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Depressive Verstimmung

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2.5 Klientenzentrierte Diagnostik

2.5.1 Inkongruenzmodell psychischer Störungen

Zu Beginn  der Klientenzentrierten Diagnostik möchte ich mich zunächst mit  der Störungsentwicklung aus Klientenzentrierter Sicht beschäftigen. Dabei möchte ich mich im Wesentlichen an Jobst Finke[3] und seinem Inkongruenzmodell orientieren, der mir dies griffig und nachvollziehbar darlegt. Finke bezieht sich in seinen Ausführungen nur auf jene Störungen, bei denen Inkongruenzen eine pathogene Rolle spielen bzw. inkongruenzbedingte Störungen Teilaspekte des Gesamtstörungsbildes ausmachen.

Im wesentlichen beschreibt Finke drei Glieder eines gesprächspsychotherapeutischen Störungsmodells, die er aus Ausführungen von Rogers weiterentwickelte.

1.       Die Disposition, die er als Inkongruenzkonstellation beschreibt, die meist durch frühe Beziehungsstörungen erworben würde.

2.      Die Entstehung dieser Inkongruenzkonstellation, die Finke als frühe Beziehungsstörung zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen sieht.

3.      Das als Ursache für das Auftreten der Symptomatik und damit der Krankheit zu deklarierende Lebensereignis aktueller Beziehungskonflikt, der die Inkongruenz in einer Weise verschärft, dass ein intrapsychischer Konflikt entsteht.

Ad. 1 und 2.: Frau E. beschreibt Ablehnung, Gewalt und das Gefühl ausgestoßen zu sein. Dies hat sie besonders von der Mutter und der älteren Schwester erfahren. Die so fehlende Geborgenheit, verbunden mit fehlenden Zärtlichkeiten bzw. Unmöglichkeit des körperlichen Kontaktes durch die Hautkrankheit möchte ich als Disposition und Genese im oben genannten Sinn verstehen. Ad 3: Als Ursache für das Auftreten der Symptomatik würde ich die ungemein belastenden und traumatisierenden Jahre der Ehe beschreiben, in deren Zeit die depressive Symptomatik besonders und entscheidend zum Ausbruch kam.

Zur Veranschaulichung dessen, wie Finke sein Modell versteht, sei die unten angeführte Graphik[4] dargestellt:

 
Was ist nun aber überhaupt als Inkongruenz zu verstehen? Hierbei handelt es sich um die Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit unterschiedlicher Tendenzen, die durch das organismische Erleben und Erfahren einerseits und das Selbstkonzept andererseits charakterisierbar sind.

„Die Inhalte dieser beiden Repräsentationssysteme sind individuell unterschiedlich zu bestimmen. Häufig repräsentiert die organismische Erfahrung die Tendenz nach Individuation und Autonomie, das Selbstkonzept dagegen verinnerlichte Normen und Rollenzuschreibungen. Die Fronten der Inkongruenz bestehen also in dem ‚privaten’, individuellen Selbst einerseits und dem öffentlichen, dem ‚Rollen-Selbst’ andererseits.“[5]

Die Inkongruenz nunmehr beschränkt sich nicht auf ein intrapersonales Konfliktgeschehen, sondern ist auch mit extrapersonalen Konflikten gekoppelt, die oft durch einen frühen kindlichen Beziehungskonflikt entstanden sind und dann später durch äußere Ereignisse immer wieder aktualisiert werden können.

 ·        Inkongruenz als Selbstentfremdung und Störanfälligkeit

die zwei Grundelemente der Klientenzentrierten Krankheitslehre sind die Beziehungsstörung (Störung der Eltern-Kind-Beziehung) und die Inkongruenz. „Aufgrund mangelnder Unbedingtheit der Wertschätzung, mangelnder Empathie und Kongruenz der Eltern in der Beziehung zu ihrem Kind kommt es bei letzteren zu einer Diskrepanz zentraler Persönlichkeitsbereiche.“[6]

Die Defizite im Beziehungsangebot der Eltern führen zu unvollständigen Symbolisierungen und damit zu unvollständiger Integration unterschiedlicher Erfahrungen und Erlebnisse in das Selbstkonzept. Inkongruenz entsteht: d.h. es manifestiert sich eine Unvereinbarkeit zwischen Selbstkonzept bzw. Selbstbild auf der einen und dem organismischen Erfahren und Erleben auf der anderen Seite.

