www.personcentered.net

Inhaltsverzeichnis

Depressive Verstimmung

nächste Seite

 

II. FRAU E. 

 

1. Allgemeine Anamnese

 1.1 Überweisungskontext – Krankengeschichte

Frau E. kommt zu mir, nachdem sie bereits eine lange Krankengeschichte aufzuweisen hatte. Über Jahre hinweg entwickelten sich bei der Klientin eine Reihe von körperlicher Beschwerden, wie Rheuma, Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenprobleme bis hin zu Kopf- und Gliederschmerzen, Migräneattacken, , Verdauungsproblemen, Unterbauch- und Nierenkoliken und nunmehr Handschmerzen, die sie in einigen Krankenhausaufenthalten behandeln ließ.

Seit 15 Jahren ist die Klientin nunmehr in psychiatrisch-medikamentöser Behandlung. Einige Aufenthalte in der Psychiatrie, die die Klientin als Krisenintervention und Auszeit aus dem familiären Umfeld nutzte, brachten keine nachhaltigen Verbesserungen, da die Klientin nach jedem Aufenthalt wieder zum nunmehrigen Exmann in die Beziehung schlitterte. Die Klientin erlebte sich in dieser Zeit als abnormal im Sinne von geistesgestört und hielt in der Ehe solange stand, bis ihre fünf Kinder langsam erwachsen wurden. Die beständigen Erniedrigungen, die regelmäßig in massiven seelischen und körperlichen Gewalttaten und sexuellen Nötigungen gipfelten, führten dazu, dass Frau E. einen Suizidversuch unternahm, den jedoch ihr Sohn entdeckte.

Vor zwei Jahren  erfolgte der bisher letzte einmonatige Psychiatrieaufenthalt. Währenddessen begann die psychiatrische Nachbetreuung, die die Klientin zum ständigen Besuch einer psychiatrischen Tagesstätte motivierte.

Die Gruppe Betroffener erlebt die Klientin phasenweise als zweite Familie. Im  letzten Psychiatrieaufenthalt wurden ihr die lebensgeschichtlichen Hintergründe ihrer Krankheit bewusstgemacht.

Entweder lasse sie sich durch die  Beziehung zum Exmann völlig zu Grunde richten oder aber sie entscheide sich fürs eigene Leben und müsse sich damit zur endgültigen Trennung vom schon seit 17 Jahren geschiedenen Exmann durchringen. Diesen Weg beschritt die Klientin nunmehr.

Ständige Belästigungen und Bedrohungen durch den Ehemann warfen die Klientin immer wieder aus dem Gleichgewicht und führten im Februar 2000 motiviert durch Psychiater und Betreuer, zur erstmaligen Entscheidung eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen, um das Erlebte aufzuarbeiten, was auch immer das bedeuten konnte. Es kam zur Entscheidung der Klientin: „werde alles an Hilfestellungen annehmen, auch wenn es mir noch so schwer fällt.“ So fand die Klientin den Weg zu mir. In der laufenden Psychotherapie erlebt die Klientin immer wieder schwere depressive Episoden, in denen sie neben der psychotherapeutischen Behandlung immer wieder massiv medikamentös gestützt wird.

1.2 Biographie

Die Klientin bringt durch ihre Lebensgeschichte einen unglaublichen Erlebnishintergrund mit, den ich etwas ausführlicher beschreiben möchte, da er natürlich eng mit Entwicklung und Krankheitsverlauf der Klientin zusammenhängt. In der Erarbeitung der Fallbesprechung wurde mir wieder bewusst, welche Fülle an Bedrückendem, Frau E. würde sagen: „Kränkendem“ in ihrem Leben geschehen ist. Die Darstellung des biographischen Verlaufes soll an Hand der äußeren Themen, Einblick in die möglichen Hintergründe und inneren Auswirkungen ermöglichen. Die Schilderung der Lebensgeschichte basiert auf der Wiedergabe der subjektiven Lebenseindrücke der Klientin.

Hier ergibt sich ein erster Einblick, wie das emotionale Zu-Kurzkommen den Grundstein für die späteren massiven existentiellen Einbrüche bilden.

