Oscar Wilde ist in meinem Gedächtnis
verankert als der englische Schriftsteller, der Dorian Gray
geschrieben und unzählige Englischschüler dazu verdonnert hat,
sich durch ein Buch zu quälen, von dem sie bestenfalls die Hälfte
verstanden. Vor kurzem hatte ich einen neuerlichen Zusammenstoß,
diesmal von ganz anderer Art, mit dem Schriftsteller, der über
seine Verwendung im Unterricht in unseren Schulen nur lächeln würde.
Oscar Wilde hat ein kleines Büchlein geschrieben, eigentlich einen
Brief, das er selbst nicht einmal als literarisches Werk ansah. In
dem Brief verleiht er seinen Hoffnungen Ausdruck, noch einmal
"schreiben" zu dürfen. Er erkannte selber nicht, dass er,
während er diese Zeilen schrieb, einen literarischen Meilenstein
hinterließ, der sich mit den Bekenntnissen des Augustinus oder Jean
Jacques Rousseaus oder mit den Briefen Peter Abaelards vergleichen lässt.
Es handelt sich um einen Liebesbrief, De Profundis, den er 1897 an
seinen homosexuellen, um viele Jahre jüngeren Freund Lord Alfred
Douglas schreibt. Zur Zeit der Abfassung des Briefes sitzt Oscar
Wilde im Gefängnis wegen "Unzucht", nach dem Untergang
einer glänzenden und alles versprechenden Karriere als Dramatiker
und getrennt von seiner Frau und seinen beiden von ihm vergötterten
Kindern.Wildes homosexuelle Neigungen hatten ihn stürzen lassen wie
die Welt noch selten einen Sturz erlebt hat: vom gefeierten Künstler
und Ästheten zu einem verachteten Kriminellen am Schandpfahl einer
ganzen Nation, die über den Fall des literarischen Riesen lacht und
ausspuckt. Wer die Demütigung und Grausamkeit des Falles
nachvollziehen möchte ist eingeladen, De Profundis zu lesen, am
besten in Verbindung mit einer Oscar Wilde Biographie oder dem
erstklassigen Film "Wilde", der vor wenigen Jahren in den
Kinos lief.
In diesem Essay geht es jedoch um etwas anderes: um die annehmbare
Abhängigkeit des Herzens. Schon nach wenigen Seiten von De
Profundis bekommt der Leser einen Einblick in eine einzigartig
destruktive Beziehung zwischen zwei Männern. Lord Alfred kann nicht
anders beschrieben werden als ein Kamikazeflieger, der in
Menschenhass untergeht und so viel als möglich mit sich in den
Untergang reißen muss. Vorhersehbar tut er immer das, was denen,
die ihn am meisten lieben, am schlimmsten schadet. Mit der
Selbstsicherheit eines Menschen, dessen Hass auf dem Feld
verweigerter Liebe wächst, geht er durchs Leben und kennt nur eine
Mission: mit verschwenderischer Hand Zerstörung zu säen, die
seinen Schmerz und seine Schuld kurzfristig zu narkotisieren vermag.
Es ist kein Wunder, dass er in Oscar Wildes Hände fällt, denn was
der Mensch unterbewusst als Ergänzendes sucht, findet er zumeist
auch. Oscar Wilde wuchs auf als einer der Jünglinge, die die Götter
ob ihres Erfolges jung sterben lassen. Hinter jeder Ecke Liebe,
Zuneigung und Bewunderung zu erwarten und diese Erwartungen erfüllt
zu sehen war für Oscar Wilde eine Selbstverständlichkeit. Auf
diese Erfahrung bauend, entwirft sich für Wilde eine Philosophie
und eine Ästhetik der Liebe: selbst das Dunkelste, Schmutzigste,
Verwerflichste kann ins Licht geliebt werden, solange nur die Liebe
nicht verdirbt durch Eitelkeit, Hoffart und Moral - den Schwächen
der Gesellschaft, die nicht lieben kann, eben weil sie keine Person
ist, und so anderes an der Liebe Stelle setzt. Es ist die Moral im
Besonderen, gegen die Oscar Wilde einen lebenslangen Kreuzzug führte.
