Vorauszuschicken ist, dass sich die Themen der
vorangegangenen Stunden immer wiederholen. Die Einstellung und
Gefühle von Frau E. zu den einzelnen Lebensthemen hängen stark
davon ab, ob sich Frau E. in einer depressiven Phase befindet oder
nicht.
Hier zeigen sich zwei charakteristische Seiten des
momentanen Therapieverlaufes, die sich von Stunde zu Stunde
abwechseln können. Stabil und ohne Bedrohung von außen ist sie
eher zuversichtlich und bewegt sich in Richtung
Autonomieentwicklung. Kommt der Exmann und die Vergangenheit ins
Spiel, ist sie total am Boden zerstört und möchte sich das Leben
nehmen. In dieser Spannung verlaufen die folgenden Stunden.
In stabilen Phasen wirkt Frau
E. zuversichtlich und lernt mehr und mehr eigene Bedürfnisse
wahrzunehmen und auszudrücken. Neu ist dabei, dass sie wahrnimmt,
wenn sie sich zuviel zumutet oder sich einer Situation aussetzt,
die ihr nicht guttut. Sie sorgt phasenweise auch schon recht gut
für sich, indem sie z. B. eben die belastende Situation verändert:
ich hab die Geburtstagsfeier abgesagt und jetzt ist mir gleich
viel besser zu Mute... oder ich habe einen Besuch bei den
Kindern abgebrochen, weil es mir zuviel wurde und ich ihn nicht
bis zum bitteren Ende ertragen wollte.
Natürlich bleibt sie weiter
geprägt von ihren Harmoniebedürfnissen und schuldhaften Gefühlen,
wenn sie sich den anderen nicht bedingungslos hingibt. Sie ist
aber auch phasenweise stolz darauf, wenn sie sich abgrenzen kann.
Ich versuche diese Autonomiebestrebungen so gut es geht zu
unterstützen bzw. mit der Klientin zu erarbeiten. Gefühle der
Vernachlässigung und Gefühle des Ausgebeutetwerdens: ich fühl
mich wie ein Apparat, der ohne Knopfdruck und Wartung
funktionieren soll und der, wenn er nicht gebraucht wird, dann zur
Seite gestellt wird, treten öfter auf, gemeinsam mit dem Ärger
über die anderen. So wird es dem Selbstbild der Klientin mehr und
mehr möglich sich mit selbstidealkritische Positionen (ich möchte
mich nicht so ausbeuten lassen) auseinanderzusetzen bzw. auch sich
davon abzugrenzen.
Mehr innere Ruhe tritt auf, wenn sie vom Exmann
wenig bis gar nichts zu hören bekommt. Ihre körperlichen Symptome
sind in diesen Phasen ebenso leichter zu ertragen. Die Klientin
nimmt den psychosomatischen Zusammenhang zwischen körperlichen
Symptomen und psychischem Stress wahr und benennt ihn auch.
Zum erstenmal seit Behandlungsbeginn spricht sie,
wenngleich sehr verschämt und meine Reaktion abwartend, ihre
Beziehungssehnsüchte an. Sie fühlt sich zu einem Mann hingezogen,
ist aber verunsichert und vorsichtig, inwieweit sie sich ihm
nähern soll. Auf mich wirkt sie verliebt.
Damit kommt zur gewöhnlichen Schwere in der
Bearbeitung etwas Leichtigkeit auf. Frau E. äußert das Gefühle des
Verliebtseins zunächst abwartend - ablehnend. Es sei ihr quasi
lästig, in jedem Fall bedrückt sie diese Situation. Ich glaube
vielmehr, dass sie eine Zurechtweisung meinerseits erwartet, wie
sie sich denn bei ihren negativen Erfahrungen wieder mit einem
Mann einlassen könne.
Da ich nicht negativ reagiere, sondern
verständnisvoll und eher erfreut, weicht die Verschämung und
können die Sehnsucht nach einem Partner sowie die Angst sich
einzulassen bearbeitet werden. Die Klientin fühlt sich verstanden
und kann sich dadurch öffnen.
