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Depressive Verstimmung

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5. Therapieverlauf

Ich möchte mich in Besprechung des Therapieverlaufes am Prozesskontinuum nach Rogers[1] orientieren:

Rogers betrachtet den Therapieprozess als Antwort des Klienten auf das Beziehungsangebotes des Therapeuten. „Wenn der Klient feststellt, dass ihm jemand zuhört und ständig akzeptiert, wie er seine Gedanken und Gefühle äußert, lernt er nach und nach dem zuzuhören, was in seinem Inneren vorgeht; er lernt wahrzunehmen, dass er wütend oder ängstlich ist oder liebevolle Empfindungen verspürt. Allmählich wird er fähig, auf Empfindungen in seinem Inneren zu lauschen, die ihm früher so seltsam, so erschreckend oder bedrohlich erschienen waren, dass er sie ganz aus seinem Bewusstsein verbannt hatte.“[2]

Als Instrument, den therapeutischen Prozess zu beschreiben entwickelte Rogers das Prozesskontinuum, dass er in sieben Stufen unterteilt.  Im Grossen und Ganzen verläuft in diesem Prozesskontinuum die Entwicklung auf der Skala von einem rigiden, äußeren Festgelegtsein der Einstellungen und Wahrnehmungen hin, zu einer Veränderlichkeit in all diesen Bereichen. Dies zeigt sich vom Entfernsein hin zur Unmittelbarkeit des Erlebens. Dabei stellt sich eine Qualitätsveränderung des Lebens ein, das zuerst statisch und strukturgebunden ist und später prozesshaft und fließend wird.

Kurzdarstellung der sieben Stufen:

  1. Die Vorstellungen des Klienten in Bezug auf sich und seine Umwelt sind an rigide psychische Strukturen gebunden. Er ist von seinem Erleben entfernt und nimmt dies nicht wahr.
  1. Die Person kann über Vorgänge sprechen, die als außerhalb des Selbst liegend wahrgenommen werden. Persönliche Konstrukte werden als Tatsachen betrachtet.
  1. Mehr und mehr werden Gefühle aus rückschauender Sicht mitgeteilt. Die Reaktionen werden aber nicht akzeptiert, sondern negativ beurteilt. Das Erleben wird ebenso aus zeitlicher Distanz oder ichfern beschrieben. Konstrukte werden allmählich erkannt. Meist wird in diesem Stadium eine Therapie begonnen.
  1. Gefühle werden als Objekte in der Gegenwart beschrieben. Gelegentlich werden diese sogar in der Gegenwart geäußert. Der Großteil des therapeutischen Geschehens bewegt sich auf Stufe 4. Der Klient erforscht sich und versucht sich als fühlendes Wesen zu empfinden. Er ist verängstigt und oftmals verwirrt, durch Elemente, die er vage spürt oder die gelegentlich auftauchen.
  1. Gefühle werden als unmittelbar gegenwärtig innerhalb einer Beziehung mitgeteilt. Die persönlichen Bedeutungen oder Empfindungen, die von der Gewahrwerdung ausgeschlossen waren, werden nun annähernd voll erlebt. Wachsende Einsicht in das aufgebaute Selbstbild und dem tatsächlichen Erleben entsteht.
  1. Es finden von entscheidenden Veränderungen statt, wie z.B. das akzeptierte, unmittelbar gegenwärtige Erleben von Gefühlen, die dem Bewusstsein vorher nicht zugänglich waren.
  1. Diese Stufe stellt eine Leitvorstellung dar und repräsentiert den voll entfalteten Menschen. Aufgrund der Unerreichbarkeit sei sie hier nicht weiter ausgeführt.

5.1 Therapieverlauf 1. bis 10. Stunde

In den ersten Stunden redet Frau E. sich vorwiegend ihren Lebensschmerz von der Seele. Themen sind Ursprungsfamilie, Exmann, Kinder, Beziehungen im Tageszentrum und körperliche Symptome. Diese Themen bestimmen weiterhin den gesamten Therapieverlauf.

