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Inhaltsverzeichnis

Depressive Verstimmung

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3. Störungsspezifische Überlegungen

3.1 Entwicklung depressiver Störungen

Mitterhuber und Wolschlager[1] beschreiben die  Entwicklung depressiver Störungen folgendermaßen: das  Kern-Selbst als Vorstufe des Selbstkonzeptes kann sich in seiner Struktur nicht festigen, weil die empathisch akzeptierende Reaktion auf die grundlegenden Affekte des Säuglings ungewiss vermittelt wird. Wird das Kind in seiner Angewiesenheit auf Anerkennung weder wahrgenommen, noch wird diese entsprechend beantwortet, so wird Selbstunsicherheit grundgelegt. In der Folge entwickelt sich dann die Unfähigkeit zur positiven Selbstbeachtung.

Frau E. verspürte anscheinend von ersten Tagen an, nicht diese empathische Reaktion der Mutter. Vielleicht wollte die Mutter ihr Kind annehmen und war selbst durch den ekelerregenden Ganzkörperausschlag des Kindes abgestoßen bzw. verunsichert. Hinzu kamen noch lange Trennungsphasen, bedingt durch wochenlange Krankenhausaufenthalte des Säuglings mit der damals mysteriösen Krankheit.

Frau E. beschreibt die Mutter als eher wortkarge, gefühlsarme Frau, die damit in ihren Ausdruckmitteln - sie durfte(?) ihr Kind nicht berühren - sehr eingeschränkt wurde. Anscheinend konnte so wenig an Zuwendung und Hinwendung zum eigenen Kind Ausdruck finden. Das offenbare Fehlen dieses in den Arm genommen Werdens als Säugling beschreibt Frau E. selbst als etwas, was so unendlich fehlt. Somit war die Basis für die große Selbstunsicherheit bzw. die fehlende positive Selbstbeachtung grundgelegt.

„Das eigentliche Selbstkonzept entwickelt sich in der Abhängigkeit von der Art der Interaktionen mit wichtigen Bezugspersonen bzw. davon, wie dabei affektive Erfahrungen verstanden werden. Werden mit verschiedenen Selbsterfahrungen verbundene Affekte wie etwa Freude und Stolz oder Scham über sich selbst oder Wut über die eigene Ohnmacht abgewertet oder nur in einer bestimmten Weise anerkannt, entsteht eine Diskrepanz zwischen Selbstkonzept und Selbstideal.“[2]

Hierbei werden die Sehnsucht, nach einem Ich-starken Selbstbild bzw. dessen Unerreichbarkeit grundgelegt, da wichtige Selbsterfahrungen nicht integriert werden können, weil das Kind z. B. lernen muss, die Mutter zu schonen. Das Kind spaltet diese ab, es entstehen Inkongruenzen, die bei entsprechenden Auslösern zu einer depressiven Stagnation werden können. Erschwerend kommt hinzu, das das Warten auf Bedürfnisbefriedigungen vom Zeiterleben geprägt wird. „Je weniger vorhersehbar die Befriedigung von Bedürfnissen ist, desto geringer wird das Vertrauen, auf die Geschehnisse Einfluss nehmen zu können. Auf diese Weise kann das depressive Ewigkeitsgefühl entstehen.“[3]

Für Finke[4] zeichnet sich der Depressive besonders durch drei charakteristische Elemente aus:

  1. Das negative Selbstbild ist übertrieben selbstkritisch und bewertet sich jeweils auf dem Hintergrund eines überhöhten Selbstideals.
  2. In Beziehungen ist der Depressive sehr vom Zuspruch und von der Anerkennung der Anderen abhängig.
  3. In der Neigung sich selbst abzuwerten liegt ein häufiges Klagen über das Unverständnis der Anderen und letztlich auch Ärger und Verbitterung gegen die Bezugspersonen.

3.2 Strukturen des depressiven Erlebens[5]

Die Arbeit mit Frau E. erlebe ich als mühsam und in manchen Dingen merke ich, dass mir Verständnis und Erfahrung für die Probleme der Klientin  im therapeutischen Arbeiten nicht immer leicht fallen. Daher begann ich mich dafür zu interessieren, was es an spezifischen Deutungen bzw. therapeutischem Know-how in der Klientenzentrierten Psychotherapie zu depressivem Leid gibt.