Zu dieser stabileren Phase möchte ich ein
Transkript aus der 46. Stunde anführen. Thema ist die Bedeutung
der Harmonie für die Klientin und der Versuch in der
therapeutischen Arbeit die organismische Sehnsucht nach
Geborgenheit und Liebe in Verbindung mit dem Harmoniebedürfnis zu
erfassen. Dabei geht es um die Bewertungsbedingungen des
Selbstkonzeptes für die Deutung von Erfahrungen. Streiten, sich
Durchsetzten, um etwas Kämpfen stehen in Konflikt mit dem
Harmoniebedürfnis von Frau E. und scheinen Beziehung zu
verunmöglichen. Sie werden als ungeheuer belastend empfunden bzw.
führen in die Depression. Nun zum Transkript:
Kl 1:
|
Mir ist
einfach nur wichtig, dass die Harmonie herrscht. |
Äußern der
organismischen Sehnsucht nach Wohlklang und Harmonie. |
Th 1: |
Mhmm. Das
ist ihr Zauberwort fürs Leben, die Harmonie. |
Versuch
empathisch den inneren Bezugsrahmen der Klientin zu erfassen.
Erarbeitung der Bedeutung für die Klientin. |
Kl 2: |
Ja, das ist
mir eigentlich sehr wichtig, ja. |
|
Th 2: |
Sobald
etwas nicht harmonisch ist, das geht sie dann schlimm an- |
An das
Selbstkonzept gerichtete Intervention zur weiteren Vertiefung
des Erlebens. |
Kl 3: |
Ja, das
geht mich derart an, ich, ich weiß nicht warum? |
Hinterfragung des Erlebens bzw. des organismischen
Hintergrundes. |
Th 3: |
So ganz
eine große Sehnsucht, dass eine Ruhe herrscht. |
Aufspüren
des organismischen Bedürfnisses. |
Kl 4: |
Mhmm. |
Die
Klientin bestätigt die Intervention. |
Th 4: |
Oder ein
Einklang vielmehr? |
Versuche
weiter zu differenzieren. |
Kl 5: |
Ja, das ist
von Kind auf schon immer so gewesen. Ich weiß nicht, das ist
halt,- |
Klientin
bleibt im Selbstexplorationsprozess. |
Th 5: |
Ihr
wichtigstes Lebensprinzip, der Einklang? |
Weitere
Verdichtung der Bedeutung der Harmonie. |
Kl 6: |
Ja.
|
Klientin
fühlt sich erkannt und stimmt zu. |
Th 6: |
Nicht für
alles immer kämpfen oder streiten müssen - |
Versuch
empathisch organismische Sehnsucht nach Harmonie und
Geborgenheit zu erschließen und die Erschöpfung durch die
ständigen Kämpfe aufzugreifen. |
Kl 7: |
Ja! |
Totale
Zustimmung. |
Th 7: |
Sondern
einfach nur sein dürfen? |
Aufspüren
der basalen Sehnsucht leben zu dürfen, was sie nie erlebte. |
Kl 8: |
Das kostet
mich viele Nerven, muss ich sagen und Kraft. |
Klientin
geht zurück zu Belastendem, Kraftraubendem. |
Th 8: |
Das
Streiten? |
Verständnisfrage des Bezuges. |
Kl 9: |
Ja. |
Zustimmung. |
Th 9: |
Bringt sie
oft sogar in Versuchung, dass sie gar nicht mehr sein möchten. |
Intervention zur existentiellen Frage: wenn wesentliche
Lebenssehnsüchte nicht erfüllt werden und das Leben nur ein
Streit und Kampf ist, der mit allen Harmoniewünschen ständig
kollidiert, wird es aussichtslos und der depressive
Zusammenbruch bzw. der Tod bleiben die letzte Möglichkeit.