Zunächst beschäftigen uns die Verletzungen innerhalb der Ehe durch den Exmann und der momentane Leidensdruck, noch immer nicht von ihm loszukommen, da er seine Frau, sein Hab und Gut noch braucht. Frau E. erlebt sich, trotz hingebender Bemühungen und furchtbarer Ehejahre als schuld am scheitern der Ehe. Sie fühlt sich ohnehin verantwortlich für alles. Eine besondere Verpflichtung ist es aber nach wie vor, den Exmann zu retten, der ihr in ihrem Bild der Beziehung nach Jahren des Scheidungskampfes immer noch wie eine enganliegende und luftabschnürende Latexhaut die Atmung und Bewegung verunmöglicht. Innerlich zeigt Frau E. schon Distanz, möchte einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie will ohne ihn in Freiheit Leben und aus dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis aussteigen. Frau E. erlebt sich als Opfer, aber auch zunehmend als Täter, da es ihr nicht gelungen ist, den Exmann zu retten, und eine heile Familie mit ihm aufzubauen.

Im Hintergrund steht die Ursprungsfamilie. Geborgenheit und Liebe blieben ihr dort weithin versagt und sind der unerreichte Lebenstraum - die organismische Sehnsucht: Was ich von meinen Eltern nicht erfahren konnte, muss ich unbedingt mit dem eigenen Ehemann und den Kindern erreichen.

Therapeutisch versuche ich in der ersten Zeit vor allem die Gefühle, Schmerzen, die Trostlosigkeit und Verzweiflung zuzulassen. Ich kann ihnen auch kaum entkommen. Weiteres versuche ich ein verständnisvolles Beziehungsangebot anzubieten, um die

Bearbeitung bzw. die Exploration der traumatischen Erlebnisse und deren Bedeutung für die Klientin zu erreichen.

Durch wiederholte Positionierungen versuche ich der Klientin einen objektiven Bewertungsrahmen wie einen Spiegel vor Augen zu führen:

Die Klientin wurde in ihrer Ehe vielfach verletzt, sodass es nur normal und gesund wäre, den Mann zu verlassen und sich eine neue Existenz anderswo aufzubauen. Ich versuche ihr dies deutlich zu machen, dass es einfach naheliegend bzw. notwendig für sie ist, die krankmachende Ehe zu beenden, um nicht hat selbst total unterzugehen. Sie fühlt sich aber noch immer schuldig, zuwenig zum Gelingen der Ehe beigetragen zu haben.

Diesen Widerspruch versuche ich aufzuzeigen und Schuldigkeiten bzw. Verantwortungen klarzulegen. Ich nehme selbstidealkritische Positionen ein, um dadurch ihr abgewertetes Selbstbild von Schuldgefühlen zu entlasten.

Das folgende Transkript aus der zweiten Stunde soll einen charakteristischen Einblick in die therapeutische Beziehung geben:

Kl 1:

Mein Lebensziel war eigentlich immer eine intakte Familie. Weint, schluchzt.

Eröffnung des Lebenstraumes.

Th 1:

Ja, alleine haben sie es nicht geschafft. Das ist auch nicht möglich. Sie haben alles probiert. Ja?

Versuch das Verständnis der Klientin für sich zu wecken und die Entscheidung als richtig zu bestätigen; Bearbeitung des Selbstkonzeptes.

Kl 2:

Er ( Exmann) glaubt ja fest, ich habe die Familie zerstört, weil ich die Scheidung eingereicht habe. Weint bitterlich.

Schuldgefühle und Verantwortung für das Scheitern quälen Frau E.

Im Anhören der Tonbandaufnahme merke ich, wie betroffen ich bin und wie aggressiv ich auf den Exmann werde.

Th 2:

Sie haben nichts zerstört, sie haben etwas beendet, was schon lange vorbei war. Für eine intakte Familie braucht man auch einen anständigen Mann und nicht so einen, wie sie ihn hatten.

Eindeutige Positionierung pro Entscheidung Klientin. Mein Ärger auf den Exmann kommt heraus.

Erweiterung des Blickwinkels.

Kl 3:

Weint, schluchzt;

Frau E. ist sehr betroffen.

Th 3:

Sie haben alles probiert, aber alleine geht es nicht. Und wenn sie noch 10 und 100mal mehr Kraft gehabt hätten.

Versuch um Verständnis für das eigene Handeln zu werben. Stärkung des Selbstbildes contra Selbstideal.

Kl 4:

Wie oft hab ich ihn gebeten, ich wollte immer haben, dass die Kinder zu ihm aufschauen können, zum Vater. Weint.

Die Klientin versucht sich zu entschuldigen und mitzuteilen, was sie alles versucht hat. Sie will nicht als Vernaderin dastehen, sondern vermitteln, dass sie wirklich Gründe hatte, sich vom Exmann zu trennen.

