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Depressive Verstimmung

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5.4 Therapieverlauf der 30. bis 50. Stunde

Vorauszuschicken ist, dass sich die Themen der vorangegangenen Stunden immer wiederholen. Die Einstellung und Gefühle von Frau E. zu den einzelnen Lebensthemen hängen stark davon ab, ob sich Frau E. in einer depressiven Phase befindet oder nicht.

Hier zeigen sich zwei charakteristische Seiten des momentanen Therapieverlaufes, die sich von Stunde zu Stunde abwechseln können. Stabil und ohne Bedrohung von außen ist sie eher zuversichtlich und bewegt sich in Richtung Autonomieentwicklung. Kommt der Exmann und die Vergangenheit ins Spiel, ist sie total am Boden zerstört und möchte sich das Leben nehmen. In dieser Spannung verlaufen die folgenden Stunden.

In stabilen Phasen wirkt Frau E. zuversichtlich und lernt mehr und mehr eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken. Neu ist dabei, dass sie wahrnimmt, wenn sie sich zuviel zumutet oder sich einer Situation aussetzt, die ihr nicht guttut. Sie sorgt phasenweise auch schon recht gut für sich, indem sie z. B. eben die belastende Situation verändert: ich hab die Geburtstagsfeier abgesagt und jetzt ist mir gleich viel besser zu Mute... oder ich habe einen Besuch bei den Kindern abgebrochen, weil es mir zuviel wurde und ich ihn nicht bis zum bitteren Ende ertragen wollte.

Natürlich bleibt sie weiter geprägt von ihren Harmoniebedürfnissen und schuldhaften Gefühlen, wenn sie sich den anderen nicht bedingungslos hingibt. Sie ist aber auch phasenweise stolz darauf, wenn sie sich abgrenzen kann. Ich versuche diese Autonomiebestrebungen so gut es geht zu unterstützen bzw. mit der Klientin zu erarbeiten. Gefühle der Vernachlässigung und Gefühle des Ausgebeutetwerdens: ich fühl mich wie ein Apparat, der ohne Knopfdruck und Wartung funktionieren soll und der, wenn er nicht gebraucht wird, dann zur Seite gestellt wird, treten öfter auf, gemeinsam mit dem Ärger über die anderen. So wird es dem Selbstbild der Klientin mehr und mehr möglich sich mit selbstidealkritische Positionen (ich möchte mich nicht so ausbeuten lassen) auseinanderzusetzen bzw. auch sich davon abzugrenzen.

Mehr innere Ruhe tritt auf, wenn sie vom Exmann wenig bis gar nichts zu hören bekommt. Ihre körperlichen Symptome sind in diesen Phasen ebenso leichter zu ertragen. Die Klientin nimmt den psychosomatischen Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen und psychischem Stress wahr und benennt ihn auch.

Zum erstenmal seit Behandlungsbeginn spricht sie, wenngleich sehr verschämt und meine Reaktion abwartend, ihre Beziehungssehnsüchte an. Sie fühlt sich zu einem Mann hingezogen, ist aber verunsichert und vorsichtig, inwieweit sie sich ihm nähern soll. Auf mich wirkt sie verliebt.

Damit kommt zur gewöhnlichen Schwere in der Bearbeitung etwas Leichtigkeit auf. Frau E. äußert das Gefühle des Verliebtseins zunächst abwartend - ablehnend. Es sei ihr quasi lästig, in jedem Fall bedrückt sie diese Situation. Ich glaube vielmehr, dass sie eine Zurechtweisung meinerseits erwartet, wie sie sich denn bei ihren negativen Erfahrungen wieder mit einem Mann einlassen könne.

Da ich nicht negativ reagiere, sondern verständnisvoll und eher erfreut, weicht die Verschämung und können die Sehnsucht nach einem Partner sowie die Angst sich einzulassen bearbeitet werden. Die Klientin fühlt sich verstanden und kann sich dadurch öffnen.