|
Kl 10: |
Ja, ich sag
eh, das ist so eigenartig- Ich hab gerade heute gesprochen,
wenn ich so ein Tief hab, da kommt mir vor, jede Stunde oder
Jahr oder Monat ist zulang, was ich lebe und nachher, wenn ich
wieder besser drauf bin, dann kommt mir vor, ist das Leben
fast zu kurz, dass ich das alles unterbringe, was ich plane. |
Klientin
schildert ihre gefühlsmäßigen Ambivalenzen, ja geradezu zwei
Aggregatszustände: depressiv und nicht depressiv. Sie sucht
nach Erklärungen und geht weg vom Erleben. |
Th 10: |
Mhmm. |
Ich
überlege und bin etwas überrascht vom neuen Aspekt. |
Kl 11: |
Ich weiß
nicht? |
Klientin
versucht sich zu verstehen. |
Th 11: |
Sie machen
sich auch sehr abhängig von ihrer Harmonie. |
Ich
versuche einen Zusammenhang zwischen Harmoniebedürfnis und
Depressivität herzustellen. |
Kl 12: |
Mhmm. |
Die
Klientin ist damit konfrontiert und überlegt. |
Th 12: |
Denk ich
mir. |
Versuche
die vorige Intervention etwas abzuschwächen, da ich der
Klientin dafür keinen Vorwurf machen möchte und keine
Schuldgefühle erzeugen will. |
Kl 13: |
Mhmm. |
Die
Klientin fühlt das Dilemma. |
Th 13 |
Das ist
etwas, was man sich wünscht, das ist klar, nur wenn sie sie
nicht haben, dann werfen sie alles andere über Bord. |
Versuche
den Mechanismus der Bewertungsbedingungen für das
Selbstkonzept aufzuzeigen und verständnisvoll zu vermitteln. |
Kl 14: |
Ja. |
Klientin
fühlt sich verstanden. |
Th 14: |
Sie sind
auch sehr abhängig davon. |
Weiterführung der Intervention Th 13. |
Kl 15: |
Ja, und wie
kann ich das ändern. Lacht |
Klientin
fühlt sich erkannt, es kommt überraschend Humor auf. |
Th 15: |
Lache auch.
Ich werde ihnen dann ein Rezept ausstellen.
- Ich denk
sie können eh schon besser mit Konflikten umgehen, was ja
früher nicht so gut gegangen ist. |
Ich bin
verunsichert und fühle mich kritisiert. Ich glaube der
Klientin sofort Rede und Antwort stehen zu müssen und versuche
auch gleich Antworten zu geben. Dabei beginne ich eine Bilanz
des bisher Geleisteten zu ziehen, um zu verdeutlichen, dass
schon viel erreicht wurde, auch wenn noch einiges offen ist.
|
Kl 16: |
Ja. |
Klientin
stimmt zu. |
Th 16: |
Jetzt
können sie ja auch schon, wenn irgendwo eine Spannung ist
-einschreiten. Ich denke es geht auch darum, die Spannungen
für sich wahrzunehmen. |
Ich
versuche weitere gemeinsame Vorhaben bzw. Ziele zu
skizzieren.. |
Kl 17: |
Mhmm. |
|
Th 17: |
Was sie
immer mehr lernen. Wenn sie etwas stört; dieses einzubringen,
dass sie das Recht haben, dass sie etwas stören darf. Weil da
sind sie oft schnell gekränkt und im Gekränktsein werden sie
dann handlungsunfähig, da können sie dann nichts mehr tun,
außer eben, sich den Tod zu wünschen. |
Ich
versuche der Klientin mitzuteilen, wie ich sie und ihr Leben
empathisch verstehe. |
Kl 18: |
Ja, es ist
eigentlich unvermutet gekommen, wie ich da das Tief gehabt
habe. Ich mein, ich war schon, beeinträchtigt und hab
Schmerzen gehabt, aber ich weiß nicht, was so nicht gepasst
hat. Ich kann es gar nicht so richtig sagen. Dann hab ich
Besuch gehabt und eine Freude, dass ich diese Frau getroffen
hab und meinen Freund hab ich auf einen Kaffee eingeladen, der
ist dann noch gekommen und dann reden wir so. Eigentlich ist
es nur darum gegangen, über die Vergangenheit und da bin ich
total wieder ins Tief hineingeschlittert. |
Klientin
spannt den Bogen zu einer konkreten Situation, die sie
aufrüttelte bzw. wie sie trotz angenehmen Umweltbedingungen in
ein „Tief“ hineinfällt und wie unvermutet dies geschehen kann. |
Th 18: |
Ja, also