Somit bleiben wesentliche Aspekte des Erlebens der Gewahrwerdung verschlossen, um das Selbstkonzept nicht zu gefährden bzw. aufrechtzuerhalten. Es kann soweit gehen, das die Inkongruenz selbst nicht mehr bewusst erlebt und als „eine die Person kennzeichnende Reaktionsbereitschaft bzw. Störanfälligkeit habituell“[7] wird. Ein solche Person befindet sich im Status der Verschlossenheit gegen sich selbst. Hebt sich diese Verschlossenheit teilweise auf, entsteht ein Leidensdruck, was bedeutet, dass die Inkongruenz nicht mehr vollständig verleugnet werden kann.

Ein aktuelles Lebensereignis beispielsweise ein Beziehungskonflikt aktiviert das organismische Erleben so, dass die Blockade der Wahrnehmung nicht mehr voll aufrechterhalten werden kann. In dieser als Bedrohung erlebten Situation reagiert das Individuum mit Angst und Desorganisation.

Das quasi verleugnete Konfliktgeschehen ist für das Individuum ein quälender Zustand, der als Angst oder Depressivität erlebt wird und durch das Auftreten von Symptomen nicht mehr absolut verleugnet werden kann. Hierbei ist das Symptom als Bewältigungsversuch der Konfliktspannung zu verstehen. Finke unterscheidet hier Inkongruenz und Konflikt, um den Beginn der Krankheit beim Einsetzen der quälenden Konfliktspannung deutlich zu machen.

Als Folge ergibt sich für das Individuum eine Stagnation der Selbstentfaltung und Einschränkung der personalen Freiheit, da sich der einzelne in der angstvollen Abwehr der ganzheitlichen Erfahrungen nicht mehr konstruktiv im Sinne von Entwicklung auseinandersetzen kann. Ebenso kommt es zur Bildung einer Beziehungsstörung nach außen.

Für Finke ist somit „psychisches Kranksein nicht individual- sondern immer auch sozialpsychologisch zu verstehen.“[8]

In Betrachtung von Frau E. ergibt sich, dass sie sich von Kind an als unzulängliches Wesen erlebt: „Ich gehöre nicht zur Familie, keiner will mit mir etwas zu tun haben, ich bin eine Aussätzige, ich bin der letzte Dreck“. Die Klientin fühlt sich in ihrem Selbstbild als gesamtes Wesen nicht liebenswert.

Das Selbstbild ist negativ besetzt und zwar ziemlich stark. Im Therapieverlauf gibt es wenige Momente, in denen die Klientin über sich in positiver Art und Weise spricht, schon gar nicht im Kindheitserleben. Im Selbstideal der Klientin würde stehen: „Du bist falsch, sei eine ganz andere; besser, liebenswerter, stärker, intelligenter, geschickter, einfach anders, ein anderer Mensch, vielleicht wie die Schwestern.“ Dies muss eine ungemeine Irritation darstellen, denn, wenn ich annehmen muss, dass nichts an mir stimmt, wie und wo soll innere Sicherheit, Selbstwert, ein positives Selbstbild entstehen?

Bei Frau E. ist es für mich schwierig ein positives Selbstkonzept der Kindheit zu entwerfen, da sie außer der idealisierten Liebe des Vaters, keine positiven Erfahrungen schildert.

Zugang bieten hier für mich eher die aktualisierten kindlichen Erfahrungen, die durch äußere Lebensereignisse so dramatisch zu beschreiben sind und sich in allen Beziehungen widerspiegeln.

Die Klientin fühlt sich wertlos und überall falsch am Platz und die Familie und der Exmann bekräftigen diese Erfahrungen und verhindern selbst organismischen Erfahrungen zugänglich zu werden bzw. versagen deren Beachtung bzw. Befriedigung: „Ich sehne mich nach Wärme und Geborgenheit, aber als furchtbarer Dummkopf und Heulsuse, die ich bin, werde ich dies niemals erlangen und bin auch selbst schuld daran, solange ich so sein muss, wie ich bin.“

So werden Erfahrungen des nicht Angenommenwerdens in der Kindheit, durch die Ehe mit dem Exmann über Jahre hinaus aktualisiert und führen immer wieder zum Ausbruch der depressiven Symptomatik bzw. bilden, wie ich meine, einen Teil der lebensgeschichtliche Genese der Inkongruenz.