Zu dieser stabileren Phase möchte ich ein Transkript aus der 46. Stunde anführen. Thema ist die Bedeutung der Harmonie für die Klientin und der Versuch in der therapeutischen Arbeit die organismische Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe in Verbindung mit dem Harmoniebedürfnis zu erfassen. Dabei geht es um die Bewertungsbedingungen des Selbstkonzeptes für die Deutung von Erfahrungen. Streiten, sich Durchsetzten, um etwas Kämpfen stehen in Konflikt mit dem Harmoniebedürfnis von Frau E. und scheinen Beziehung zu verunmöglichen. Sie werden als ungeheuer belastend empfunden bzw. führen in die Depression. Nun zum Transkript:

Kl 1:

Mir ist einfach nur wichtig, dass die Harmonie herrscht.

Äußern der organismischen Sehnsucht nach Wohlklang und Harmonie.

Th 1:

Mhmm. Das ist ihr Zauberwort fürs Leben, die Harmonie.

Versuch empathisch den inneren Bezugsrahmen der Klientin zu erfassen. Erarbeitung der Bedeutung für die Klientin.

Kl 2:

Ja, das ist mir eigentlich sehr wichtig, ja.

Eindeutige Zustimmung, Klientin fühlt sich verstanden.

Th 2:

Sobald etwas nicht harmonisch ist, das geht sie dann schlimm an-

An das Selbstkonzept gerichtete Intervention zur weiteren Vertiefung des Erlebens.

Kl 3:

Ja, das geht mich derart an, ich, ich weiß nicht warum?

Hinterfragung des Erlebens bzw. des organismischen Hintergrundes.

Th 3:

So ganz eine große Sehnsucht, dass eine Ruhe herrscht.

Aufspüren des organismischen Bedürfnisses.

Kl 4:

Mhmm.

Die Klientin bestätigt die Intervention.

Th 4:

Oder ein Einklang vielmehr?

Versuche weiter zu differenzieren.

Kl 5:

Ja, das ist von Kind auf schon immer so gewesen. Ich weiß nicht, das ist halt,-

Klientin bleibt im Selbstexplorationsprozess.

Th 5:

Ihr wichtigstes Lebensprinzip, der Einklang?

Weitere Verdichtung der Bedeutung der Harmonie.

Kl 6:

Ja.

Klientin fühlt sich erkannt und stimmt zu.

Th 6:

Nicht für alles immer kämpfen oder streiten müssen -

Versuch empathisch organismische Sehnsucht nach Harmonie und Geborgenheit zu erschließen und die Erschöpfung durch die ständigen Kämpfe aufzugreifen.

Kl 7:

Ja!

Totale Zustimmung.

Th 7:

Sondern einfach nur sein dürfen?

Aufspüren der basalen Sehnsucht leben zu dürfen, was sie nie erlebte.

Kl 8:

Das kostet mich viele Nerven, muss ich sagen und Kraft.

Klientin geht zurück zu Belastendem, Kraftraubendem.

Th 8:

Das Streiten?

Verständnisfrage des Bezuges.

Kl 9:

Ja.

Zustimmung.

Th 9:

Bringt sie oft sogar in Versuchung, dass sie gar nicht mehr sein möchten.

Intervention zur existentiellen Frage: wenn wesentliche Lebenssehnsüchte nicht erfüllt werden und das Leben nur ein Streit und Kampf ist, der mit allen Harmoniewünschen ständig kollidiert, wird es aussichtslos und der depressive Zusammenbruch bzw. der Tod  bleiben die  letzte Möglichkeit.

Kl 10:

Ja, ich sag eh, das ist so eigenartig- Ich hab gerade heute gesprochen, wenn ich so ein Tief hab, da kommt mir vor, jede Stunde oder Jahr oder Monat ist zulang, was ich lebe und nachher, wenn ich wieder besser drauf bin, dann kommt mir vor, ist das Leben fast zu kurz, dass ich das alles unterbringe, was ich plane.

Klientin schildert ihre gefühlsmäßigen Ambivalenzen, ja geradezu zwei Aggregatszustände: depressiv und nicht depressiv. Sie sucht nach Erklärungen und geht weg vom Erleben.

Th 10:

Mhmm.

