
Th 15: |
Sie können
sein Leben in dem Sinn nicht leben und es auch nicht
verbessern, aber sie können schauen, dass sie eine gute Oma
sind oder Mutter. Aber das haben sie immer versucht. |
Aufzeigen
der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in realistischem Licht,
Ermutigung. |
Kl 16: |
Ja, aber
wieso fühl ich mich immer verantwortlich für ihn? |
Klientin
hinterfragt ihr hohes Selbstideal nach Ursachen für ihr
Verhalten bzw. ihre emotionalen Verstrickungen. |
Th 16: |
Weil sie
sich wahrscheinlich immer verantwortlich gefühlt haben, für
ihn, denk ich mir. Da werden wir eine Zeit brauchen, bis wir
da genau drauf kommen, wieso sie sich so verantwortlich
fühlen. Weil das ist irgendwie bei ihnen entstanden und dann
haben sie es das ganze Leben so gemacht: Ich bin
verantwortlich.
Denn im
Schmerz oder wenn es jemandem schlecht geht, werden sie auch
immer sich selbst sehen und ihren Schmerz, und wen sie
gebraucht hätten. Sie hätten immer jemanden gebraucht? |
Versuch
einer Erklärung, die auch Verständnis für die negativ
besetzten Gefühle der Klientin ermöglichen soll. Ansprechen
des organismischen Bedürfnisses nach Geborgenheit. |
Kl 17: |
Mhmm. |
Die
Klientin fühlt sich verstanden. |
Th 17: |
Und
vielleicht wollen sie deshalb immer für alle dasein, dass so
jeder jemanden hat? |
Weiterer
Versuch den inneren Bezugsrahmen der Klientin zu beleuchten. |
Kl 18: |
Mhmm. |
Die
Klientin ist berührt. |
Th 18: |
Weil es so
grauslich ist, wenn man niemanden hat. |
Versuch
einer weiteren Vertiefung. Ansprechen der organismischen
Sehnsucht. |
Kl 19: |
Lange
Pause.
Ich hab
gerne gearbeitet, aber ich hab im Krankenhaus mitgelitten... |
Klientin
geht vom Gefühl der Einsamkeit weg und setzt einen anderen
Anlauf. Sie beginnt weitere Erfahrungen zu berichten, die das
Mitgefühl der Klientin für andere erweckten und wiesehr sie
daran litt. |
In der Sequenz geht es viel um die Wert- und
Normvorstellungen der Klientin, die sie erfüllen will, um das
Recht zu erarbeiten, angenommen und geliebt zu werden: Wenn ich
mich hingebe und aufopfere habe ich möglicherweise auch die Chance
in meinen Sehnsüchten erkannt zu werden und Geborgenheit und Liebe
zu erfahren. Ich versuche ihre inneren Beweggründe aufzuspüren
und das Selbstideal aufzuweichen. Dabei möchte ich gleichzeitig
einen Rahmen geben, in dem dies möglich wird. Ich nehme auch
aggressive Gefühle der Klientin auf. Dies ist mir während der
Stunde nicht aufgefallen. Ich fühle mich teilweise überfordert und
unrund, weil soviel Hilflosigkeit im Raum steht. Ich denke, dass
ich persönlich Hilflosigkeit schwer aushalte, und dass auch das in
mir hochsteigt.
Durch die Förderung der Autonomiebestrebungen und
konkreten Hilfestellungen erlebe ich die Klientin bis zur zehnten
Stunde hin immer wehrhafter.
Sie legt sich eine Geheimnummer zu und versucht
dadurch die ständigen Drohanrufe des Exmannes in den Griff zu
bekommen, was auch gelingt und sie etwas aus dem Gefühl der
unmittelbaren beständigen Bedrohung holt.
Die Verminderung der äußeren Bedrohung und die
Stärkung der Wehrhaftigkeit der Klientin führt aber zu stärkeren
Bewusstwerdung der inneren Vorwürfe. Sie fühlt sich dadurch mehr
und mehr verantwortlich für ihre Lebensentscheidungen. Dabei
werden ihre Schuldgefühle, nicht anderes gehandelt zu haben und
den Mann nicht früher verlassen bzw. überhaupt geheiratet zu
haben, größer. Ebenso bereut sie es, die Kinder so lange einer
solchen Situation ausgesetzt zu haben.
Neben den Schuldgefühlen und dem Mitgefühl mit dem
Exmann werden ihr auch aggressive Gefühle ihm gegenüber etwas
zugänglich.
Es beginnt ein Entwicklungsprozess der Klientin,
den ich fördere und der ihr hilft, zu ihrer Entscheidungen zu
stehen. Mit dem Verschwinden des Bedrohungsbildes des Exmannes
treten wie oben beschrieben neue Konfliktfelder in den
Vordergrund. Die tatsächliche Verantwortung für die Beziehung mit
ihm und deren Folgen für die Kinder führt zu weiteren
Schuldgefühlen und nächsten inneren Konfliktfeldern.