was sie mit der Vergangenheit in Verbindung bringt, da sind
sie dann weg. Das zieht sie hinunter. |
Ich stelle
die Verbindung zu traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit
her, die oft Auslöser für ein Tief sind. |
Kl 19: |
Ja, da hab
ich derartig Migräne bekommen und... |
Es kommt
zur Weiterbearbeitung der Hintergründe für ihre Entwicklung
und den Einfluss von äußeren Faktoren, auf den inneren Zustand
. |
Im Laufe der 34. Stunde teilt mir die Klientin mit,
dass sie die Therapie in den nächsten Wochen beenden wolle, weil
es ihr um soviel besser geht. Ich akzeptiere dies und vergesse,
meine Musterschülerin in dieser Entscheidung zu hinterfragen. Ich
bin zu diesem Zeitpunkt überrascht und hoch erfreut über die
scheinbar schnellen Fortschritte der Klientin. Frau E. hat aber
auch andere Motive und will, weil sie merkt, dass es ihr besser
geht, den Therapieplatz in ihrer Selbstlosigkeit für andere
freigeben und nicht unnötig blockieren. Mir fehlt einfach die
Erfahrung mit schweren, langen depressiven Therapieverläufen, als
dass ich dies zum Thema mache. Die Therapie beansprucht mich bis
zu diesem Zeitpunkt schon sehr, sodass ich froh bin, dass es der
Klientin so gut geht, und sie glaubt wieder alleine
zurechtzukommen.
Wir vereinbaren eine vierzehntägige Frequenz der
Therapiestunden, die im Falle einer Verschlechterung des Zustandes
der Klientin, wieder auf den wöchentlichen Rhythmus verändert
werden soll. Wir verändern die Frequenz dann auch sehr schnell
wieder, da sich der Zustand von Frau E. schnell wieder
verschlechtert.
Im Therapiegeschehen gibt es in diesem Zeitraum
auch Krisen. Diese treten meist dann ein, wenn Gefühle aus der
Vergangenheit auftauchen. Dann verschlechtert sich der Zustand von
Frau E. plötzlich.
In diese Zeit fällt auch ein dreiwöchiger
Kuraufenthalt der Klientin, der ihr eigentlich zur Erholung dienen
soll, aber genau das Gegenteil bewirkt, da eine Bekannte, die viel
über ihren Exmann weiß, zufällig gemeinsam mit ihr auf Kur ist und
viele Frauengeschichten über ihn erzählt. Frau E. ist am Boden
zerstört, erleidet, wie sie sagt noch während der Kur einen
Nervenzusammenbruch, und kommt völlig aufgelöst zu mir.
Der Schmerz der Vergangenheit hat die Klientin
wieder eingeholt. Sie fühlt sich dermaßen ausgenutzt und
bloßgestellt, dass Wut und Zorn auf ihn Exmann aufkommen, weil er
ihr das angetan hat. Gleichzeitig ist sie auch auf sich wütend,
weil sie sich so lange ausbeuten ließ.
Hinzu kommen neuerdings wieder massive
Belästigungen durch den Exmann. Da er sie öfters mit einem anderen
Mann spazieren gehen sieht, lauert er seiner Exfrau verstärkt auf.
Er schickt ihr Liebes- und Drohbriefe. Die Schwächung durch die
Kur, die Therapiepause und die Bedrohung durch den Exmann führen
die Klientin in eine schwere Krise. Sie steht erstmals seit
Therapiebeginn vor der Einweisung in die Psychiatrie, was aber
letztendlich nicht notwendig wird.
Frau E. hat eine schicksalhafte Todesangst vor
ihrem Exmann. Sie glaubt, dass sie eines Tages von ihm umgebracht
wird und fühlt sich von ihrer Umwelt in dieser Hinsicht überhaupt
nicht ernstgenommen. Sie meint, dass man ihr erst glauben wird,
wenn es zu spät ist. Ich nehme sie in dieser Hinsicht sehr ernst.
Wir erarbeiten gemeinsam Verteidigungsmöglichkeiten, ich
organisiere eine Rechtsberatung, und Möglichkeiten der
Unterstützung bei Abendspaziergängen mit dem Hund durch Töchter
oder Bekannte, die sich anbieten. Frau E. droht die Gefahr diese
schicksalhafte Ermordung durch den Exmann hinzunehmen bzw. darauf
zu warten.