Ich überlege und bin etwas überrascht vom neuen Aspekt.

Kl 11:

Ich weiß nicht?

Klientin versucht sich zu verstehen.

Th 11:

Sie machen sich auch sehr abhängig von ihrer Harmonie.

Ich versuche einen Zusammenhang zwischen Harmoniebedürfnis und Depressivität herzustellen.

Kl 12:

Mhmm.

Die Klientin ist damit konfrontiert und überlegt.

Th 12:

Denk ich mir.

Versuche die vorige Intervention etwas abzuschwächen, da ich der Klientin dafür keinen Vorwurf machen möchte und keine Schuldgefühle erzeugen will.

Kl 13:

Mhmm.

Die Klientin fühlt das Dilemma.

Th 13

Das ist etwas, was man sich wünscht, das ist klar, nur wenn sie sie nicht haben, dann werfen sie alles andere über Bord.

Versuche den Mechanismus der Bewertungsbedingungen für das Selbstkonzept aufzuzeigen und verständnisvoll zu vermitteln.

Kl 14:

Ja.

Klientin fühlt sich verstanden.

Th 14:

Sie sind auch sehr abhängig davon.

Weiterführung der Intervention Th 13.

Kl 15:

Ja, und wie kann ich das ändern. Lacht

Klientin fühlt sich erkannt, es kommt überraschend Humor auf.

Th 15:

Lache auch. Ich werde ihnen dann ein Rezept ausstellen.

- Ich denk sie können eh schon besser mit Konflikten umgehen, was ja früher nicht so gut gegangen ist.

Ich bin verunsichert und fühle mich kritisiert. Ich glaube der Klientin sofort Rede und Antwort stehen zu müssen und versuche auch gleich Antworten zu geben. Dabei beginne ich eine Bilanz des bisher Geleisteten zu ziehen, um zu verdeutlichen, dass schon viel erreicht wurde, auch wenn noch einiges offen ist.

 

Kl 16:

Ja.

Klientin stimmt zu.

Th 16:

Jetzt können sie ja auch schon, wenn irgendwo eine Spannung ist -einschreiten. Ich denke es geht auch darum, die Spannungen für sich wahrzunehmen.

Ich versuche weitere gemeinsame Vorhaben bzw. Ziele zu skizzieren..

Kl 17:

Mhmm.

 

Th 17:

Was sie immer mehr lernen. Wenn sie etwas stört; dieses einzubringen, dass sie das Recht haben, dass sie etwas stören darf. Weil da sind sie oft schnell gekränkt und im Gekränktsein werden sie dann handlungsunfähig, da können sie dann nichts mehr tun, außer eben, sich den Tod zu wünschen.

Ich versuche der Klientin mitzuteilen, wie ich sie und ihr Leben empathisch verstehe.

Kl 18:

Ja, es ist eigentlich unvermutet gekommen, wie ich da das Tief gehabt habe. Ich mein, ich war schon, beeinträchtigt und hab Schmerzen gehabt, aber ich weiß nicht, was so nicht gepasst hat. Ich kann es gar nicht so richtig sagen. Dann hab ich Besuch gehabt und eine Freude, dass ich diese Frau getroffen hab und meinen Freund hab ich auf einen Kaffee eingeladen, der ist dann noch gekommen und dann reden wir so. Eigentlich ist es nur darum gegangen, über die Vergangenheit und da bin ich total wieder ins Tief hineingeschlittert.

Klientin spannt den Bogen zu einer konkreten Situation, die sie aufrüttelte bzw. wie sie trotz angenehmen Umweltbedingungen in ein „Tief“ hineinfällt und wie unvermutet dies geschehen kann.

Th 18:

Ja, also was sie mit der Vergangenheit in Verbindung bringt, da sind sie dann weg. Das zieht sie hinunter.

Ich stelle die Verbindung zu traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit her, die oft Auslöser für ein Tief sind.

Kl 19:

Ja, da hab ich derartig Migräne bekommen und...

Es kommt zur Weiterbearbeitung der Hintergründe für ihre Entwicklung und den Einfluss von äußeren Faktoren, auf den inneren Zustand .