·        Lebensgeschichtliche Genese der Inkongruenz

Finke beschreibt wie nach der Auffassung Rogers[9] die Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und ganzheitlicher Erfahrung entsteht: Das Kind erlebt bestimmte Forderungen seiner Eltern (Ge- u. Verbote) als unvereinbar mit den eigenen organismischen Bedürfnissen. Will das Kind die Zuwendung der Eltern und das Bestreben nach innerer Harmonie nicht gefährden, so wird es sich mehr und mehr mit den Forderungen der Eltern identifizieren.

Die eigenen Bedürfnisse werden bei Eltern, die die Bedürfnisse der Kinder wenig achten, dadurch immer mehr als Gefahr für die notwendige elterlich Zuwendung erlebt. Idealtypisch möchte ich die Negativzeichnung der drei in der Klientenzentrierten Psychotherapie definierten therapeutischen Grundhaltungen (Wertschätzung, Empathie und Kongruenz) anführen, die als pathogene, elterliche Beziehungsangebote folgendermaßen aussehen würden:

1.       Mangelndes Akzeptieren bzw. Distanzieren der Bezugspersonen

Das Gefühl von den Eltern nicht wirklich anerkannt zu werden, führt zu einer tiefgreifenden Verunsicherung des Selbstwerterlebens und einem Mangel an Urvertrauen, was die Beziehung Eltern-Kind sehr erschwert. Eine solche Form der Beziehungsstörung bezeichnet Finke als besonders schwerwiegend.

2.      Mangelnde Empathie bzw. Vereinnahmung durch Bezugspersonen

Bei vorhandener Zuwendung der Eltern, aber wenig Einfühlungsvermögen bezüglich des eigenen Wesens des Kindes und seiner Aktualisierungstendenz, sind Eltern versucht ihre Kinder nach dem eigenen Bild zu formen. Unter dem Motto: „Was mir entspricht, entspricht auch dir“.

Jene Kinder bilden häufig ein sehr gruppenkonformes Selbstideal, wobei jedes Abweichen von der Elternnorm, bzw. Wahrnehmen abweichender Bedürfnisse als sehr schuldhaft erlebt und nachhaltig unterdrückt wird.

3.      Mangelnde Kongruenz bzw. Ambivalenz der Bezugspersonen

Hierbei gestalten die Eltern die Beziehungsaufnahme sehr widersprüchlich, verwenden oft Kommunikationsformen im Stile eines double-bind. Beim Kind entsteht durch die Widersprüchlichkeit eine starke Unsicherheit in der Selbstbewertung bzw. eine Ambivalenz zwischen Autonomie und Regressionstendenzen.

Die beiden ersten Punkte, mangelnde Akzeptanz und mangelnde Empathie bezeichne ich als zutreffend für Frau E. Ich glaube auch, dass sie ineinander greifen und ohne grundsätzliche Akzeptanz sich kein empathisches Verstehen entwickeln kann. Die Schwere und Hartnäckigkeit des depressiven Erlebens weisen zusätzlich daraufhin. Dies klingt auch im Transkript des Erstgespräches an und kommt im Therapiegeschehen immer wieder zur Sprache.

·        Zusammenhang von Inkongruenz, aktuellem Lebensereignis und Symptom

Wie bricht nun die eigentliche Krankheit aus? Hierbei wird durch ein aktuelles Beziehungsproblem, bei dem es nicht mehr zur Ausblendung der Inkongruenz kommen kann das Selbstkonzept erschüttert: d.h. ein aktuelles Konflikterleben entsteht, - ebenso Angst. Über das Symptom soll und kann die Bewältigung des Konfliktes und damit das Nichtgewahrwerden der Inkongruenz erreicht werden. Damit ist das Selbstkonzept auf einer anderen Ebene geschützt bzw. hat sich stabilisiert.

Eine Diskrepanz wird lediglich mehr zwischen Symptom und Selbstkonzept wahrgenommen, aber nicht mehr als das Selbstkonzept infragestellende Beziehungsproblem.

Ich versuche diesen Zusammenhang an Hand der Ehe von Frau E. zu erläutern: objektiv gesehen war die Ehe von Frau E. furchtbar, lieblos, gewalttätig , kurz traumatisch. Frau E. hat organismische Sehnsüchte nach Geborgenheit und Liebe.