Th 4:

Mhmm.

Ich versuche Unterstützung - Verständnis zu vermitteln.

Kl 5:

Pause. Klientin weint…. Es ist ja das Interessante, ein Schweigersohn, der ist von der jüngeren Tochter, der ist hauptsächlich für die Familie da. Das ist ein Waschlappen in seinen (Exmann) Augen. Wenn einer etwas tut mit der Familie und mit den Kindern, das ist ein Waschlappen für ihn. Aber der Schwiegersohn, der gleich ist, wie er, den verehrt er. Der ist alles für ihn.

Darstellung, dass sich der schlechte Einfluss des Vaters, auch im Leben der Kinder auswirkt.

Vielleicht soll damit das Dilemma verdeutlicht werden, dass sich das Negative in der Familie weiterspinnt, durch ihn, den Vater. Ich vermute, die Klientin versucht bei mir mehr Verständnis zu erwecken, da sie Unterstützung spürt. Sie ist sich aber noch unsicher. Ich bin schließlich auch ein Mann. Sie sagt später einmal, dass sie diesbezüglich vorerst auch kritisch war, was sie mir als Mann erzählen kann und was nicht. Wahrscheinlich ist das heute in manchen Dingen auch noch so.

Th 5:

Na ja, der stoßt ihn nicht auf sein schlechtes Gewissen.

Interpretiere für mich laut die Motivation des Exmannes, verlasse momentan die Beziehungsebene zur Klientin.

Kl 6:

Er merkt es gar nicht, wie weh er (Schwiegersohn) dem Kind tut.

Klientin bleibt bei Ihrem, erzählt weiter.

Th 6:

So wie er es nicht gemerkt hat, ihr Mann?

Stelle Verbindung zwischen dem Schwiegersohn und dem Exmann her. Führe zum Thema Exmann zurück.

Kl 7:

Wie die Tochter den ersten Freund gehabt hat, das hab ich lange Jahre nicht einmal gewusst, hat sie mir nichts gesagt, weil sie mir nicht wehtun wollte. Da ist ER(Exmann) ihr nachgefahren und hat ihr im Gasthaus eine Watschn gegeben, weil er draufgekommen ist, dass der Bursche einmal einen Blödsinn gemacht und eine Strafe bekommen hatte. ER hat ein paar mal Beziehungen zerstört, der Tochter auch.

Klientin vermittelt weiter: er war auch zu den Kindern schlecht, wirbt weiter um meine Zustimmung für ihre Entscheidung.

Th 7:

Aber sie versuchen, dass er Verständnis hat oder etwas mitkriegt, von der Situation und bei ihm geht das nicht.

Versuch Selbstideal: ich muss meinen Mann retten -  in Frage zu stellen.

Kl 8:

Nein.

Zustimmung.

Th 8:

Das geht überhaupt nicht.

Herausarbeiten der Unmöglichkeit, den Exmann zu beeinflussen.

Kl 9:

Nein, das geht überhaupt nicht.

Einsicht setzt sich in der Klientin etwas fest.

Th 9:

Das kann niemand, auch sie nicht. Sie haben soviel probiert - auch ihn zu verändern oder ein paar Dinge klarzumachen, wie er ist und was er damit anrichtet.

Fortsetzung des Begonnenen. Aufzeigen der Bemühungen der Klientin in der Vergangenheit. Hinweis auf die Unmöglichkeit den Exmann zu ändern.

Kl 10:

Er merkt das gar nicht.

Frau E. drückt die Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen aus.

Th 10:

Das geht nicht, das schafft er nicht. Da ist er irgendwo drinnen, wo sie gar nicht hinkommen, auch wenn sie sich noch so bemühen. Er bleibt der -

Bearbeitung im gleichen Sinne.

Kl 11:

Aber ich will gar nicht, dass es ihm schlecht geht. Es tut mir irgendwie weh, irgendwie bin ich noch verbunden mit ihm. Es ist mir nicht gleichgültig, wie es ihm geht, ich wünsch ihm nichts Schlechtes, aber ich wäre viel beruhigter, wenn ich merken würde, dass er eine Freundin hat; dass es ihm gut geht, wäre mir viel lieber.

 

Klientin kommt zum Anfang zurück und äußert Mitgefühl mit dem Exmann und die Hoffnung, dass er eine andere findet, um aus dem Schussfeld zu kommen.