Im Laufe der 34. Stunde teilt mir die Klientin mit, dass sie die Therapie in den nächsten Wochen beenden wolle, weil es ihr um soviel besser geht. Ich akzeptiere dies und vergesse, meine Musterschülerin in dieser Entscheidung zu hinterfragen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt überrascht und hoch erfreut über die scheinbar schnellen Fortschritte der Klientin. Frau E. hat aber auch andere Motive und will, weil sie merkt, dass es ihr besser geht, den Therapieplatz in ihrer Selbstlosigkeit für andere freigeben und nicht unnötig blockieren. Mir fehlt einfach die Erfahrung mit schweren, langen depressiven Therapieverläufen, als dass ich dies zum Thema mache. Die Therapie beansprucht mich bis zu diesem Zeitpunkt schon sehr, sodass ich froh bin, dass es der Klientin so gut geht, und sie glaubt wieder alleine zurechtzukommen.

Wir vereinbaren eine vierzehntägige Frequenz der Therapiestunden, die im Falle einer Verschlechterung des Zustandes der Klientin, wieder auf den wöchentlichen Rhythmus verändert werden soll. Wir verändern die Frequenz dann auch sehr schnell wieder, da sich der Zustand von Frau E. schnell wieder verschlechtert.

Im Therapiegeschehen gibt es in diesem Zeitraum auch Krisen. Diese treten meist dann ein, wenn Gefühle aus der Vergangenheit auftauchen. Dann verschlechtert sich der Zustand von Frau E. plötzlich.

In diese Zeit fällt auch ein dreiwöchiger Kuraufenthalt der Klientin, der ihr eigentlich zur Erholung dienen soll, aber genau das Gegenteil bewirkt, da eine Bekannte, die viel über ihren Exmann weiß, zufällig gemeinsam mit ihr auf Kur ist und viele Frauengeschichten über ihn erzählt. Frau E. ist am Boden zerstört, erleidet, wie sie sagt noch während der Kur einen Nervenzusammenbruch, und kommt völlig aufgelöst zu mir.

Der Schmerz der Vergangenheit hat die Klientin wieder eingeholt. Sie fühlt sich dermaßen ausgenutzt und bloßgestellt, dass Wut und Zorn auf ihn Exmann aufkommen, weil er ihr das angetan hat. Gleichzeitig ist sie auch auf sich wütend, weil sie sich so lange ausbeuten ließ.

Hinzu kommen neuerdings wieder massive Belästigungen durch den Exmann. Da er sie öfters mit einem anderen Mann spazieren gehen sieht, lauert er seiner Exfrau verstärkt auf. Er schickt ihr Liebes- und Drohbriefe. Die Schwächung durch die Kur, die Therapiepause und die Bedrohung durch den Exmann führen die Klientin in eine schwere Krise. Sie steht erstmals seit Therapiebeginn vor der Einweisung in die Psychiatrie, was aber letztendlich nicht notwendig wird.

Frau E. hat eine schicksalhafte Todesangst vor ihrem Exmann. Sie glaubt, dass sie eines Tages von ihm umgebracht wird und fühlt sich von ihrer Umwelt in dieser Hinsicht überhaupt nicht ernstgenommen. Sie meint, dass man ihr erst glauben wird, wenn es zu spät ist. Ich nehme sie in dieser Hinsicht sehr ernst. Wir erarbeiten gemeinsam Verteidigungsmöglichkeiten, ich organisiere eine Rechtsberatung, und Möglichkeiten der Unterstützung bei Abendspaziergängen mit dem Hund durch Töchter oder Bekannte, die sich anbieten. Frau E. droht die Gefahr diese schicksalhafte Ermordung durch den Exmann hinzunehmen bzw. darauf zu warten.

Ich unterstütze die Klientin aktiv zu werden. Sie erwirkt schließlich, dass ihr Exmann vom Amtsarzt zitiert wird und ihm eine Einweisung in die Psychiatrie angedroht wird, um ihn abzuschrecken. Die Abschreckung gelingt. und Frau E. beruhigt sich zur 50. Stunde hin wieder etwas.