Die Erfüllung dieser Sehnsüchte soll in der Ehe durch den Mann eintreten, es gibt hier im Selbstkonzept ein Beziehungsideal und die Verpflichtung: dies unbedingt und ohne Unterlass in der ehelichen Beziehung zu suchen bzw. zu finden ungeachtet dessen, dass es auch Grenzen von Erfüllbarkeit und Leidensfähigkeit gibt. Frau E. deutet sogar den Eheeid um : „in guten wie in bösen Tagen stehe ich Dir in Treue bei!“ Gelingt die Beziehung nicht, fühlt sich die Klientin schuldig, nicht alles zum Gelingen beigetragen zu haben.

Umgelegt auf den schlagenden Mann ist das aktuelle Beziehungsproblem und dessen Konflikterleben leicht hergeleitet. Das Selbstkonzept mit seinem Selbstideal wird gehörig erschüttert. Eigentlich müsste die Klientin den Mann verlassen. Stattdessen fühlt sie sich schuldig, eine schlechte Ehefrau zu sein, erlebt sich wahnsinnig und fällt in die Depression, für die sie sich nocheinmal schuldig fühlt, weil sie so schwach ist, den Anforderungen der Ehe nicht standzuhalten. Das Symptom ermöglicht es ihr aber vom aktuelle Beziehungskonflikt (Ehemann) und der Bedrohung des Selbstkonzepts abgelenkt zu sein und lediglich die Diskrepanz zwischen Symptom (Depression) und Selbstkonzept (Eigentlich sollte ich stärker sein, bin schwach, schlechte Mutter, die nichts aushält...) wahrzunehmen.

Frau E. bezeichnet die Klinkaufenthalte als Auszeiten, wo sie Energie auftankt, um dann die Beziehung mit dem Exmann und die Kindererziehung wieder fortführen zu können.

Soweit zum Inkongruenzmodell nach Finke. Im Wesentlichen versuchte ich im oben Beschriebenen den Begriff Inkongruenz zu erläutern und auf die Klientin hin zu konkretisieren, wie Finke ihn in Bezug auf die Entstehung psychischer Störungen beschreibt.

2.5.2 Selbstkonzept von Frau E.

 

Organismisches

Selbstbild

Selbstideal

Ich sehne mich nach Angenommenwerden, Halt und Geborgenheit. Ich möchte erwünscht sein und im Leben empfangen werden.

 

 

Ich bin unerwünscht und ungeliebt.

Ich bin nicht liebenswert.

Ich bin abstoßend.

Ich bin eine Ausgestoßene.

Ich bin einsam.

Ich bin schwach u. hilflos.

Ich bin Mutter.

Ich bin eine schlechte Ehefrau.

Ich bin eine Versagerin.

Ich bin schuldig.

Ich bin „verrückt“.

Ich bin enttäuscht und verletzt.

Ich bin eine vom Leben Gestrafte.

Ich bin geduldig.

Ich bin schuld an allem was nicht funktioniert, bzw. was passiert.

Ich muss nützlich sein.

Ich muss allen helfen.

Ich muss für andere dasein.

Ich muss meine Ehe retten, sie darf niemals scheitern.

Ich muss alles hinnehmen.

ich darf nicht streiten.

Ich darf mich nicht auflehnen.

Ich muss eine gute Ehefrau und Mutter sein.

Ich muss immer stark sein.

Inkongruenzen

Ich bin schwach.

 

 

Ich hab 5 Kinder alleine großgezogen und nebenbei eigene finanzielle Existenz aufgebaut- ohne Unterstützung.

Ich will nichts vom Exmann wissen.

 

Ich muss meine Ehe bzw. meinen Mann retten und den Kindern den Vater erhalten.

Ich bin Mutter.

Ich muss Vater und Mutter sein.

Ich bin allein, lass keinen an

meinem Leid teilnehmen und

schweige darüber.

Keiner versteht mich, kann sich in mich einfühlen.

 

Ich möchte mich einbringen,

beliebt und stark sein.

Es darf keinen Konflikt geben, ich darf niemanden verletzten.

       

Ich möchte nun in einem weiteren Schritt von einer eher allgemeinen hin zu einer störungsspezifischen Sicht der Entwicklung der Depression von Frau E. kommen.


 

[3] Vgl. FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994,S. 105 ff.

[4] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 106.

[5] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 107.

[6] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, S. 107.

[7] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, 108.

[8] FINKE, JOBST, Empathie und Interaktion. Methodik und Praxis der Gesprächspsychotherapie, Stuttgart, 1994, 109.

[9] Vgl. ROGERS, CARL RANSOM, Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehung. Köln, 1987.

 

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Theoriegeleitete Analyse eines Fallbeispiels

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