Ich unterstütze die Klientin aktiv zu werden. Sie
erwirkt schließlich, dass ihr Exmann vom Amtsarzt zitiert wird und
ihm eine Einweisung in die Psychiatrie angedroht wird, um ihn
abzuschrecken. Die Abschreckung gelingt. und Frau E. beruhigt sich
zur 50. Stunde hin wieder etwas.
Bei all den depressiven Rückfällen und ständigen
Bedrohungsszenarien wird mir Frau E. immer vertrauter und ich
erlebe mich auch etwas geduldiger im Erarbeiten von Veränderungen.
Das gemeinsame erfolgreiche Durchleben der vielen Krisen festigt
die therapeutische Beziehung und eröffnet uns immer mehr
Möglichkeiten im Hinterfragen der Lebensumstände und ihrer
Bedeutung für Frau E.
Im Sinne des Prozesskontinuums ist das Erleben oft
auf Stufe 4 anzusiedeln. Frau E. erforscht sich und wirkt dabei
geängstigt und verwirrt durch ihr Erleben. Sie versteht sich aber
zunehmend als fühlendes Wesen, sie spürt ihre Verwundungen und
erlebt sich als Gefangene in ihrer Haut. Manche Gefühle nimmt sie
aber unmittelbar war und werden in die Therapie eingebracht: z. B.
ich fühle mich ausgenutzt, ich sehne mich
nach jemandem, der mich annimmt, wie ich bin.
Dies weißt darauf hin, dass sie sich in ihrem
Erleben manchmal auch schon am Beginn von Stufe 5 befindet.
Ihr werden viele ihrer Sehnsüchte zugänglich und sie erkennt
ansatzweise auch die Berechtigung für ihre Wünsche, wobei sie
immer wieder den Bezug dazu verliert. Frau E. ist in dieser
Hinsicht für mich schwer einzuschätzen. Sehr viele Empfindungen
und intensive Gefühle brechen aus ihr heraus und ich hab das
Gefühl, dass sie sie zwischendurch annähernd voll erlebt. Dies
würde meiner Meinung nach für eine Einreihung in Stufe 5 sprechen.
Auch wenn Rogers schreibt: „Er (Klient, Anm. Verf.) weiß, dass er
etwas erlebt hat; er weiß nur nicht genau, was das ist.“
Diese Feststellung möchte ich für Frau E. ebenso treffen:
Mir ist sehr wichtig, das in meinem Leben
Harmonie herrscht, ich weiß aber nicht, warum es mich fertigmacht,
wenn das nicht der Fall ist?
Rogers schreibt aber auch weiter: „Doch ihm (dem
Klienten, Anm. Verf.) dämmert die Erkenntnis, dass es sich hier um
eine echte organismische Erfahrung handelt, an der er die
Gültigkeit seiner Äußerungen und Wahrnehmungen überprüfen kann.
In ihm ist etwas, an das er sich halten
kann.“
Diese organismische Erfahrung ist meiner Meinung nach Frau E.
nicht in diesem Sinne zugänglich. Festzuhalten ist jedoch, das
sich Frau E. weiterhin auf dem Weg befindet, zunehmend Einsicht in
ihre Empfindungen bzw. in ihr Erleben zu erlangen.
Der Titel des folgenden Therapieverlaufes könnte
unter dem Motto Energiehaushalt stehen. Mir wird dabei bewusst,
wie wichtig es in einer Therapie ist, darauf zu achten, dass die
Klienten, die sich in Psychotherapie befinden, ausreichend Kraft
und Energie für den Bearbeitungsprozess haben:
Frau E. arbeitet in allen Lebensbereichen daran,
sich abzugrenzen, ihre Vorstellungen einzubringen bzw.
durchzusetzen. Dies führt zu einer Reihe innerer und äußerer
Konflikte
Ein besonderes Übungsfeld sieht sie im
Tageszentrum, dass sie beständig besucht und ihr zur zweiten
Heimat geworden ist, wie sie sagt. Nahm sie aber früher die
Eigenheiten der anderen Gruppenmitglieder scheinbar
verständnisvoll hin – innerlich ärgerte sie sich oft furchtbar und
war gekränkt - so bringt sie zunehmend ihre Beschwerden und
Wünsche ein und erhebt teilweise den Führungsanspruch für die
Gruppe.