Biermann Ratjen[1] meint hierzu, dass Selbsterfahrungen am Anfang der Entwicklung des Selbstkonzeptes Erfahrungen des Wahr- und Angenommenwerdens, des körperlich und psychisch am Leben-gehalten-werdens sind. Werden solche Erfahrungen nicht gemacht, entwickeln sich zunächst nicht etwa negative Selbsterfahrungen, aus denen dann etwa ein negatives Selbstbild entstehen könnte,  Es findet überhaupt keine Weiterentwicklung statt. Wenn das Baby in seinem Bedürfnis nach positiv regard überhaupt nicht angenommen wird, stellt es die Äußerung jedweder affektiver Erfahrungen ein, auch die Äußerung der Trauer, die zum Verlassensein gehört.

„In Abhängigkeit vom Verlauf der Interaktion zwischen Baby und Pflegeperson in dieser ersten Phase entwickelt sich ein Selbstkonzept, das mehr oder weniger affektive Erfahrung als zum Selbsterleben gehörend nicht abwehren muss,..., sondern anerkennen und in die Selbsterfahrung integriert werden kann, bzw. ein Selbstkonzept, in das auch Trauer als Selbsterfahrung integriert werden kann. Wenn sich ein solches Selbstkonzept nicht entwickelt hat, werden Vernichtungsängste als Ausdruck der Bedrohtheit des Selbstkonzepts und /oder Depression als Ausdruck der Stagnation der Weiterentwicklung, z.B. in der Form des vollständigen Zusammenbruchs der Selbstachtung, entwickelt, wenn sich Erfahrungen des Verlassenwerdens und andere, die geeignet sind, z.B. den Traueraffekt auszulösen, wiederholen.“[2]

Ich denke, dass die Entwicklung der Depression von Frau E. auf dem oben skizzierten Hintergrund und den nachfolgenden Überlegungen zu begreifen ist.

1.3 Zur Person

Frau E. wurde als die Mittlere von drei Schwestern, von denen die eine um neun Jahre älter, die andere um 3 Jahre jünger war. Frau E. erlebte sich schon immer als schwermütiges Wesen und hatte bei der Mutter und der älteren Schwester nie das Gefühl von Geborgenheit. Die Geburt verlief schwierig, da sich die Nabelschnur um ihren Hals legte und sie zu ersticken drohte. Das EEG zeigt heute noch Veränderungen an. Von  Geburt an litt die Klientin dann an einer sieben Jahren andauernden eitrigen Hautkrankheit, wo ihr jede körperliche Zuwendung: „Keiner hat mich drücken können,“ versagt blieb.

Die Mutter erlebte sie lieblos und hart. Sie war ihr nie Stütze, verbot ihr sowohl Freundinnen zu haben, als auch später einen Beruf zu erlernen. Ihre Aufgabe war es von Anfang an der Familie zu dienen. Vielleicht war sie auch weniger intelligent als der Rest der Familie. Dies drückte sich später so aus, dass sie zu Kindermädchen und Haushaltshilfe der älteren Schwester wurde.

Die Schwester war genauso hart wie die Mutter und hatte, wie Frau E. meint, außer Schlägen nichts für sie übrig. Frau E. hatte das Gefühl, die ältere Schwester habe ihr die Mutter weggenommen und ihr das wenige an Gefühl, dass die Mutter wahrscheinlich auch für sie gehabt hat. Die Pflege der Mutter, die seit 3 Jahren in einem Pflegeheim ist, obliegt ihr noch heute.

Dem Vater gehört alle Liebe. Er stand ihr bei, obwohl er auch unter der Mutter litt, so der Eindruck von Frau E. . Er war der Einzige, der auf meiner Seite stand. Der berührendste Moment mit dem Vater war, als sie ihn weinen sah. Dies verband beide sehr. Frau E. war sehr geschockt, als sie ihn dann im Alter von 16 Jahren verlor und er starb. Die Klientin schildert dies so beeindruckend, das ich meine, sie wäre zum Zeitpunkt seines Todes viel jünger gewesen, als dies tatsächlich der Fall war. 

Die Zeit als Kindermädchen ihrer Schwester war auch durch sexuelle Übergriffe des Schwagers gekennzeichnet, der sie damit erpresste, sollte sie nicht gefügig sein, werde er sich an der jüngeren Schwester vergehen.

So ließ sie diese Nötigungen über sich ergehen und teilte sich niemandem mit, da sie die Ehe ihrer Schwester nicht zerstören wollte und von der Mutter keine Unterstützung erwartete.