Die Klientin bewegt sich ihn ihrem Erleben die
ersten Stunden meist auf Stufe drei und vier der Skala
nach Rogers. Frau E. nimmt im Erleben eher aus rückblickender
Sicht Gefühle und persönliche Bedeutungen wahr, obwohl Gefühle
zwischendurch massiv präsent sind und in der Gegenwart geäußert
werden.
Der Verlauf von der 10. bis zur 20. Stunde ist
geprägt von Abgrenzungen hin zur Umwelt. Hierbei ist die Klientin
ungeduldig und streng mit ihrem Vorankommen.
Sie beklagt an sich zu viele Gefühle zu haben und
immer wieder in Beziehungen mit anderen so verstrickt zu werden,
dass sie Gefühle der anderen aufnimmt und zu eigenen macht.
Sie sehnt sich nach jemandem, der sie annimmt, auch
wenn es ihr schlecht geht, zugleich ärgert sie sich aber über ihre
eigene Ergriffenheit und Sehnsüchte. Ärger und Wut als Thema
werden geäußert, eher aber in Bezug auf sich selbst:
ich hab zu viele Emotionen. Ich müsste schon
weitersein!
Frau E. nimmt aber auch war, dass sie eindeutiger
und kräftiger wird und in ihren Entscheidungen nicht mehr so
leicht zu verunsichern ist. In der Beziehung zum Exmann
konfrontiert sie diesen und grenzt sich in Auseinandersetzung mit
ihm von seinen Vorwürfen deutlicher ab. Dies gelingt ihr auch in
anderen Beziehungen, z. B. im Tageszentrum, wo sie
Beziehungskonflikte mutiger austrägt und Konflikte differenzierter
wahrnimmt. D. h. sie gibt sich nicht automatisch die Schuld und
sucht bei sich einen Makel, wenn sie bei anderen durch ein
bestimmtes Vorhaben auf Ablehnung stößt.
Die Auseinandersetzungen, das Grenzen abstecken,
kosten sie aber im nachhinein viel Kraft, da sie in solchen
Situationen viel an Harmoniebedürfnis aufgibt, obwohl sie Harmonie
und Ruhe nach wie vor über alles stellt.
Ab der 15. Stunde schränkt sie die Einnahme von
Schlaf- und Beruhigungstabletten ein. Sie möchte nicht betäubt
durchs Leben gehen, auch wenn sie dadurch mehr unter den inneren
Konflikten leidet.
Einen Nachteil im Therapieverlauf bringen drei
Pausen von zwei Wochen im angesprochenen Zeitraum, die immer
wieder zu neuerlichen Verstrickungen mit Anforderungen der Umwelt
führen und die Grenzen zu den anderen verwischen lassen.
Mir geht es in dieser Therapiephase gut, da ich
merke, wie schnell Frau E. Handlungen setzt und ihr Leben
autonomer in die Hand nimmt. Dies freut mich und macht mich
vielleicht etwas sorglos. Ich ahne nicht, dass auch ihr enormer
Leistungsanspruch an sich und die Therapie sie antreiben und
teilweise überfordern.
Zu diesem Zeitpunkt der Therapie wäre es wichtig,
die Therapie konsequent voranzutreiben. Ich unterschätze die
Bedeutung der Therapie und offenbar auch wie wichtig der Klientin
die Beziehung zu mir inzwischen geworden ist.
Ab der 20. Stunde geht es Frau E. schlechter. Sie
erlebt einen depressiven Einbruch. Die Klientin hat starke
körperliche Schmerzen, Kopf und Magen spielen verrückt. Sie sagt:
ich kann nicht mehr, ich verachte mich
wegen der Beziehung zu meinem Mann und dafür, dass ich solange mit
ihm zusammen war.
Den Übertitel für den Therapieprozess der
beschriebenen Stunden würde heißen: verdeckte Aggressionen:
Dabei steigen die Erlebnisse von früher auf und belasten enorm.
Sie erzählt erstmals vom sexuellen Missbrauch durch den Schwager.
Sie ist so voller Selbstvorwürfe, sich nicht genügend gewehrt zu
haben und versucht sich für ihr
Vergewaltigtwerden zu entschuldigen.
Ich formuliere meinen Ärger über den Täter. Ich
erlebe mich im Hineinhören der Tonbandaufnahmen aber auch
tendenziell vorwurfsvoll der Klientin gegenüber, weil sie sich
ständig Schuldgefühle macht, bin mir aber nicht sicher, ob ich
damit den therapeutischen Prozess hemme oder auf die Klientin
Druck ausübe. Jedenfalls wurde Frau E. auch von ihrem Mann dafür
bestraft und geschlagen, dass sie von seinem Bruder vergewaltigt
wurde. Ich glaube. Dass sich das Selbstideal der Klientin immer
wieder mit mir verbündet.