Th 11:

Mhmm. Ja, vielleicht glaubt er eh, dass er eine hat und meint sie damit?

Nehme die unterschwellige Angst auf, und konfrontiere die Klientin mit der Situation, dass er an ihr festhält.

Kl 12:

Ja eben.

Klientin nimmt meine Darlegung auf und stimmt mir zu.

Th 12:

Und wenn sie sich ihm zuwenden, indem sie sich interessieren, wie es ihm geht. Ich glaub er meint, dass er sie dann hat.

Aufzeigen der Hinwendungsfalle: Hinwendung heißt, wieder sein Besitz zu sein und Hoffnungen aufkeimen zu lassen.

Kl 13:

Ja, er macht sich immer Hoffnungen, wenn wir reden, aber ich will eh schon nicht mehr reden, ich will ihm keine Hoffnungen machen. Ich hab ihm klipp und klar gesagt, ich will keine Beziehung, wir können jederzeit reden und auch auswärts treffen, auf neutralem Boden, wenn er niemanden zum reden hat. Weil er stoßt ja alle weg, nicht nur mich und die Kinder, auch seine Geschwister und Nachbarn. Ich glaube er muss krank sein.

Klientin erinnert sich an ihre Entscheidung. Ihr Entschluss ist klarer und entschlossener, sie  teilt ihre Einsicht mit.

Th 13

Ja, und ich glaube sie können ihm nicht helfen. Wenn sie ihm etwas entgegenbringen, dann glaubt er, er kann mit ihnen schlittenfahren.

Bestätigung und vertiefende Zentrierung der Gefahr eines Beziehungsangebotes auf dem Hintergrund des eigentlichen Zieles, den Mann loszuwerden.

Kl 14:

Er lehnt alles ab.

Frau E. erkennt die Aussichtslosigkeit, ihm zu helfen.

Th 14:

Mmhm. Aber im Grunde ist es sein Leben.

Versuch Verantwortlichkeit des Exmannes für sein Leben zu verdeutlichen und Frau E. zu entlasten.

Kl 15:

Ja, das sagt mir der Arzt auch immer.

„Allein mir fehlt der Glaube“.

Th 15:

Sie können sein Leben in dem Sinn nicht leben und es auch nicht verbessern, aber sie können schauen, dass sie eine gute Oma sind oder Mutter. Aber das haben sie immer versucht.

Aufzeigen der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in realistischem Licht, Ermutigung.

Kl 16:

Ja, aber wieso fühl ich mich immer verantwortlich für ihn?

Klientin hinterfragt ihr hohes Selbstideal nach Ursachen für ihr Verhalten bzw. ihre emotionalen Verstrickungen.

Th 16:

Weil sie sich wahrscheinlich immer verantwortlich gefühlt haben, für ihn, denk ich mir. Da werden wir eine Zeit brauchen, bis wir da genau drauf kommen, wieso sie sich so verantwortlich fühlen. Weil das ist irgendwie bei ihnen entstanden und dann haben sie es das ganze Leben so gemacht: Ich bin verantwortlich.

Denn im Schmerz oder wenn es jemandem schlecht geht, werden sie auch immer sich selbst sehen und ihren Schmerz, und wen sie gebraucht hätten. Sie hätten immer jemanden gebraucht?

Versuch einer Erklärung, die auch Verständnis für die negativ besetzten Gefühle der Klientin ermöglichen soll. Ansprechen des organismischen Bedürfnisses nach Geborgenheit.

Kl 17:

Mhmm.

Die Klientin fühlt sich verstanden.

Th 17:

Und vielleicht wollen sie deshalb immer für alle dasein, dass so jeder jemanden hat?

Weiterer Versuch den inneren Bezugsrahmen der Klientin zu beleuchten.

Kl 18:

Mhmm.

Die Klientin ist berührt.

Th 18:

Weil es so grauslich ist, wenn man niemanden hat.

Versuch einer weiteren Vertiefung. Ansprechen der organismischen Sehnsucht.

Kl 19:

Lange Pause. Ich hab gerne gearbeitet, aber ich hab im Krankenhaus mitgelitten...

Klientin geht vom Gefühl der Einsamkeit weg und setzt einen anderen Anlauf. Sie  beginnt weitere Erfahrungen zu berichten, die das Mitgefühl der Klientin für andere erweckten und wiesehr sie daran litt.