Sobald Oscar Wilde und Lord Alfred einen Fuß in ihr gegenseitiges
Leben setzen, tauchen sie ab in eine Beziehung von beispielloser
Kodependenz. Oscar liebt/hasst Alfred, koste es was es wolle,
konsequent bis zum absurden und absoluten Ruin seines persönlichen
und kreativen Lebens. Alfred hasst/liebt Oscar, wie weit er in
seinem Zerstörungszwang auch gehen muss, um zu beweisen, dass die
Liebe, die er vom Vater nicht bekommen hat, nicht existiert (dies
ist keine psychologische Nachinterpretation, sondern wird in Wilde's
Brief ausführlich behandelt).
Oscar Wilde versucht verzweifelt, die Beziehung mit Lord Alfred
abzubrechen: Instinkt und Vernunft sehen klar den Weg dieser
Beziehung, die in den Abgrund führt. Doch Wilde kann von dem
bedingungslosen Hass, der in Lord Alfred zu so vollkommener Form
gediegen ist und der für Wilde eine solch urtümliche und
unbekannte Energie hat, nicht loslassen. Sogar noch im Gefängnis,
als gebrochener und mit 43 Jahren todkranker Mann, wünscht er sich
unglaublicherweise, dem Mann zu begegnen, der sein Leben zu einer
solchen via dolorosa verwandelt hat.
Tatsächlich treffen sich der Strafentlassene und der Lord noch
einmal, um auf eine Reise nach Italien zu gehen, wo Alfred Oscar
schließlich in seiner erbärmlichen Menschlichkeit sitzen lässt.
Oscar Wilde stirbt wenig später als Sebastian Melmoth in Paris, während
Lord Alfred noch weitere 45 Jahre lebt, um in der ersten Hälfte des
letzten Jahrhunderts gemeinsam mit der westlichen Welt mit seinem
Erbe zu hadern.
Was mich an dieser Geschichte so tief ergriffen hat, ist ihre rührende
und gleichzeitig unberührbare Dokumentation von der Abhängigkeit
und Kontingenz des Herzens. Wir kennen sie alle: diese entzündliche,
erbärmliche menschliche Natur, die schon besiegt und geschlagen
ist, bevor sie überhaupt mit ihren unschuldigen Wünschen nach
Zuneigung, Wärme und Gemeinschaft beginnen konnte. Noch vor unserer
Geburt sind wir tödlich verwundete Soldaten auf einem sinnlosen
Schlachtfeld. Unser Herz (so nenne ich den lächerlichen Wunsch der
Person zu leben) ist ein zittriges, zerbrechliches Organ, das
inmitten des Donnergrollens der Unbarmherzigkeit unaufhörlich schlägt
und uns daran erinnert, wie hilflos und aussichtslos wir sind.
Unaufhörlich schlägt es allerdings nur, solange wir leben und uns
das Absurde unserer Existenz täglich eingestehen, denn darüber
hinaus trägt unser Herz auch noch den Keim der Sterblichkeit, der
dem peinlichen Schauspiel schließlich ein Ende bereiten wird.
Oscar Wilde muss sich dieser Abhängigkeit bewusst gewesen sein. Von
einem psychologischen Gesichtspunkt gesehen war er ein spektakulärer
Versager, in seinen Beziehungen Grenzen zu ziehen und sein Selbst im
Angesicht der Interessen der Welt zu etablieren. Auf einer
philosophischen Ebene war Wilde eindeutig auf Seiten derer zu
finden, die in der Jahrtausende alten Streitfrage an das Unendliche
über die Endlichkeit hinaus glauben. Doch wie alle, die an das
Unendliche glauben, musste er sich schließlich von ihm verzehren
lassen.