Mich überwältigen die berichteten Ereignisse immer
wieder. In vielen Stundenverläufen erlebe ich, wie ich mich
zunächst ohnmächtig und überfordert fühle. Dies sind die Phasen in
der Therapie, wo ich Frau E. begleite und versuche ihren inneren
Bezugsrahmen zu erfassen. Im späteren Stundenverlauf merke ich,
wie dann mein Ärger bzw. das Spüren der Ungerechtigkeiten mich
aktiv aggressiv werden lassen und ich mich auf die Seite von Frau
E. stelle.
In diesen Phasen kämpfe ich dann förmlich gegen
ihre Schuldgefühle an und versuche sie zu entkräften bzw. die
Klientin zu entlasten, wo ich nur kann: z.B. indem ich klar
Position beziehe, dass der Vergewaltiger der Täter ist und
nicht das Opfer.
Ein weiteres Thema in diesem Zusammenhang ist das
Mutterthema. Frau E. ist vollkommen irritiert, wieso ihre Mutter
sich ihr nicht zuwenden konnte: „Die Vorwürfe an meine eigene
Mutter tun mir weh. Mich bedrückt, dass ich es sagen muss, aber
ich hab keine Hilfe gehabt. Was ist bloß an mir, dass meine Mutter
mich abgestoßen hat.“ Frau E. kann es nicht begreifen und ist
tief gekränkt, will die Mutter aber nicht verurteilen. Sie schämt
sich, Schlimmes über ihre Mutter sagen zu müssen und nicht loyal
zu schweigen.
In der Bearbeitung der Verletzungen und der
verdeckten Aggressionen bewegt sich viel bei Frau E. Sie
bespricht zum erstenmal Dinge, die sie vorher aus Rücksicht
niemanden anvertraut hat. Sie tut sich schwer damit, Hilfeangebote
anderer anzunehmen und hat gelernt, ihre Umwelt vor ihren
Problemen zu schonen. In der Therapie gelingt es ihr, mein Angebot
anzunehmen. Sie versichert mir, Vertrauen zu mir zu haben, fühlt
sich verstanden und sieht in mir einen Freund. Mich überrascht es
immer wieder, wie wertvoll Frau E. die Therapie und damit wohl
auch meine Person geworden sind. Wahrscheinlich auch deshalb, weil
ich spüre, dass ich nicht immer gern mit ihr arbeite.
Die ständige Beschwertheit und oft grenzenlose
Hilflosigkeit regen mein Interesse zwar an und berühren mich, sie
belasten mich aber auch. Meine Ungeduld in beschwerlichen und
zögerlichen Dingen spielt hier sicher eine Rolle. Ich fühle mich
immer wieder hilflos und ohnmächtig in der Therapie und habe Angst
dadurch meinen therapeutischen Auftrag nicht erfüllen zu können.
Ich frage mich, ob ich nicht meine
Ohnmachtsgefühle der Klientin und ihrer Krankheit gegenüber
einbringen könnte.
Frau E. spricht auch von ihrer Sehnsucht nach einem
Partner, bei dem sie sich anlehnen könne. Ab der 23. Stunde äußert
sich Frau E. dahingehend, dass sie sich zum erstenmal gleichwertig
mit anderen Teilen der Menschheit fühle. In der 25. Stunde kann
sie erstmals Wut nach außen als Gefühl wahrnehmen und mitteilen,
hier ärgert sie sich über ihre Tochter. In den folgenden Stunden
ärgert sie sich, dass sie von ihrer Familie aus nicht einmal zu
Allerheiligen am Grab ihres Vaters stehen durfte und sie sich nach
wie vor immer einen Tag zuvor heimlich dorthin stiehlt. Obwohl es
sie schmerzt, nimmt sie Demütigungen hin und wehrt sich nicht.
Auch hier wird Wut als neues Gefühl sichtbar und zugänglich.
Erstmals wird es auch zum Thema, das Frau E. sich
geniert, immer wieder die, wie sie sagt, gleichen Geschichten
aufzuwärmen. Sie ist ungeduldig mit sich, weil sie ihr Leben nicht
besser meistern kann und Hilfe anderer in Anspruch nehmen muss.
Sie bringt dies ein und ist sich unsicher, wie ich zu ihr und
ihrem Jammern stehe.
Ich werbe bei ihr um Verständnis für sich und lege
meine Position klar, für sie dazusein und dass sie bei ihrer
schweren Biographie sicher noch länger brauchen wird, um gesund zu
werden und dass dies für mich in Ordnung ist und sie mir weder
lästig noch zu langsam sei.
Ab der 28. Stunde fühlt sich Frau E. zunehmend
besser und aktiver und ist froh um die Kontakte, die sie pflegt.
Sie fühlt sich wohl und teilt sich gern mit. Momentan beschäftigen
sie eher die Probleme der anderen z. B. der Töchter. Ich bin
erleichtert, da ich sehe, dass sich Frau E. besser fühlt und
Freude und Spaß am Leben hat.
Der Verlauf der 20.-30. Stunde findet phasenweise
auf Stufe 4 im Sinnes des Prozesskontinuums
statt. Die Klientin erlebt sich zunehmend als erlebendes und
fühlendes Wesen. Wenngleich Gefühle gelegentlich in der Gegenwart
geäußert werden, brechen sie eher unbeabsichtigt bzw. gegen ihren
Willen hervor: „mich bedrückt es, dass
ich es sagen muss, aber ich habe keine Hilfe gehabt.“