Mitterhuber und Wolschlager
beschreiben die Entwicklung depressiver Störungen folgendermaßen:
das Kern-Selbst als Vorstufe des Selbstkonzeptes kann sich in
seiner Struktur nicht festigen, weil die empathisch akzeptierende
Reaktion auf die grundlegenden Affekte des Säuglings ungewiss
vermittelt wird. Wird das Kind in seiner Angewiesenheit auf
Anerkennung weder wahrgenommen, noch wird diese entsprechend
beantwortet, so wird Selbstunsicherheit grundgelegt. In der Folge
entwickelt sich dann die Unfähigkeit zur positiven Selbstbeachtung.
Frau E. verspürte anscheinend von ersten Tagen an,
nicht diese empathische Reaktion der Mutter. Vielleicht wollte die
Mutter ihr Kind annehmen und war selbst durch den ekelerregenden
Ganzkörperausschlag des Kindes abgestoßen bzw. verunsichert. Hinzu
kamen noch lange Trennungsphasen, bedingt durch wochenlange
Krankenhausaufenthalte des Säuglings mit der damals mysteriösen
Krankheit.
Frau E. beschreibt die Mutter als eher wortkarge,
gefühlsarme Frau, die damit in ihren Ausdruckmitteln - sie durfte(?)
ihr Kind nicht berühren - sehr eingeschränkt wurde. Anscheinend
konnte so wenig an Zuwendung und Hinwendung zum eigenen Kind
Ausdruck finden. Das offenbare Fehlen dieses in den Arm genommen
Werdens als Säugling beschreibt Frau E. selbst als etwas, was so
unendlich fehlt. Somit war die Basis für die große
Selbstunsicherheit bzw. die fehlende positive Selbstbeachtung
grundgelegt.
„Das eigentliche Selbstkonzept entwickelt sich in der
Abhängigkeit von der Art der Interaktionen mit wichtigen
Bezugspersonen bzw. davon, wie dabei affektive Erfahrungen
verstanden werden. Werden mit verschiedenen Selbsterfahrungen
verbundene Affekte wie etwa Freude und Stolz oder Scham über sich
selbst oder Wut über die eigene Ohnmacht abgewertet oder nur in
einer bestimmten Weise anerkannt, entsteht eine Diskrepanz zwischen
Selbstkonzept und Selbstideal.“
Hierbei werden die Sehnsucht, nach einem Ich-starken
Selbstbild bzw. dessen Unerreichbarkeit grundgelegt, da wichtige
Selbsterfahrungen nicht integriert werden können, weil das Kind z.
B. lernen muss, die Mutter zu schonen. Das Kind spaltet diese ab, es
entstehen Inkongruenzen, die bei entsprechenden Auslösern zu einer
depressiven Stagnation werden können. Erschwerend kommt hinzu, das
das Warten auf Bedürfnisbefriedigungen vom Zeiterleben geprägt wird.
„Je weniger vorhersehbar die Befriedigung von Bedürfnissen ist,
desto geringer wird das Vertrauen, auf die Geschehnisse Einfluss
nehmen zu können. Auf diese Weise kann das depressive
Ewigkeitsgefühl entstehen.“
Für Finke
zeichnet sich der Depressive besonders durch drei charakteristische
Elemente aus:
-
Das negative Selbstbild ist übertrieben
selbstkritisch und bewertet sich jeweils auf dem Hintergrund eines
überhöhten Selbstideals.
-
In Beziehungen ist der Depressive sehr vom Zuspruch
und von der Anerkennung der Anderen abhängig.
-
In der Neigung sich selbst abzuwerten liegt ein
häufiges Klagen über das Unverständnis der Anderen und letztlich
auch Ärger und Verbitterung gegen die Bezugspersonen.
Die Arbeit mit Frau E. erlebe ich als mühsam und in
manchen Dingen merke ich, dass mir Verständnis und Erfahrung für die
Probleme der Klientin im therapeutischen Arbeiten nicht immer
leicht fallen. Daher begann ich mich dafür zu interessieren, was es
an spezifischen Deutungen bzw. therapeutischem Know-how in
der Klientenzentrierten Psychotherapie zu depressivem Leid gibt.