In der Sequenz geht es viel um die Wert- und Normvorstellungen der Klientin, die sie erfüllen will, um das Recht zu erarbeiten, angenommen und geliebt zu werden: Wenn ich mich hingebe und aufopfere habe ich möglicherweise auch die Chance in meinen Sehnsüchten erkannt zu werden und Geborgenheit und Liebe zu erfahren. Ich versuche ihre inneren Beweggründe aufzuspüren und das Selbstideal aufzuweichen. Dabei möchte ich gleichzeitig einen Rahmen geben, in dem dies möglich wird. Ich nehme auch aggressive Gefühle der Klientin auf. Dies ist mir während der Stunde nicht aufgefallen. Ich fühle mich teilweise überfordert und unrund, weil soviel Hilflosigkeit im Raum steht. Ich denke, dass ich persönlich Hilflosigkeit schwer aushalte, und dass auch das in mir hochsteigt.

Durch die Förderung der Autonomiebestrebungen und konkreten Hilfestellungen erlebe ich die Klientin bis zur zehnten Stunde hin immer wehrhafter.

Sie legt sich eine Geheimnummer zu und versucht dadurch die ständigen Drohanrufe des Exmannes in den Griff zu bekommen, was auch gelingt und sie etwas aus dem Gefühl der unmittelbaren beständigen Bedrohung holt.

Die Verminderung der äußeren Bedrohung und die Stärkung der Wehrhaftigkeit der Klientin führt aber zu stärkeren Bewusstwerdung der inneren Vorwürfe. Sie fühlt sich dadurch mehr und mehr verantwortlich für ihre Lebensentscheidungen. Dabei werden ihre Schuldgefühle, nicht anderes gehandelt zu haben und den Mann nicht früher verlassen bzw. überhaupt geheiratet zu haben, größer. Ebenso bereut sie es, die Kinder so lange einer solchen Situation ausgesetzt zu haben.

Neben den Schuldgefühlen und dem Mitgefühl mit dem Exmann werden ihr auch aggressive Gefühle ihm gegenüber etwas zugänglich.

Es beginnt ein Entwicklungsprozess der Klientin, den ich fördere und der ihr hilft, zu ihrer Entscheidungen  zu stehen. Mit dem Verschwinden des Bedrohungsbildes des Exmannes treten wie oben beschrieben neue Konfliktfelder in den Vordergrund. Die tatsächliche Verantwortung für die Beziehung mit ihm und deren Folgen für die Kinder führt zu weiteren Schuldgefühlen und nächsten inneren Konfliktfeldern.

Die Klientin bewegt sich ihn ihrem Erleben die ersten Stunden meist auf Stufe drei und vier der Skala[3] nach Rogers. Frau E. nimmt im Erleben eher aus rückblickender Sicht Gefühle und persönliche Bedeutungen wahr, obwohl Gefühle zwischendurch massiv präsent sind und in der Gegenwart geäußert werden.

5.2 Therapieverlauf 10. bis 20. Stunde

Der Verlauf von der 10. bis zur 20. Stunde ist geprägt von Abgrenzungen hin zur Umwelt. Hierbei ist die Klientin ungeduldig und streng mit ihrem Vorankommen.

Sie beklagt an sich zu viele Gefühle zu haben und immer wieder in Beziehungen mit anderen so verstrickt zu werden, dass sie Gefühle der anderen aufnimmt und zu eigenen macht.

Sie sehnt sich nach jemandem, der sie annimmt, auch wenn es ihr schlecht geht, zugleich ärgert sie sich aber über ihre eigene Ergriffenheit und Sehnsüchte. Ärger und Wut als Thema werden geäußert, eher aber in Bezug auf sich selbst: ich hab zu viele Emotionen. Ich müsste schon weitersein!

Frau E. nimmt aber auch war, dass sie eindeutiger und kräftiger wird und in ihren Entscheidungen nicht mehr so leicht zu verunsichern ist. In der Beziehung zum Exmann konfrontiert sie diesen und grenzt sich in Auseinandersetzung mit ihm von seinen Vorwürfen deutlicher ab. Dies gelingt ihr auch in anderen Beziehungen, z. B. im Tageszentrum, wo sie Beziehungskonflikte mutiger austrägt und Konflikte differenzierter wahrnimmt. D. h. sie gibt sich nicht automatisch die Schuld und sucht bei sich einen Makel, wenn sie bei anderen durch ein bestimmtes Vorhaben auf Ablehnung stößt.