Dabei wundert sie sich, dass sie ständig mit
anderen in Konflikte verwickelt ist und fühlt sich unverstanden
bezüglich der Rücksichtslosigkeit der anderen ihr gegenüber. Bis
sie das Gefühl der Stärke und ihre Führungs- und
Gestaltungsbestrebungen in ihr Selbstbild integriert haben wird,
wird es wohl noch dauern. In der Therapie kommt sie damit aber
beständig in Kontakt. Ich ermutige und konfrontiere sie auch in
diesem Sinne.
Beständiger Wegbegleiter im Therapieverlauf ist die
Verantwortung für andere. Frau E. nimmt nunmehr zusehends das
Dilemma war, indem sie steckt, wenn sie sich ständig nach den
anderen richtet. Sie plant ihr Leben und setzt je nach Befinden
entsprechende Aktivitäten. Dies wird aber aus ihrer Sicht immer
gestört durch die Anforderungen der Umwelt. Jeder möchte etwas
bzw. braucht etwas von ihr. Dies führt dazu, dass sie sich am
liebsten total zurückziehen möchte, weil sie dies nicht bewältigen
kann und immer bewussterwerdend nicht will.
Sie leidet sehr unter dem
Gefühl der Fremdbestimmung durch andere. Zunehmend wird ihr dabei
bewusst, dass die Forderungen ihres Selbstideals, unbedingt für
die anderen dazusein, ihr nicht behagt, merkt aber gleichzeitig,
dass sie sich schwer davon lösen kann. Genährt wird dies von der
Ausrichtung an den Bedürfnissen anderer. In der Klientin lebt das
organismische Bedürfnis, von anderen angenommen zu werden bzw. das
Gefühl vermittelt zu bekommen, es wert zu sein, zu leben. Die
äußeren Bewertungsbedingungen, die ihr Selbstideal stützen,
gestatten es ihr aber nur zu sein, solange sie nützlich ist und
etwas leisten kann.
Dabei merkt die Klientin
zunehmend, wie sich ihr körperlicher Zustand verschlechtert und
sie nicht einmal mehr Handarbeiten kann, da sich ihre Finger an
beiden Händen nur schwer bewegen lassen. Dies erhöht ihren
Leidensdruck neuerdings.
Ich versuche Frau E. zu vermitteln, dass sie
bedingungslos sein darf und es immer wert ist, zu leben, egal
ob sie etwas leistet oder nicht. In solchen Sequenzen, wo ich ihr
dies direkt sage, kommt immer eine feierliche Stimmung auf und die
Klientin ist meist sehr berührt, wenngleich auch ungläubig, denn
das kann nach ihrem Lebensverständnis doch wirklich nicht
ausreichen.
Weiters versuche ich dieses zwanghafte
Nützlichseinmüssen dadurch zu entkräften, dass die Klientin ja
bereits in Pension ist und mit all ihren Tätigkeiten nach wie vor
einer Halbtagsbeschäftigung nachgeht. Frau E. passt in dieser Zeit
auch drei Wochen lang auf die neunjährige Enkeltochter auf, was
sie total auslaugt. Sie sieht dabei zunächst weniger ihre Leistung
und was sie immer noch zu tun fähig ist. Dies versuche ich in der
Therapie mit ihr zu erarbeiten, um allgemeine Ängste vor dem Alt-
und Bedürftigwerden an die konkreten tatsächlichen momentanen
Umstände anzupassen.
Insgesamt wurde es notwendig, die Tages- und
Wochenstruktur von Frau E. gemeinsam zu durchleuchten und nach dem
Minimalzustand für persönliche Freiheit neu zu gestalten. Dieses
Vorhaben bringe ich daher ein, weil ich erlebe, wie
beziehungssehnsüchtig Frau E. auf der einen Seite ist und wie
wenig sie ihre Beziehungen auf der anderen Seite, auch jene die
ihr wichtig sind, leben kann. Übrig bleibt eine undifferenzierte
Sehnsucht nach Ruhe, die eigentlich eine Sehnsucht nach
aufbauenden harmonischen Beziehungen ist. Zumindest
ist dies meine These.