Frau E. geht es einmal besser, ein anderes mal wieder schlechter, wobei es mir oft nicht einsichtig ist, wieso bestimmte Faktoren, auch wenn sie der Klientin scheinbar bewusst sind, immer wieder zur Verstärkung ihres Leides bzw. zu depressiven Phasen führen. Auch wenn die Klientin selbstbewusster und aktiver Beziehungen gestaltet, ist sie im Beziehungsgeschehen äußerst beansprucht. Intuitiv kann ich immer wieder manches mit ihr gemeinsam erfassen.

Erleichterung bzw. ein besseres Verständnis für die spezifischen Erfahrungen und Deutungen im Selbstkonzept von Frau E. bringen mir in diesem Zusammenhang die Darlegungen von Binder und Binder.

Störungsspezifisches Wissen verstehe ich nicht  als Unzulänglichkeit der „notwendigen hinreichenden Bedingungen“[6] Klientenzentrierter Psychotherapie. Mir gibt es einfach mehr Sicherheit im Umgang mit dem - und Verständnis für das Erleben der Klientin. Ich möchte nun wesentliche Strukturelemente im Sinne der oben angeführten Autoren benennen und mit Beispielen aus der therapeutischen Arbeit mit Frau E. illustrieren:

3.2.1 Harmoniebedürfnis und Autonomiestreben

Depressive werden als Ich-schwach bezeichnet. Dies resultiert daraus, da sie sich ständig im als unlösbar erlebten Konfliktfeld  zwischen Harmoniebedürfnis und Autonomiestreben bewegen. Wobei die Harmoniebedürfnisse eine Hinwendung zu den Bedürfnissen, Erwartungen und Forderungen relevanter Bezugspersonen oder deren Normen fordern. Dies scheint zur Aufrechterhaltung der Beziehung offenbar unbedingt notwendig. Innerpsychisch bedeutet diese Hinwendung an die Harmoniebedürfnisse Anpassung und Unterwerfung, verbunden mit Schuld gegenüber sich selbst, und führt zu depressiver Antriebslosigkeit.

„Das an sich natürliche Streben nach Autonomie, die Fähigkeit, in sich zu ruhen und sich mit dem eigenen Innenleben zu beschäftigen, das Ausleben von Konkurrenz in Beziehungen und Ähnliches bleiben auf der Strecke. In den Familien herrschen oft überhöhte moralische Ansprüche. Offene persönliche Stärke wird diskriminiert und ist angstbesetzt. Erlaubt und gefordert sind hingegen heimliche Stärken wie Durchhalten, Ertragen und Unterordnung. Dabei wird weniger die personale Stärke an sich, sondern vielmehr deren Ausdruck als schuldhaft empfunden.“[7]

Depressive  erweisen sich in Beziehung oft als sehr freundliche, sensible Menschen, die auf andere eingehen. Sie gehen bei allen Themen und Interessen meist willig mit und sind daher sozial oft beliebt. Dies hilft dem Betreffenden aber weder bei der Überwindung seiner Selbstwertprobleme, noch bringt sie ihn in Beziehung zum Anderen und überwindet seine Einsamkeitsgefühle.

Dies erinnert mich an mein Erwachsenwerden, wo ich sicher zeitweise depressiv war. Ich war beliebt, bei allen möglichen Leuten, die mir ihre Probleme - ihr Leid anvertrauten. Sie schienen sich in meiner Nähe wohlzufühlen  und fühlten sich wie selten verstanden. Mich interessierten aber die wenigsten Dinge, die mir anvertraut wurden, sie langweilten und betrübten mich eher.

Ich hatte aber Angst diese Beziehungen zu verlieren, wobei ich zu den meisten Menschen gerade dadurch wohl keine Beziehung aufbauen konnte, weil ich in diesen Beziehungen keinen Platz einnehmen durfte. So bildete ich mir das jedenfalls ein. Ich konnte ungemein interessiert aussehen und war innerlich total weit weg.