Die Auseinandersetzungen, das Grenzen abstecken, kosten sie aber im nachhinein viel Kraft, da sie in solchen Situationen viel an Harmoniebedürfnis aufgibt, obwohl sie Harmonie und Ruhe nach wie vor über alles stellt.

Ab der 15. Stunde schränkt sie die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungstabletten ein. Sie möchte nicht betäubt durchs Leben gehen, auch wenn sie dadurch mehr unter den inneren Konflikten leidet.

Einen Nachteil im Therapieverlauf bringen drei Pausen von zwei Wochen im angesprochenen Zeitraum, die immer wieder zu neuerlichen Verstrickungen mit Anforderungen der Umwelt führen und die Grenzen zu den anderen verwischen lassen.

Mir geht es in dieser Therapiephase gut, da ich merke, wie schnell Frau E. Handlungen setzt und ihr Leben autonomer in die Hand nimmt. Dies freut mich und macht mich vielleicht etwas sorglos. Ich ahne nicht, dass auch ihr enormer Leistungsanspruch an sich und die Therapie sie antreiben und teilweise überfordern.

Zu diesem Zeitpunkt der Therapie wäre es wichtig, die Therapie konsequent voranzutreiben. Ich unterschätze die Bedeutung der Therapie und offenbar auch wie wichtig der Klientin die Beziehung zu mir inzwischen geworden ist.

5.3 Therapieverlauf 20. bis 30. Stunde

Ab der 20. Stunde geht es Frau E. schlechter. Sie erlebt einen depressiven Einbruch. Die Klientin hat starke körperliche Schmerzen, Kopf und Magen spielen verrückt. Sie sagt: ich kann nicht mehr, ich verachte mich wegen der Beziehung zu meinem Mann und dafür, dass ich solange mit ihm zusammen war.

Den Übertitel für den Therapieprozess der beschriebenen Stunden würde heißen: verdeckte Aggressionen: Dabei steigen die Erlebnisse von früher auf und belasten enorm. Sie erzählt erstmals vom sexuellen Missbrauch durch den Schwager. Sie ist so voller Selbstvorwürfe, sich nicht genügend gewehrt zu haben und versucht sich für ihr Vergewaltigtwerden zu entschuldigen.

Ich formuliere meinen Ärger über den Täter. Ich erlebe mich im Hineinhören der Tonbandaufnahmen aber auch tendenziell vorwurfsvoll der Klientin gegenüber, weil sie sich ständig Schuldgefühle macht, bin mir aber nicht sicher, ob ich damit den therapeutischen Prozess hemme oder auf die Klientin Druck ausübe. Jedenfalls wurde Frau E. auch von ihrem Mann dafür bestraft und geschlagen, dass sie von seinem Bruder vergewaltigt wurde. Ich glaube. Dass sich das Selbstideal der Klientin immer wieder mit mir verbündet.

Mich überwältigen die berichteten Ereignisse immer wieder. In vielen Stundenverläufen erlebe ich, wie ich mich zunächst ohnmächtig und überfordert fühle. Dies sind die Phasen in der Therapie, wo ich Frau E. begleite und versuche ihren inneren Bezugsrahmen zu erfassen. Im späteren Stundenverlauf merke ich, wie dann mein Ärger bzw. das Spüren der Ungerechtigkeiten mich aktiv aggressiv werden lassen und ich mich auf die Seite von Frau E. stelle.

In diesen Phasen kämpfe ich dann förmlich gegen ihre Schuldgefühle an und versuche sie zu entkräften bzw. die Klientin zu entlasten, wo ich nur kann: z.B. indem ich klar Position beziehe, dass der Vergewaltiger der Täter ist und nicht das Opfer.

Ein weiteres Thema in diesem Zusammenhang ist das Mutterthema. Frau E. ist vollkommen irritiert, wieso ihre Mutter sich ihr nicht zuwenden konnte: „Die Vorwürfe an meine eigene Mutter tun mir weh. Mich bedrückt, dass ich es sagen muss, aber ich hab keine Hilfe gehabt. Was ist bloß an mir, dass meine Mutter mich abgestoßen hat.“ Frau E. kann es nicht begreifen und ist tief gekränkt, will die Mutter aber nicht verurteilen. Sie schämt sich, Schlimmes über ihre Mutter sagen zu müssen und nicht loyal zu schweigen.