Frau E. geht es einmal besser, ein anderes mal wieder
schlechter, wobei es mir oft nicht einsichtig ist, wieso bestimmte
Faktoren, auch wenn sie der Klientin scheinbar bewusst sind, immer
wieder zur Verstärkung ihres Leides bzw. zu depressiven Phasen
führen. Auch wenn die Klientin selbstbewusster und aktiver
Beziehungen gestaltet, ist sie im Beziehungsgeschehen äußerst
beansprucht. Intuitiv kann ich immer wieder manches mit ihr
gemeinsam erfassen.
Erleichterung bzw. ein besseres Verständnis für die
spezifischen Erfahrungen und Deutungen im Selbstkonzept von Frau E.
bringen mir in diesem Zusammenhang die Darlegungen von Binder und
Binder.
Störungsspezifisches Wissen verstehe ich nicht als
Unzulänglichkeit der „notwendigen hinreichenden Bedingungen“
Klientenzentrierter Psychotherapie. Mir gibt es einfach mehr
Sicherheit im Umgang mit dem - und Verständnis für das Erleben der
Klientin. Ich möchte nun wesentliche Strukturelemente im Sinne der
oben angeführten Autoren benennen und mit Beispielen aus der
therapeutischen Arbeit mit Frau E. illustrieren:
Depressive werden als Ich-schwach bezeichnet. Dies
resultiert daraus, da sie sich ständig im als unlösbar erlebten
Konfliktfeld zwischen Harmoniebedürfnis und Autonomiestreben
bewegen. Wobei die Harmoniebedürfnisse eine Hinwendung zu den
Bedürfnissen, Erwartungen und Forderungen relevanter Bezugspersonen
oder deren Normen fordern. Dies scheint zur Aufrechterhaltung der
Beziehung offenbar unbedingt notwendig. Innerpsychisch bedeutet
diese Hinwendung an die Harmoniebedürfnisse Anpassung und
Unterwerfung, verbunden mit Schuld gegenüber sich selbst, und führt
zu depressiver Antriebslosigkeit.
„Das an sich natürliche Streben nach Autonomie, die
Fähigkeit, in sich zu ruhen und sich mit dem eigenen Innenleben zu
beschäftigen, das Ausleben von Konkurrenz in Beziehungen und
Ähnliches bleiben auf der Strecke. In den Familien herrschen oft
überhöhte moralische Ansprüche. Offene persönliche Stärke wird
diskriminiert und ist angstbesetzt. Erlaubt und gefordert sind
hingegen heimliche Stärken wie Durchhalten, Ertragen und
Unterordnung. Dabei wird weniger die personale Stärke an sich,
sondern vielmehr deren Ausdruck als schuldhaft empfunden.“
Depressive erweisen sich in Beziehung oft als sehr
freundliche, sensible Menschen, die auf andere eingehen. Sie gehen
bei allen Themen und Interessen meist willig mit und sind daher
sozial oft beliebt. Dies hilft dem Betreffenden aber weder bei der
Überwindung seiner Selbstwertprobleme, noch bringt sie ihn in
Beziehung zum Anderen und überwindet seine Einsamkeitsgefühle.
Dies erinnert mich an mein Erwachsenwerden, wo ich
sicher zeitweise depressiv war. Ich war beliebt, bei allen möglichen
Leuten, die mir ihre Probleme - ihr Leid anvertrauten. Sie schienen
sich in meiner Nähe wohlzufühlen und fühlten sich wie selten
verstanden. Mich interessierten aber die wenigsten Dinge, die mir
anvertraut wurden, sie langweilten und betrübten mich eher.