Die positive Atmosphäre in vielen dieser Beziehungen beschreiben Binder und Binder zwar als echt, „aber insofern unehrlich und ungültig, als sie unspezifisch sind und keineswegs, wie sie signalisieren, ein besonderes Interesse, eine besondere Einfühlung, eine besondere Freundlichkeit mit der entsprechenden Beziehungsbedeutung zu eben diesem anderen beinhalten. Das unspezifische Angenehmsein macht auch die positiven Reaktionen darauf höchstens situativ angenehm, aber inhaltlich bedeutungslos.“[8]

3.2.2 Ewigkeitsnorm

Depressive erleben sich im Sinne einer Ewigkeitsnorm als veränderungsunfähig. Obwohl es zu zwischenzeitlichen Aufhellungen kommt, interpretiert der Klient für sich ein schicksalhaftes, depressives Sein. Dieses wird als ein zeitlos, ewiges wahrgenommen, nicht als momentaner Zustand. Depressive sehnen sich nach einem starken Selbstbild, was dazu führt, dies quasi in ewigen Eigenschaften ihrer Person suchen zu müssen. Dies ist grundgelegt in einem normativen Verständnis vom Menschen, der immer gleich ist.

Die unveränderliche Persönlichkeit kann sich auf die Anforderungen der Umwelt so einstellen, dass sie geradezu auf alles vorbereitet sein sollte. Jede Veränderung und Schwankung wird daher als Unredlichkeit und Unzuverlässigkeit bestraft.

„Die Erwartung, ’wenn einmal jemand merkt, dass es mir besser geht, darf es mir nie mehr schlecht gehen, denn sonst ist man enttäuscht und lässt mich fallen’, lässt Bessergehen zu angstbesetzten Forderung werden.“[9]

Depressive leben in einem beständigen Zustand des Zuschlecht. Frau E. ist im Therapieprozess oft besonders entsetzt und fühlt sich schuldig, dass sie immer wieder in eine Depression hineinrutscht, überhaupt, wo es ihr schon besser ergangen war.

In der Therapie brauche ich lange Zeit, um zu verstehen, warum  Frau E. die Therapie nach Erreichen der ersten Verbesserung beenden will. Ich bin überrascht und unterschätze die Krankheit enorm, da ich gemäß ihrem Wunsch die Intervalle der Behandlung auf 14tägig verlängere. Frau E. hat aber einfach ein schlechtes Gewissen und will niemanden mehr länger den von ihr besetzten Therapieplatz wegnehmen. In ihrem Verständnis hat sie schon bekommen, was ihr zusteht.

Erst als ich dies und die Schwere ihrer Erkrankung ein wenig durchschaue  - natürlich geht es der Klientin bald wieder viel schlechter - übernehme ich dezidiert mehr Verantwortung für die Weiterführung der Therapie. Nun ist es der Klientin klarer, dass ihre Behandlung noch länger dauert, ich thematisiere dies regelmäßig. Die Klientin ist zwar einerseits entlastet, die Schuldgefühle dafür, dass sie nicht schneller gesund werden kann, sind aber dennoch beständiger Wegbegleiter.

Binder und Binder beschreiben eine regelrechte Angst vor Bestrafung. Depressive fürchten sich, bei Besserung ihrer Leidenszustände, von anderen als Simulanten angesehen und dafür nachträglich bestraft zu werden. Diese Haltung entwickelt sich durch eine starke Verinnerlichung der Verwirklichung von Normen. Bessergehen bedeutet Leistung und Fortschritt, Schlechtergehen heißt Abstieg.

Ein Begriff, den ich in diesem Zusammenhang noch beschreiben möchte, ist der der Depressiven Unveränderlichkeit. Entwicklung wird dadurch erschwert, dass in der depressiven Gelähmtheit das Gefühl der Unveränderlichkeit mitschwingt.

„Im Erleben ist es oft kein Zustand, sondern die Wahrheit, es fühlt sich häufig nicht an als ‚jetzt geht es mir so’, sondern vielmehr als ‚ich bin so’.“[10]

Entlastend dabei ist, dass der Depressive den Zustand des Krankseins annehmen kann, alles Kämpfen ist zwecklos. Er wird schuldfrei, weil gegen das Schicksal nichts zu machen ist. Belastend dabei ist aber für den Leistungsanspruch, den Depressive ebenso haben, dass dies für sie gleichzeitig eine unakzeptable Niederlage bedeutet.