Auf diesem Hintergrund und mit dem Schwerpunkt
darauf, was sich Frau E. an Zeit führ sich wünschen würde, wird
ein zusätzlicher freier Tag im Tageszentrum, den Frau E. mit dem
leitenden Betreuer ausverhandelt und ein familienfreier
Tag, an dem sie ihre Kinder nicht stören dürfen, eingerichtet.
Frau E. organisiert dies beherzt, kontaktiert alle Betreffenden
und ist total erleichtert, dass sie es wagen kann, einen ganzen
Tag in der Woche für sich frei zur Verfügung zu haben. Ich
bin auch immer wieder überrascht, wie schnell sie Dinge umsetzt,
bei denen sie Unterstützung erfährt. In ihr müssen diese
Sehnsüchte wohl sehr massiv dasein und es dürfte immer wieder der
Mut fehlen, selbstsüchtig etwas nur für sich durchzusetzen.
Insgesamt hat diese Intervention Frau E. ungemein
viel an Lebensqualität und Lebensenergie gebracht. Sie ist zwar
nach wie vor oft müde, hat aber nicht mehr den ständigen Stress
ihren Lebensanforderungen hinterherlaufen zu müssen. Zunehmend,
genährt von Enttäuschungen durch ihre Umwelt, keimt ein Gefühl in
ihr auf, dass sie auch das Recht hat, ihr Leben zu leben, da die
anderen dies ja auch tun.
Die Bearbeitung ihrer Vergangenheit basiert immer
wieder in der Art einer Lebensbilanz. Dabei erkennt Frau E.,
wiesehr sie gegen ihre eigenen Lebensvorstellungen gehandelt hat
und ist wütend auf sich, dass sie sich nicht schon viel früher von
ihrem Ehemann getrennt hat. Vieles an Belastendem wird hier
wahrscheinlich noch aufbrechen.
Das
Therapiegeschehen verläuft weiterhin zwischen den Stufen 4 und 5
im Sinne des Prozesskontinuums.
Frau E. ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung der
vorliegenden Arbeit weiterhin bei mir in Therapie und wird dies
wohl auch noch längere Zeit bleiben.
Ich erlebe die Arbeit mit ihr immer wieder wie auf
einer Hochschaubahn: einmal oben, dann wieder tief unten.
Unvermutet und plötzlich geht es bergab. Dann ist die Klientin in
einer Krisensituation bzw. Depression und scheint alles Erreichte
für immer verschwunden, bis der zähe Weg nach oben wieder
eingeschlagen ist und das vorher Erreichte plötzlich wieder zur
Verfügung steht. Das fasziniert mich am Therapieverlauf besonders,
weil ich selbst immer wieder überrascht bin, wie wenig Perspektive
auch ich manchmal sehe und wie schnell sich das für Frau E. ändern
kann.
Das Therapieziel sich von ihrem Exmann zu lösen ist
weit fortgeschritten und zumindest äußerlich erreicht. Die
Bearbeitung der traumatischen Lebensereignisse wird wohl noch
einige Zeit in Anspruch nehmen, da die Klientin nach wie vor tief
betroffen darüber ist. Das Ziel der Annahme der eigenen
Lebensgeschichte, um Eigenliebe und Eigenfürsorge als berechtigte
Gefühle zu gestatten, bleibt für mich nach wie aufrecht.
Gelungen ist es sicher, auch den Selbstwert der
Klientin zu heben und die Entwicklung hinsichtlich mehr Autonomie
voranzutreiben. Das weite Konfliktfeld zwischen Selbstbild,
Organismischem, Selbstideal und äußeren, verinnerlichten Norm- und
Wertvorstellungen bleibt ein ebensolches.
Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass
Frau E. seit Beginn der Therapie keinen stationären
Psychiatrieaufenthalt mehr in Anspruch nehmen musste und den
massiven Medikamenteneinfluss vorsichtiger und bedächtiger
handhabt. Sie möchte selbst bewusster leben und mehr erleben.
Negativ für den weiteren Behandlungsverlauf ist
sicher das alters- und krankheitsbedingte Mehr an
Angewiesensein auf andere und die damit verbundenen
Zukunftsängste.