Ich hatte aber Angst diese Beziehungen zu verlieren,
wobei ich zu den meisten Menschen gerade dadurch wohl keine
Beziehung aufbauen konnte, weil ich in diesen Beziehungen keinen
Platz einnehmen durfte. So bildete ich mir das jedenfalls
ein. Ich konnte ungemein interessiert aussehen und war innerlich
total weit weg.
Die positive Atmosphäre in vielen dieser Beziehungen
beschreiben Binder und Binder zwar als echt, „aber insofern
unehrlich und ungültig, als sie unspezifisch sind und keineswegs,
wie sie signalisieren, ein besonderes Interesse, eine besondere
Einfühlung, eine besondere Freundlichkeit mit der entsprechenden
Beziehungsbedeutung zu eben diesem anderen beinhalten. Das
unspezifische Angenehmsein macht auch die positiven Reaktionen
darauf höchstens situativ angenehm, aber inhaltlich bedeutungslos.“
Depressive erleben sich im Sinne einer Ewigkeitsnorm
als veränderungsunfähig. Obwohl es zu zwischenzeitlichen
Aufhellungen kommt, interpretiert der Klient für sich ein
schicksalhaftes, depressives Sein. Dieses wird als ein zeitlos,
ewiges wahrgenommen, nicht als momentaner Zustand. Depressive sehnen
sich nach einem starken Selbstbild, was dazu führt, dies quasi in
ewigen Eigenschaften ihrer Person suchen zu müssen. Dies ist
grundgelegt in einem normativen Verständnis vom Menschen, der immer
gleich ist.
Die unveränderliche Persönlichkeit kann sich auf die
Anforderungen der Umwelt so einstellen, dass sie geradezu auf alles
vorbereitet sein sollte. Jede Veränderung und Schwankung wird daher
als Unredlichkeit und Unzuverlässigkeit bestraft.
„Die Erwartung, ’wenn einmal jemand merkt, dass es
mir besser geht, darf es mir nie mehr schlecht gehen, denn sonst ist
man enttäuscht und lässt mich fallen’, lässt Bessergehen zu
angstbesetzten Forderung werden.“
Depressive leben in einem beständigen Zustand des
Zuschlecht. Frau E. ist im Therapieprozess oft besonders
entsetzt und fühlt sich schuldig, dass sie immer wieder in eine
Depression hineinrutscht, überhaupt, wo es ihr schon besser ergangen
war.
In der Therapie brauche ich lange Zeit, um zu
verstehen, warum Frau E. die Therapie nach Erreichen der ersten
Verbesserung beenden will. Ich bin überrascht und unterschätze die
Krankheit enorm, da ich gemäß ihrem Wunsch die Intervalle der
Behandlung auf 14tägig verlängere. Frau E. hat aber einfach ein
schlechtes Gewissen und will niemanden mehr länger den von ihr
besetzten Therapieplatz wegnehmen. In ihrem Verständnis hat sie
schon bekommen, was ihr zusteht.
Erst als ich dies und die Schwere ihrer Erkrankung
ein wenig durchschaue - natürlich geht es der Klientin bald wieder
viel schlechter - übernehme ich dezidiert mehr Verantwortung für die
Weiterführung der Therapie. Nun ist es der Klientin klarer, dass
ihre Behandlung noch länger dauert, ich thematisiere dies
regelmäßig. Die Klientin ist zwar einerseits entlastet, die
Schuldgefühle dafür, dass sie nicht schneller gesund werden kann,
sind aber dennoch beständiger Wegbegleiter.
Binder und Binder beschreiben eine regelrechte Angst
vor Bestrafung. Depressive fürchten sich, bei Besserung ihrer
Leidenszustände, von anderen als Simulanten angesehen und dafür
nachträglich bestraft zu werden. Diese Haltung entwickelt sich durch
eine starke Verinnerlichung der Verwirklichung von Normen.
Bessergehen bedeutet Leistung und Fortschritt, Schlechtergehen heißt
Abstieg.
Ein Begriff, den ich in diesem Zusammenhang noch
beschreiben möchte, ist der der Depressiven Unveränderlichkeit.