3.2.3 Voluntatives Defizit

Das Leben des Depressiven ist durch Fremdbestimmung gekennzeichnet, da sich die Suche nach dem Selbstbild in einem permanenten Hin und Her von ewig zu schlecht zu zufällig in Ordnung bewegt. Das Voluntative Defizit wird dafür als zentrales Symptom angesehen.

Abwehr von Verantwortung oder Leistung erscheint dem Depressiven als notwendig, da das Thema „Schuld“ besonders wichtig und mit einem extremen Harmoniebedürfnis gekoppelt ist. Hierbei ist die Akzentuierung  in der Wahrnehmung von Bedürfnissen anderer verschoben. Die Gefühls- und Beziehungsebene erhält immer den Vorzug vor der inhaltlichen Ebene, d.h. die Ablehnung eines bestimmten Inhaltes, einer Aktivität (z.B. Besuch eines Konzertes, weil man die Musik nicht mag) eines anderen bedeutet nicht nur diesem oder jenem Inhalt nicht nachzukommen, sondern auch dezidiert dem anderen zu vermitteln, dass man nicht gewillt ist, seine Wünsche oder Bedürfnisses zu erfüllen. Nein-Sagen ist dabei immer beziehungsrelevant und damit ein aggressiver, verletzender Akt.

Bei anderen werden aktives Wollen und Nein-Sagen als Stärke und nachahmenswertes Streben betrachtet. Für Depressive selbst ist dies, da immer mit den Beziehungserleben gekoppelt, nur in Verbindung mit Schwäche gestattet.

Man darf seine Bedürfnisse nur dann durchsetzen, wenn man schwach erscheint. Wenn es einem nicht gut geht, darf man Rücksicht verlangen bzw. erwarten. Von daher wird das Erleben von Wollen nicht als Stärke erfahren, sondern immer mit der eigenen Schwäche verknüpft, da man nur etwas wollen darf, wenn es einem schlecht geht.

Ängstlichkeit in der Äußerung von Bedürfnissen bedeutet nicht, dass sich depressive Menschen nicht ihrer Bedürfnisse und deren Daseinsberechtigung bewusst sind. Sie sind sich lediglich unsicher, ob sie auch für sie selbst legitim und erfüllbar sind.

Depressive sind im Wahrnehmen und Einfühlen in die Bedürfniswelt der Anderen besonders verständnisvoll. Es entsteht aber auch eine hohe Verständniserwartung für die eigenen Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung als absichtliche Kränkung interpretiert wird.

Frau E. erzählt oft, wie sie ihren Tages- bzw. Wochenplan total umwirft, wenn eine ihrer Töchter unbedingt einen Babysitter braucht. Sofort ist sie zur Stelle und setzt sich dieser für sie enormen Belastung aus. Andererseits hat sie den Anspruch, dass die Enkelkinder und Kinder, wenn sie bei ihr zu Besuch sind, sich ausschließlich ihr widmen sollen und dementsprechend nervenschonendes, rücksichtnehmendes  Verhalten an den Tag legen sollten.

Ihre hohen Erwartungen an ein gemeinsames Beisammensein sind ebenso an dieses entsprechende Verhalten gekoppelt. Werden die Erwartungen von den anderen nicht erfüllt, so ist Frau E. enttäuscht. Sie erfasst nicht unterschiedliche Faktoren, die vielleicht nicht förderlich waren. Nein, die Kinder müssten eigentlich, wenn ihnen etwas an ihrer Mutter liegt, sich dementsprechend benehmen (Deutung auf der Beziehungsebene) und haben einen bewussten Akt der Ablehnung gesetzt. Obwohl Frau E. ihre Erwartungen nicht ausreichend kommuniziert bzw. sie nicht im Detail und sensibel genug wahrgenommen werden (hoher Anspruch an andere), stellt sie fest, dass an ihr etwas nicht stimmt, weil sie keiner mag.