Bei all den depressiven Rückfällen und ständigen Bedrohungsszenarien wird mir Frau E. immer vertrauter und ich erlebe mich auch etwas geduldiger im Erarbeiten von Veränderungen. Das gemeinsame erfolgreiche Durchleben der vielen Krisen festigt die therapeutische Beziehung und eröffnet uns immer mehr Möglichkeiten im Hinterfragen der Lebensumstände und ihrer Bedeutung für Frau E.

Im Sinne des Prozesskontinuums ist das Erleben oft auf Stufe 4 anzusiedeln. Frau E. erforscht sich und wirkt dabei geängstigt und verwirrt durch ihr Erleben. Sie versteht sich aber zunehmend als fühlendes Wesen, sie spürt ihre Verwundungen und erlebt sich als Gefangene in ihrer Haut. Manche Gefühle nimmt sie aber unmittelbar war und werden in die Therapie eingebracht: z. B. ich fühle mich ausgenutzt, ich sehne mich nach jemandem, der mich annimmt, wie ich bin.

Dies weißt darauf hin, dass sie sich in ihrem Erleben manchmal auch schon am Beginn von Stufe 5 befindet. Ihr werden viele ihrer Sehnsüchte zugänglich und sie erkennt ansatzweise auch die Berechtigung für ihre Wünsche, wobei sie immer wieder den Bezug dazu verliert. Frau E. ist in dieser Hinsicht für mich schwer einzuschätzen. Sehr viele Empfindungen und intensive Gefühle brechen aus ihr heraus und ich hab das Gefühl, dass sie sie zwischendurch annähernd voll erlebt. Dies würde meiner Meinung nach für eine Einreihung in Stufe 5 sprechen. Auch wenn Rogers schreibt: „Er (Klient, Anm. Verf.) weiß, dass er etwas erlebt hat; er weiß nur nicht genau, was das ist.“[5] Diese Feststellung möchte ich für Frau E. ebenso treffen: Mir ist sehr wichtig, das in meinem Leben Harmonie herrscht, ich weiß aber nicht, warum es mich fertigmacht, wenn das nicht der Fall ist?

Rogers schreibt aber auch weiter: „Doch ihm (dem Klienten, Anm. Verf.) dämmert die Erkenntnis, dass es sich hier um eine echte organismische Erfahrung handelt, an der er die Gültigkeit seiner Äußerungen und Wahrnehmungen überprüfen kann.

In ihm ist etwas, an das er sich halten kann.“[6] Diese organismische Erfahrung ist meiner Meinung nach Frau E. nicht in diesem Sinne zugänglich. Festzuhalten ist jedoch, das sich Frau E. weiterhin auf dem Weg befindet, zunehmend Einsicht in ihre Empfindungen bzw. in ihr Erleben zu erlangen.

5.5 Therapieverlauf der 50. bis 70. Stunde

Der Titel des folgenden Therapieverlaufes könnte unter dem Motto Energiehaushalt stehen. Mir wird dabei bewusst, wie wichtig es in einer Therapie ist, darauf zu achten, dass die Klienten, die sich in Psychotherapie befinden, ausreichend Kraft und Energie für den Bearbeitungsprozess haben:

Frau E. arbeitet in allen Lebensbereichen daran, sich abzugrenzen, ihre Vorstellungen einzubringen bzw. durchzusetzen. Dies führt zu einer Reihe innerer und äußerer Konflikte

Ein besonderes Übungsfeld sieht sie im Tageszentrum, dass sie beständig besucht und ihr zur zweiten Heimat geworden ist, wie sie sagt. Nahm sie aber früher die Eigenheiten der anderen Gruppenmitglieder scheinbar verständnisvoll hin – innerlich ärgerte sie sich oft furchtbar und war gekränkt - so bringt sie zunehmend ihre Beschwerden und Wünsche ein und erhebt teilweise den Führungsanspruch für die Gruppe.