Mit ca. 16 Jahren besuchte sie eine Haushaltsschule in einem Kloster. Hier fühlte sie sich aber ebenso schlecht behandelt. Frau E. vermutet, - da sie sich weigerte Klosterschwester zu werden.

Gleich danach lernte sie ihren Mann kennen, den sie dann auch in den 70erjahren heiratete. Sie ließ sich von ihm erweichen, indem er ihr mit Selbstmord drohte, falls sie ihn verlassen würde. Diese Ehe war geprägt von Grausamkeiten aller Art. Sie wurde über Jahre hinweg beständig gedemütigt, körperlich und seelisch misshandelt und sexuell genötigt bzw. vom Bruder des Mannes auch vergewaltigt. In diese Zeit hinein gebar sie fünf Kinder, einen Sohn und vier Töchter. In ihrem Selbstverständnis versuchte sie die Stärkere zu sein und ihren Mann gleichsam zu retten. Sie versuchte alles an Erlittenem vor jedermann zu verbergen, auch vor den Kindern. Schließlich sollten diese einen guten Vater haben, da sie ja einen brauchten. Frau E. hatte ihm ja vor dem Altar das Jawort gegeben und dies währt schließlich bis zum Tod.

Einzige Lichtblicke in dieser Zeit waren ihre Kinder, für die sie mehr oder weniger lebte und eine beständige Anstellung, die sie finanziell unabhängig machte. Dafür setzte sie sich ebenfalls dem Zorn des Mannes aus, dem es nicht Recht war, dass sie Geld verdiente.

Er begann von ihr Haushaltsgeld aus früheren Jahren zurückzufordern und verweigerte sich fortan einen finanziellen Beitrag für die Familie zu leisten. Die Erziehung ihrer Kinder bezeichnet Frau E. als das Wenige, was ihr in ihrem Leben recht gut gelungen ist und was sie auch kann, wenngleich die Vorwürfe, den Mann nicht früher verlassen zu haben im gleichen Gedankengang auftauchen. Ihre Kinder sind ihr aber in jedem Fall das Wichtigste, gegebenenfalls auch ihre Sorgen.

Bis ins Jahr 1983 dauerte diese traumatische Ehe, die sie fast am Leben scheitern ließ.

Die Scheidung war aber noch lange nicht die endgültige Trennung von ihrem Mann. Sie verzichtete auf alle finanziellen Ansprüche und hoffte, ihn dadurch loszuwerden.  Er ließ sie jedoch nicht einfach gehen und bekam es immer wieder fertig, sie herumzukriegen.

So half sie ihm noch beim Hausbau, wusch nach wie vor eine zeitlang sein Wäsche, kochte für ihn etc.. Allein eine eigene Wohnung nahm sie sich, die sie auch nicht mehr aufgab. Die ständigen Belästigungen und Umgarnungen, gepaart mit den Gefühlen Mitleid und Angst vor dem ermordet werden, klopften sie immer wieder weich. Sie ließ sich wieder und wieder mit ihm ein. Diese grausamen Verstrickungen und die Entscheidung leben zu wollen - und das hieß vom Exmann wegzukommen - beschäftigten Frau E. am Beginn der Therapie.

Ein weiterer Schock war auch der Unfalltod ihrer jüngeren Schwester, die sie sehr liebte und für die sie sich verantwortlich gefühlt hatte.

Krankheitsbedingt ist Frau E. schon einige Jahre in Frühpension.

___

[1] Vgl. BIERMANN-RATJEN, EVA-MARIA / ECKERT, JOCHEN, / SCHWARTZ, HANS-JOACHIM (1995), Gesprächspsychotherapie, Verändern durch Verstehen, Stuttgart, 11979, 71995(überarb. u. erw. Aufl.), 81997. 93 ff.

 [2] BIERMANN-RATJEN, EVA-MARIA / ECKERT, JOCHEN, / SCHAWRTZ, HANS-JOACHIM (1995), Gesprächspsychotherapie, Verändern durch Verstehen, Stuttgart, 11979, 71995(überarb. u. erw. Aufl.), 81997, S. 93f.

 

Inhaltsverzeichnis

Theoriegeleitete Analyse eines Fallbeispiels

nächste Seite