Entwicklung wird dadurch erschwert, dass in der depressiven
Gelähmtheit das Gefühl der Unveränderlichkeit mitschwingt.
„Im Erleben ist es oft kein Zustand, sondern die
Wahrheit, es fühlt sich häufig nicht an als ‚jetzt geht es mir so’,
sondern vielmehr als ‚ich bin so’.“
Entlastend dabei ist, dass der Depressive den Zustand
des Krankseins annehmen kann, alles Kämpfen ist zwecklos. Er wird
schuldfrei, weil gegen das Schicksal nichts zu machen ist. Belastend
dabei ist aber für den Leistungsanspruch, den Depressive ebenso
haben, dass dies für sie gleichzeitig eine unakzeptable Niederlage
bedeutet.
Das Leben des Depressiven ist durch Fremdbestimmung
gekennzeichnet, da sich die Suche nach dem Selbstbild in einem
permanenten Hin und Her von ewig zu schlecht zu zufällig
in Ordnung bewegt. Das Voluntative Defizit wird dafür als
zentrales Symptom angesehen.
Abwehr von Verantwortung oder Leistung erscheint dem
Depressiven als notwendig, da das Thema „Schuld“ besonders wichtig
und mit einem extremen Harmoniebedürfnis gekoppelt ist. Hierbei ist
die Akzentuierung in der Wahrnehmung von Bedürfnissen anderer
verschoben. Die Gefühls- und Beziehungsebene erhält immer den Vorzug
vor der inhaltlichen Ebene, d.h. die Ablehnung eines bestimmten
Inhaltes, einer Aktivität (z.B. Besuch eines Konzertes, weil man die
Musik nicht mag) eines anderen bedeutet nicht nur diesem oder jenem
Inhalt nicht nachzukommen, sondern auch dezidiert dem anderen zu
vermitteln, dass man nicht gewillt ist, seine Wünsche oder
Bedürfnisses zu erfüllen. Nein-Sagen ist dabei immer
beziehungsrelevant und damit ein aggressiver, verletzender Akt.
Bei anderen werden aktives Wollen und Nein-Sagen als
Stärke und nachahmenswertes Streben betrachtet. Für Depressive
selbst ist dies, da immer mit den Beziehungserleben gekoppelt, nur
in Verbindung mit Schwäche gestattet.
Man darf seine Bedürfnisse nur dann durchsetzen, wenn
man schwach erscheint. Wenn es einem nicht gut geht, darf man
Rücksicht verlangen bzw. erwarten. Von daher wird das Erleben von
Wollen nicht als Stärke erfahren, sondern immer mit der eigenen
Schwäche verknüpft, da man nur etwas wollen darf, wenn es einem
schlecht geht.
Ängstlichkeit in der Äußerung von Bedürfnissen
bedeutet nicht, dass sich depressive Menschen nicht ihrer
Bedürfnisse und deren Daseinsberechtigung bewusst sind. Sie sind
sich lediglich unsicher, ob sie auch für sie selbst legitim und
erfüllbar sind.
Depressive sind im Wahrnehmen und Einfühlen in die
Bedürfniswelt der Anderen besonders verständnisvoll. Es entsteht
aber auch eine hohe Verständniserwartung für die eigenen
Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung als absichtliche Kränkung
interpretiert wird.
Frau E. erzählt oft, wie sie ihren Tages- bzw.
Wochenplan total umwirft, wenn eine ihrer Töchter unbedingt einen
Babysitter braucht. Sofort ist sie zur Stelle und setzt sich dieser
für sie enormen Belastung aus. Andererseits hat sie den Anspruch,
dass die Enkelkinder und Kinder, wenn sie bei ihr zu Besuch sind,
sich ausschließlich ihr widmen sollen und dementsprechend
nervenschonendes, rücksichtnehmendes Verhalten an den Tag legen
sollten.