Dabei wundert sie sich, dass sie ständig mit anderen in Konflikte verwickelt ist und fühlt sich unverstanden bezüglich der Rücksichtslosigkeit der anderen ihr gegenüber. Bis sie das Gefühl der Stärke und ihre Führungs- und Gestaltungsbestrebungen in ihr Selbstbild integriert haben wird, wird es wohl noch dauern. In der Therapie kommt sie damit aber beständig in Kontakt. Ich ermutige und konfrontiere sie auch in diesem Sinne.

Beständiger Wegbegleiter im Therapieverlauf ist die Verantwortung für andere. Frau E. nimmt nunmehr zusehends das Dilemma war, indem sie steckt, wenn sie sich ständig nach den anderen richtet. Sie plant ihr Leben und setzt je nach Befinden entsprechende Aktivitäten. Dies wird aber aus ihrer Sicht immer gestört durch die Anforderungen der Umwelt. Jeder möchte etwas bzw. braucht etwas von ihr. Dies führt dazu, dass sie sich am liebsten total zurückziehen möchte, weil sie dies nicht bewältigen kann und immer bewussterwerdend nicht will.

Sie leidet sehr unter dem Gefühl der Fremdbestimmung durch andere. Zunehmend wird ihr dabei bewusst, dass die Forderungen ihres Selbstideals, unbedingt für die anderen dazusein, ihr nicht behagt, merkt aber gleichzeitig, dass sie sich schwer davon lösen kann. Genährt wird dies von der Ausrichtung an den Bedürfnissen anderer. In der Klientin lebt das organismische Bedürfnis, von anderen angenommen zu werden bzw. das Gefühl vermittelt zu bekommen, es wert zu sein, zu leben. Die äußeren Bewertungsbedingungen, die ihr Selbstideal stützen, gestatten es ihr aber nur zu sein, solange sie nützlich ist und etwas leisten kann.

Dabei merkt die Klientin zunehmend, wie sich ihr körperlicher Zustand verschlechtert und sie nicht einmal mehr Handarbeiten kann, da sich ihre Finger an beiden Händen nur schwer bewegen lassen. Dies erhöht ihren Leidensdruck neuerdings.

Ich versuche Frau E. zu vermitteln, dass sie bedingungslos sein darf und es immer wert ist, zu leben, egal ob sie etwas leistet oder nicht. In solchen Sequenzen, wo ich ihr dies direkt sage, kommt immer eine feierliche Stimmung auf und die Klientin ist meist sehr berührt, wenngleich auch ungläubig, denn das kann nach ihrem Lebensverständnis doch wirklich nicht ausreichen.

Weiters versuche ich dieses zwanghafte Nützlichseinmüssen dadurch zu entkräften, dass die Klientin ja bereits in Pension ist und mit all ihren Tätigkeiten nach wie vor einer Halbtagsbeschäftigung nachgeht. Frau E. passt in dieser Zeit auch drei Wochen lang auf die neunjährige Enkeltochter auf, was sie total auslaugt. Sie sieht dabei zunächst weniger ihre Leistung und was sie immer noch zu tun fähig ist. Dies versuche ich in der Therapie mit ihr zu erarbeiten, um allgemeine Ängste vor dem Alt- und Bedürftigwerden an die konkreten tatsächlichen momentanen Umstände anzupassen.

Insgesamt wurde es notwendig, die Tages- und Wochenstruktur von Frau E. gemeinsam zu durchleuchten und nach dem Minimalzustand für persönliche Freiheit neu zu gestalten. Dieses Vorhaben bringe ich daher ein, weil ich erlebe, wie beziehungssehnsüchtig Frau E. auf der einen Seite ist und wie wenig sie ihre Beziehungen auf der anderen Seite, auch jene die ihr wichtig sind, leben kann. Übrig bleibt eine undifferenzierte Sehnsucht nach Ruhe, die eigentlich eine Sehnsucht nach

aufbauenden harmonischen Beziehungen ist. Zumindest ist dies meine These.