In der Bearbeitung der Verletzungen und der verdeckten Aggressionen bewegt sich viel bei Frau E.  Sie bespricht zum erstenmal Dinge, die sie vorher aus Rücksicht niemanden anvertraut hat. Sie tut sich schwer damit, Hilfeangebote anderer anzunehmen und hat gelernt, ihre Umwelt vor ihren Problemen zu schonen. In der Therapie gelingt es ihr, mein Angebot anzunehmen. Sie versichert mir, Vertrauen zu mir zu haben, fühlt sich verstanden und sieht in mir einen Freund. Mich überrascht es immer wieder, wie wertvoll Frau E. die Therapie und damit wohl auch meine Person geworden sind. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich spüre, dass ich nicht immer gern mit ihr arbeite.

Die ständige Beschwertheit und oft grenzenlose Hilflosigkeit regen mein Interesse zwar an und berühren mich, sie belasten mich aber auch. Meine Ungeduld in beschwerlichen und zögerlichen Dingen spielt hier sicher eine Rolle. Ich fühle mich immer wieder hilflos und ohnmächtig in der Therapie und habe Angst dadurch meinen therapeutischen Auftrag nicht erfüllen zu können. Ich frage mich, ob ich nicht meine Ohnmachtsgefühle der Klientin und ihrer Krankheit gegenüber einbringen könnte.

Frau E. spricht auch von ihrer Sehnsucht nach einem Partner, bei dem sie sich anlehnen könne. Ab der 23. Stunde äußert sich Frau E. dahingehend, dass sie sich zum erstenmal gleichwertig mit anderen Teilen der Menschheit fühle. In der 25. Stunde kann sie erstmals Wut nach außen als Gefühl wahrnehmen und mitteilen, hier ärgert sie sich über ihre Tochter. In den folgenden Stunden ärgert sie sich, dass sie von ihrer Familie aus nicht einmal zu Allerheiligen am Grab ihres Vaters stehen durfte und sie sich nach wie vor immer einen Tag zuvor heimlich dorthin stiehlt. Obwohl es sie schmerzt, nimmt sie Demütigungen hin und wehrt sich nicht. Auch hier wird Wut als neues Gefühl sichtbar und zugänglich.

Erstmals wird es auch zum Thema, das Frau E. sich geniert, immer wieder die, wie sie sagt, gleichen Geschichten aufzuwärmen. Sie ist ungeduldig mit sich, weil sie ihr Leben nicht besser meistern kann und Hilfe anderer in Anspruch nehmen muss. Sie bringt dies ein und ist sich unsicher, wie ich zu ihr und ihrem Jammern stehe.

Ich werbe bei ihr um Verständnis für sich und lege meine Position klar, für sie dazusein und dass sie bei ihrer schweren Biographie sicher noch länger brauchen wird, um gesund zu werden und dass dies für mich in Ordnung ist und sie mir weder lästig noch zu langsam sei.

Ab der 28. Stunde fühlt sich Frau E. zunehmend besser und aktiver und ist froh um die Kontakte, die sie pflegt. Sie fühlt sich wohl und teilt sich gern mit. Momentan beschäftigen sie eher die Probleme der anderen z. B. der Töchter. Ich bin erleichtert, da ich sehe, dass sich Frau E. besser fühlt und Freude und Spaß am Leben hat.

Der Verlauf der 20.-30. Stunde findet phasenweise auf Stufe 4 im Sinnes des Prozesskontinuums[4] statt. Die Klientin erlebt sich zunehmend als erlebendes und fühlendes Wesen. Wenngleich Gefühle gelegentlich in der Gegenwart geäußert werden, brechen sie eher unbeabsichtigt bzw. gegen ihren Willen hervor: „mich bedrückt es, dass ich es sagen muss, aber ich habe keine Hilfe gehabt.“


[1] Vgl. ROGERS, CARL RANSOM, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. München, 1985 S. 32ff.

[2] ROGERS, CARL RANSOM, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. München, 1985, S. 33.

[3] Gemeint ist die Skala nach dem oben beschriebenen Prozesskontinuum.

[4] Vgl. ROGERS, CARL RANSOM, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. München , 1985, S. 35ff.

 

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Theoriegeleitete Analyse eines Fallbeispiels

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