Ihre hohen Erwartungen an ein gemeinsames
Beisammensein sind ebenso an dieses entsprechende Verhalten
gekoppelt. Werden die Erwartungen von den anderen nicht erfüllt, so
ist Frau E. enttäuscht. Sie erfasst nicht unterschiedliche Faktoren,
die vielleicht nicht förderlich waren. Nein, die Kinder müssten
eigentlich, wenn ihnen etwas an ihrer Mutter liegt, sich
dementsprechend benehmen (Deutung auf der Beziehungsebene) und haben
einen bewussten Akt der Ablehnung gesetzt. Obwohl Frau E. ihre
Erwartungen nicht ausreichend kommuniziert bzw. sie nicht im Detail
und sensibel genug wahrgenommen werden (hoher Anspruch an andere),
stellt sie fest, dass an ihr etwas nicht stimmt, weil sie keiner
mag.
Ich möchte abschließend noch den Begriff der
Omnipotenzpflicht besprechen, da es mir häufig im Gespräch mit Frau
E. auffällt, dass sie sich übermenschlichen Anforderungen aussetzt.
Hierbei ist gemeint, dass Depressive einen hohen
Anspruch im moralisch-ethischen und Leistungsbereich zeigen, die mit
starken Ohnmachtserfahrungen einhergehen. Es wird durch die
ständigen Erfahrungen der eignen Unvollkommenheit eine Tendenz
ausgebildet, sich für alles und jedes schuldig zu fühlen, was ein
Ausdruck dafür ist, reale Ohnmacht im Erleben als unerträglich zu
empfinden.
„Quälende Schuld- und Unwertgefühle erscheinen
erträglicher als die Aufgabe der Illusion, durch eigene
Vollkommenheit vollkommene Lebensmöglichkeiten für sich herstellen
zu können, d.h. die Aufgabe der Illusion einer denkbaren Omnipotenz.
Omnipotenz ist hierbei im Erleben weniger als Wunsch oder eigener
Anspruch repräsentiert, als vielmehr pervertiert als Anspruch von
außen und wird damit erlebnismäßig zur unerreichbaren, quälenden
Pflicht.“
Frau E. beklagt häufig, dass ihre Kinder keinen
richtigen Vater hatten und macht sich nicht nur dafür
verantwortlich, dass sie einen Mann heiratete, der offensichtlich
ein schlechter Mann und Vater war. Ihr erscheint es vielmehr als
ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Kinder diesen Mann als
verständnisvollen Vater erleben und in ihm ein positives Vorbild
sehen. Dies liegt ihrer Meinung nach in ihrer Pflicht als Ehefrau
und Mutter. Sie erlebt sich nicht nur ihrem Muttersein in
Verantwortung verpflichtet, sondern übernimmt auch die Verantwortung
der Vaterrolle. Sie versucht aktiv Vater und Mutter zu sein. Die
Klientin möchte offenbar durch das Eheversprechen verankert, ihren
Mann zu retten, um ihn dann als Vorbild für die Kinder
aufzubauen. Das Scheitern dieses Vorhabens erzeugt irrsinnige
Schuldgefühle.
Wenn man bedenkt, dass eine perfekte, ideale
Familiensituation für Frau E. als eine Art objektive Norm
selbstverständlich und unbedingt zu erreichen ist, muss ein
scheitern dieser für die Klientin offenbaren Minimalanforderung
sie zutiefst betrüben. Dies erlebe ich immer wieder in Sequenzen, in
denen ihre Familie Thema ist.
Ich verstehe die Omnipotenzpflicht als eine Art
Größenwahn, bei dem ich versuche die anderen nach meinem Bild zu
entwerfen und dann komplett aufgelöst darüber bin, dass eben diese
anderen ein Eigenleben führen. Natürlich bleibt der
Depressive in diesem Sinne in seiner kindlichen Omnipotenz gefangen.
Losgelöst von seiner Not wirkt dies als aktives Vorhaben betrachtet
auf mich fast ein wenig arrogant und vermessen. Aggressive Anteile
im Kontakt mit den anderen werden sichtbar: der andere weigert sich
anscheinend beharrlich, so zu werden, wie ich ihn gerne haben
möchte. Dies betrübt den Depressiven augenscheinlich, aber ärgert
ihn, wie ich meine, hintergründig.