Auf diesem Hintergrund und mit dem Schwerpunkt darauf, was sich Frau E. an Zeit führ sich wünschen würde, wird ein zusätzlicher freier Tag im Tageszentrum, den Frau E. mit dem leitenden Betreuer ausverhandelt und ein familienfreier Tag, an dem sie ihre Kinder nicht stören dürfen, eingerichtet. Frau E. organisiert dies beherzt, kontaktiert alle Betreffenden und ist total erleichtert, dass sie es wagen kann, einen ganzen Tag in der Woche für sich frei zur Verfügung zu haben. Ich bin auch immer wieder überrascht, wie schnell sie Dinge umsetzt, bei denen sie Unterstützung erfährt. In ihr müssen diese Sehnsüchte wohl sehr massiv dasein und es dürfte immer wieder der Mut fehlen, selbstsüchtig etwas nur für sich durchzusetzen.

Insgesamt hat diese Intervention Frau E. ungemein viel an Lebensqualität und Lebensenergie gebracht. Sie ist zwar nach wie vor oft müde, hat aber nicht mehr den ständigen Stress ihren Lebensanforderungen hinterherlaufen zu müssen. Zunehmend, genährt von Enttäuschungen durch ihre Umwelt, keimt ein Gefühl in ihr auf, dass sie auch das Recht hat, ihr Leben zu leben, da die anderen dies ja auch tun.

Die Bearbeitung ihrer Vergangenheit basiert immer wieder in der Art einer Lebensbilanz. Dabei erkennt Frau E., wiesehr sie gegen ihre eigenen Lebensvorstellungen gehandelt hat und ist wütend auf sich, dass sie sich nicht schon viel früher von ihrem Ehemann getrennt hat. Vieles an Belastendem wird hier wahrscheinlich noch aufbrechen.

Das Therapiegeschehen verläuft weiterhin zwischen den Stufen 4 und 5 im Sinne des Prozesskontinuums.

5.6 Abschließende Bemerkungen

Frau E. ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit weiterhin bei mir in Therapie und wird dies wohl auch noch längere Zeit bleiben.

Ich erlebe die Arbeit mit ihr immer wieder wie auf einer Hochschaubahn: einmal oben, dann wieder tief unten. Unvermutet und plötzlich geht es bergab. Dann ist die Klientin in einer Krisensituation bzw. Depression und scheint alles Erreichte für immer verschwunden, bis der zähe Weg nach oben wieder eingeschlagen ist und das vorher Erreichte plötzlich wieder zur Verfügung steht. Das fasziniert mich am Therapieverlauf besonders, weil ich selbst immer wieder überrascht bin, wie wenig Perspektive auch ich manchmal sehe und wie schnell sich das für Frau E. ändern kann.

Das Therapieziel sich von ihrem Exmann zu lösen ist weit fortgeschritten und zumindest äußerlich erreicht. Die Bearbeitung der traumatischen Lebensereignisse wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, da die Klientin nach wie vor tief betroffen darüber ist. Das Ziel der Annahme der eigenen Lebensgeschichte, um Eigenliebe und Eigenfürsorge als berechtigte Gefühle zu gestatten, bleibt für mich nach wie aufrecht.

Gelungen ist es sicher, auch den Selbstwert der Klientin zu heben und die Entwicklung hinsichtlich mehr Autonomie voranzutreiben. Das weite Konfliktfeld zwischen Selbstbild, Organismischem, Selbstideal und äußeren, verinnerlichten Norm- und Wertvorstellungen bleibt ein ebensolches.

Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass Frau E. seit Beginn der Therapie keinen stationären Psychiatrieaufenthalt mehr in Anspruch nehmen musste und den massiven Medikamenteneinfluss vorsichtiger und bedächtiger handhabt. Sie möchte selbst bewusster leben und mehr erleben.

Negativ für den weiteren Behandlungsverlauf ist sicher das alters- und krankheitsbedingte Mehr an Angewiesensein auf andere und die damit verbundenen Zukunftsängste.


[[5] ROGERS, CARL RANSOM, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. München, 1985, S. 36.

[6] ROGERS, CARL RANSOM, Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. München, 1985, S. 36f.

 

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Theoriegeleitete Analyse eines Fallbeispiels

Literaturverzeivhnis