3.2.4 Omnipotenzpflicht

Ich möchte abschließend noch den Begriff der Omnipotenzpflicht besprechen, da es mir häufig im Gespräch mit Frau E. auffällt, dass sie sich übermenschlichen Anforderungen aussetzt.

Hierbei ist gemeint, dass Depressive einen hohen Anspruch im moralisch-ethischen und Leistungsbereich zeigen, die mit starken Ohnmachtserfahrungen einhergehen. Es wird durch die ständigen Erfahrungen der eignen Unvollkommenheit eine Tendenz ausgebildet, sich für alles und jedes schuldig zu fühlen, was ein Ausdruck dafür ist, reale Ohnmacht im Erleben als unerträglich zu empfinden.

„Quälende Schuld- und Unwertgefühle erscheinen erträglicher als die Aufgabe der Illusion, durch eigene Vollkommenheit vollkommene Lebensmöglichkeiten für sich herstellen zu können, d.h. die Aufgabe der Illusion einer denkbaren Omnipotenz. Omnipotenz ist hierbei im Erleben weniger als Wunsch oder eigener Anspruch repräsentiert, als vielmehr pervertiert als Anspruch von außen und wird damit erlebnismäßig zur unerreichbaren, quälenden Pflicht.“[11] 

Frau E. beklagt häufig, dass ihre Kinder keinen richtigen Vater hatten und macht sich nicht nur dafür verantwortlich, dass sie einen Mann heiratete, der offensichtlich ein schlechter Mann und Vater war. Ihr erscheint es vielmehr als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Kinder diesen Mann als verständnisvollen Vater erleben und in ihm ein positives Vorbild sehen. Dies liegt ihrer Meinung nach in ihrer Pflicht als Ehefrau und Mutter. Sie erlebt sich nicht nur ihrem Muttersein in Verantwortung verpflichtet, sondern übernimmt auch die Verantwortung der Vaterrolle. Sie versucht aktiv Vater und Mutter zu sein. Die Klientin möchte offenbar durch das Eheversprechen verankert, ihren Mann zu retten, um ihn dann als Vorbild für die Kinder aufzubauen. Das Scheitern dieses Vorhabens erzeugt irrsinnige Schuldgefühle.

Wenn man bedenkt, dass eine perfekte, ideale Familiensituation für Frau E. als eine Art objektive Norm selbstverständlich und unbedingt zu erreichen ist, muss ein scheitern dieser für die Klientin offenbaren Minimalanforderung sie zutiefst betrüben. Dies erlebe ich immer wieder in Sequenzen, in denen ihre Familie Thema ist.

Ich verstehe die Omnipotenzpflicht als eine Art Größenwahn, bei dem ich versuche die anderen nach meinem Bild zu entwerfen und dann komplett aufgelöst darüber bin, dass eben diese anderen ein Eigenleben führen. Natürlich bleibt der Depressive in diesem Sinne in seiner kindlichen Omnipotenz gefangen. Losgelöst von seiner Not wirkt dies als aktives Vorhaben betrachtet auf mich fast ein wenig arrogant und vermessen. Aggressive Anteile im Kontakt mit den anderen werden sichtbar: der andere weigert sich anscheinend beharrlich, so zu werden, wie ich ihn gerne haben möchte. Dies betrübt den Depressiven augenscheinlich, aber ärgert ihn, wie ich meine, hintergründig.

3.3 Störungsspezifisches Vorgehen

Aus der oben angestellten Diskussion um eine störungsspezifische Betrachtung ergeben sich für die therapeutische Arbeit mit Depressiven relevante Spezifika, die ich nun im Folgenden kurz darstellen möchte:

Finke[12] entfaltet die Behandlungspraxis an Hand der drei therapeutischen Grundvariablen (Bedingungsfreies Akzeptieren, Empathie und Kongruenz):

Dabei soll das Bedingungsfreie Akzeptieren dem Bedürfnis nach Anerkennung und Angenommensein entsprechen, und als Grundlage für alle weiteren Interventionen dienen. Beim Depressiven ist es dabei besonders wichtig, das Gefühl der Aussichtslosigkeit bzw. der Ewigkeitsgefühle anzunehmen und anzuerkennen.