3.3 Störungsspezifisches Vorgehen
Aus der oben angestellten Diskussion um eine
störungsspezifische Betrachtung ergeben sich für die therapeutische
Arbeit mit Depressiven relevante Spezifika, die ich nun im Folgenden
kurz darstellen möchte:
Finke
entfaltet die Behandlungspraxis an Hand der drei therapeutischen
Grundvariablen (Bedingungsfreies Akzeptieren, Empathie und
Kongruenz):
Dabei soll das Bedingungsfreie Akzeptieren dem
Bedürfnis nach Anerkennung und Angenommensein entsprechen, und als
Grundlage für alle weiteren Interventionen dienen. Beim Depressiven
ist es dabei besonders wichtig, das Gefühl der Aussichtslosigkeit
bzw. der Ewigkeitsgefühle anzunehmen und anzuerkennen.
Dies bedeutet den Klienten immer wieder in seiner
Welt der Düsterheit und Hoffnungslosigkeit zu begleiten und geduldig
zu stützen, aber nicht, ihm seine Hoffnungslosigkeit quasi
auszureden“ bzw. diese zu bagatellisieren. Dies könnte nämlich
dazu führen, dass der Klient sich nicht ernstgenommen fühlt.
Depressive Klienten brauchen demnach ein hohes Maß an
Fürsorge zu Beginn des Therapieprozesses, während es im späteren
Verlauf der Therapie wichtiger wird, die Autonomie durch Veränderung
des Selbstkonzeptes und seiner Beziehungen zu fördern. Wichtig, um
die Bearbeitung der Diskrepanz zwischen Selbstbild und Selbstideal
zu ermöglichen, ist ein hohes Maß an Empathie, das sich im
einfühlenden Wiederholen der Patientenäußerungen und im
konkretisierenden Herausarbeiten der Umstände und Details einzelner
Aussagen ausdrücken soll.
Aus dem Therapieprinzip Kongruenz leitet Finke
das Beziehungsklären als wichtige Interventionskategorie ab. Im
Gegensatz zum Konfrontieren hat das Beziehungsklären eine besondere
Bedeutung, weil damit am unmittelbarsten die Destruktionsneigung der
Depressiven bearbeitet werden können.
„Als Selbstdestruktion äußert sich diese in
quälerischer Selbstabwertung, als Fremddestruktion in einer oft
stillen Vorwurfshaltung, dass der andere sich nicht genügend um ihn,
den Patienten, kümmere bzw. es mit dem Engagement nicht wirklich
ehrlich meine und so fort.“
Diese Beziehungsaspekte gilt es zu verdeutlichen. So werden
indirekte Vorwürfe an die Bezugspersonen erfasst und Ärger und
Enttäuschungen herausgearbeitet.
Im Blick auf das Ewigkeitserleben der
Depressiven erscheint es nach Mitterhuber und Wolschlager
wichtig, die jeweiligen Befindlichkeiten auf Erfahrungen mit
Zeitstrukturen zu differenzieren, um einen Bezug zwischen Depression
und Ereignissen des Lebens herzustellen.
Es ist wichtig, im Sinne des Ewigkeitsgefühles, um
die Angst vor der Besserung zu wissen (Verschlechterung heißt
umgekehrt Niederlage und Selbstvorwürfe), und zu betonen, dass
Veränderungen nicht stabil bleiben müssen, und man ihnen daher in
allen Richtungen gelassen entgegensehen sollte.
„Dies ist insofern therapeutisch schwierig, als viele
depressive Patienten in ihrem Ewigkeitsgefühl verstanden werden
wollen, und von daher hartnäckig darauf bestehen und die für sie
gleichzeitig so ersehnte, tröstliche Interpretation, dass es sich um
einen vorübergehenden Zustand handelt, als Nichtverständnis für die
akute Gefühlslage werten.“
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