Die Frage, der ich mit diesem Essay entgegentreten möchte, ist, ob
wir jemals den Mut oder die Gnade haben können, die Abhängigkeit
unseres Herzens anzunehmen. Im Grunde genommen geht es darum, ob wir
mit Oscar Wilde in die Gefängniszelle blicken können und sagen: Im
Namen der Liebe (so nannte es Wilde) kann ich diese Einschränkung,
diese Zerstörung und Demütigung hinnehmen. Oscar Wilde hat viel
Verachtung und Urteil auf sich gezogen: Er war ein eitler Geck,
wohlausgestattet mit Privileg und Egoismus, und hat seine Stellung
dazu benutzt, mit jüngeren Männern seiner homosexuellen Neigung zu
frönen. Ob unmoralische oder unvernünftige Schwäche, die Schwäche
dieses Mannes hat in einer Beziehung Stärke bewiesen: zu seiner
Schwäche und Abhängigkeit zu stehen, auch wo sie vermeidbar war
und missbraucht wurde.
Oscar Wilde wollte beweisen, dass die Abhängigkeit des Herzens
annehmbar war. Wie vorherzusehen war, verlief seine Beweisführung
in lächerlichen, gebrochenen, unglaubwürdigen Bahnen, bis sich die
Schienen schließlich im Nebel verloren. Bewiesen ist nun gar nichts
und der Märtyrertod umsonst. Doch genau darum geht es bei der
annehmbaren Abhängigkeit des Herzens: um ihre Widervernunft und
Zwecklosigkeit, ihre alles aufopfernde Bereitschaft, nur ein Wort zu
sagen, das sie schließlich doch nicht auszusprechen vermag.
Um zu diesem Thema noch etwas Persönlicheres hinzuzufügen: Wie
viele andere auch habe ich mich schon in grenzverwischenden, zerstörerischen,
liebeszerfressenen Beziehungen wiedergefunden und mich fragen müssen:
wo beginnt die Liebe und wo endet die Stabilität und Bestimmbarkeit
des Lebens, die ich brauche, um überhaupt Mensch zu sein? In jeder
einzelnen Situation muss die Antwort immer anders ausschauen, eine Würde,
die mir als Person nicht verlorengehen darf. Meistens, so empfinde
ich es, kann ich meinen Intuitionen und Gedanken großes Vertrauen
schenken und meinem Sein klare Grenzen setzen.
Doch manchmal fordert unsere Sterblichkeit, die uns erst leben ließ,
dass unser Leben plötzlich in Ver-Rücktheit und Inkommensurabilität
zerfällt, ohne Notausgang und ohne ein anderes Leben, in das wir
uns flüchten können - wir haben nur eines, und
unbegreiflicherweise verlangt es manchmal, unwiederbringlich
veropfert zu werden.
Oscar Wilde hat seine Wahl interessanterweise nie bedauert: Er klagt
an, er weint ("a day in prison on which one does not weep is a
day on which one's heart is hard, not a day on which one's heart is
happy"), er verzweifelt, doch es reut ihn nicht, dass er zu
Fall kommen musste. Im Gegenteil, er spricht davon, dass sein
Missgeschick ihn zu einem neuen Bewusstsein gebracht hat, das ihm
nicht mehr entrinnen kann und dem er nicht mehr entrinnen will:
"Wenn nach meiner Entlassung ein
Freund auf mich zugehen würde und hätte eine Traurigkeit auf dem
Herzen, die er mir aber nicht mitteilen wollte, so würde es mich
zutiefst verletzen. Würde er die Türe des Hauses vor mir schließen,
das seinen Kummer verbirgt, so würde ich wieder und wieder daran
klopfen und darum bitten, eingelassen zu werden, sodass ich daran
teilnehmen kann, worauf ich mir nun das Recht erworben habe
teilzunehmen. Wäre ich in seinen Augen unwürdig, ohne Berechtigung
mit ihm zu weinen, so wäre ich bitterlich gedemütigt, es wäre die
größte Schande, die mir zugefügt werden könnte. Doch es kann
nicht sein: ich habe ein Recht, Anteil am Trauern zu haben, denn der
Mensch, der die Lieblichkeit der Welt sieht und gleichzeitig an
ihrem Trauern Anteil nimmt, als auch das Wunder in beidem versteht,
dieser Mensch begegnet göttlichen Dingen und ist Gottes Geheimnis näher
gekommen als irgendjemand sonst."
Kuli Schwarzert
Mai 2001
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