Dies bedeutet den Klienten immer wieder in seiner Welt der Düsterheit und Hoffnungslosigkeit zu begleiten und geduldig zu stützen, aber nicht, ihm seine Hoffnungslosigkeit quasi auszureden“ bzw. diese zu bagatellisieren. Dies könnte nämlich dazu führen, dass der Klient sich nicht ernstgenommen fühlt.

Depressive Klienten brauchen demnach ein hohes Maß an Fürsorge zu Beginn des Therapieprozesses, während es im späteren Verlauf der Therapie wichtiger wird, die Autonomie durch Veränderung des Selbstkonzeptes und seiner Beziehungen zu fördern. Wichtig, um die Bearbeitung der Diskrepanz zwischen Selbstbild und Selbstideal zu ermöglichen, ist ein hohes Maß an Empathie, das sich im einfühlenden Wiederholen der Patientenäußerungen und im konkretisierenden Herausarbeiten der Umstände und Details einzelner Aussagen ausdrücken soll.

Aus dem Therapieprinzip Kongruenz leitet Finke das Beziehungsklären als wichtige Interventionskategorie ab. Im Gegensatz zum Konfrontieren hat das Beziehungsklären eine besondere Bedeutung, weil damit am unmittelbarsten die Destruktionsneigung der Depressiven bearbeitet werden können.

„Als Selbstdestruktion äußert sich diese in quälerischer Selbstabwertung, als Fremddestruktion in einer oft stillen Vorwurfshaltung, dass der andere sich nicht genügend um ihn, den Patienten, kümmere bzw. es mit dem Engagement nicht wirklich ehrlich meine und so fort.“[13] Diese Beziehungsaspekte gilt es zu verdeutlichen. So werden indirekte Vorwürfe an die Bezugspersonen erfasst und Ärger und Enttäuschungen herausgearbeitet.

Im Blick auf das Ewigkeitserleben der Depressiven erscheint es nach Mitterhuber und Wolschlager[14] wichtig, die jeweiligen Befindlichkeiten auf Erfahrungen mit Zeitstrukturen zu differenzieren, um einen Bezug zwischen Depression und Ereignissen des Lebens herzustellen.

Es ist wichtig, im Sinne des Ewigkeitsgefühles, um die Angst vor der Besserung zu wissen (Verschlechterung heißt umgekehrt Niederlage und Selbstvorwürfe), und zu betonen, dass Veränderungen nicht stabil bleiben müssen, und man ihnen daher in allen Richtungen gelassen entgegensehen sollte.

„Dies ist insofern therapeutisch schwierig, als viele depressive Patienten in ihrem Ewigkeitsgefühl verstanden werden wollen, und von daher hartnäckig darauf bestehen und die für sie gleichzeitig so ersehnte, tröstliche Interpretation, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, als Nichtverständnis für die akute Gefühlslage werten.“[15]


[1] Vgl. FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S.169ff.

[2]Mitterhuber, Wohlschlager in: FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S. 169.

[3] Mitterhuber, Wohlschlager in: FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S. 170.

[4] Vgl. FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 120.

[5] Vgl. BINDER, UTE/  BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn , 21994, S. 385ff.

[6] Vgl. hierzu Keil, in: FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S. 142ff.

[7] Mitterhuber, Wolschlager in: FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S. 170.

[8] Binder und BINDER, UTE/  BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn , 21994, S. 412.

[9] BINDER, UTE/  BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn , 21994, S. 389f.

[10] BINDER, UTE/  BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn , 21994, S. 394.

[11] BINDER, UTE/  BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn , 21994, S. 427.

[12] Vgl. FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 121 ff.

[13] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 125.

[14] Vgl. Mitterhuber, Wolschlager, in: FRENZEL / KEIL / SCHMID / STÖLZL (Hg.), Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien, 2001, S.173f.

[15] BINDER, UTE/ BINDER, JOHANNES ( 1991), Studien zu einer störungsspezifischen klientenzentrierten Psychotherapie. Schizophrene Ordnung- Psychosomatisches Erleben, Depressives Leiden, Eschborn, 21994, S.395f.

 

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Theoriegeleitete Analyse eines Fallbeispiels

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