Einleitung
"...ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt,
die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken
annimmt." (R. Musil)
Auf den folgenden Seiten setze ich mich in der Form eines Essays mit
Psychotherapie auseinander. Essayismus bedeutet im Sinne Musils eine
subjektive Auseinandersetzung mit einem Thema. Im Grunde wird auch
hier nur von meiner persönlichen Beziehung zu Gesundheit, Glück,
Psychotherapie und Politik die Rede sein. Auch wenn es manchmal
anders klingen sollte, beanspruche ich keinerlei Gültigkeit als die
momentane Gültigkeit des Geschriebenen für mich.
Ich nehme in diesem Essay eine persönliche Absetzung bzw. Klärung
von Erwartungen an die Psychotherapie(ausbildung) und Einstellungen
zu ihr vor. Das ist mir jetzt wichtig.
Außerdem werde ich mir in Zusammenhang damit eine psychohygienische
Maßnahme vorschlagen.
Nicht zuletzt macht mir Denken und Formulieren so viel Freude, daß
dieser Essay per se schon eine psychohygienische Maßnahme
darstellt.
Mit dem Begriff Psychotherapie ist etymologisch und real der Begriff
der Gesundheit verbunden. Es geht ihr um die Heilung der kranken und
die Pflege der gesunden Seele.
Von den Geisteswissenschaften erfahren wir, daß die Gesundheit
erstmals von den Römern als einer der höchsten Werte gefeiert
wird. Sie löst das mit ihr verwandte griechische Ideal der
Kalagathie ab, das Ideal des schönen und guten Menschen. Sicher wäre
es aufschlußreich, den Gründen für diese Nuancenverschiebung
nachzugehen. Da dies aber den Rahmen der Arbeit sprengen würde, möchte
ich nur ihr Ergebnis konstatieren, das sich in der berühmten
Sentenz "mens sana in corpore sano" ausdrückt.
Dieser Spruch würde auch heute wieder fröhliche Urständ´ feiern,
wenn nicht den humanistischen Sprachen im Haushalt des modernen
Menschen bestenfalls Ballaststoff-Funktion zukäme. Tatsache bleibt,
daß Gesundheit in der Hitliste der Werte sich wieder ganz nach oben
bugsiert hat.
Die Frage ist, ob wir uns gerne mit den Römern vergleichen wollen.
Die Römer waren ja ein recht rücksichtsloses Eroberervolk, die
ihre ziemlich dürftigen kulturellen Errungenschaften anderen Völkern
abgebeutet haben, zwar ohne sie zu verstehen, aber nicht ohne ihnen
den römischen Stempel der Fassadenhaftigkeit aufgedrückt zu haben.
Wir wissen, daß bereits in Rom der Traum von einem gesunden Körper
von der Realität satter, aufgefetteter Körper begleitet wurde. Die
Pfauenfeder ermöglichte ein innige Verbindung von Überfluß und
Gesundheit. Daß auf die Gesundheit der Sklaven, die für die
Finanzkraft (Gesundheit kostet !) und das Wohl ihrer Herren zu
schuften und zu leiden hatten, weniger Wert gelegt werden konnte,
versteht sich von selbst : Gesundheit war schließlich immer schon
ein individualistischer Wert.
Wollen wir uns wirklich in unserer Begeisterung für die Gesundheit
mit den garstigen Römern vergleichen ? - Das zu tun, sei jedem
selber überlassen.
Ich möchte nur noch einige neuere Aspekte des modernen
Gesundheitskatholizismus mir zu bedenken aufgeben:
Offensichtlich liegt eine geistesgeschichichtliche Bedeutung des nun
bald ausgehenden Jahrhunderts darin, daß in ihm so gut wie alle
althergebrachten wie neueren kollektiven Ideologien und Utopien
abgewirtschaftet haben. An ihre Stelle sind auf gesellschaftlicher
Ebene pragmatischere, bescheidenere (oft allzu bescheidene),
pluralistischere Modelle getreten.
Dagegen scheint man viel weniger bereit zu sein, auf individuelle
Ideologien und Utopien zu verzichten, auch wenn sie genauso wie ihre
älteren, nun ausgestorbenen Verwandten unrealistisch sind.
Es wäre sicher eine lohnende Beschäftigung, dies anhand mehrerer
Beispiele (Wohlstands-, Liebes-, Erlebnisideologie etc.)
nachzuweisen.
Im Zusammenhang mit dem Thema Psychohygiene soll nur von den
Gesundheits- und Glücksideologen die Rede sein:
Gesundheitsideologen sind meistens Einzelkämpfer (oder Missionare),
die mit allen Mitteln, vor allem mit Hilfe von fett- und
cholesterinfreier Nahrung, von Sport und einer strikten Ablehnung
von Nikotin und Alkohol ihrer eigenen Gesundheit nachlaufen. Diese
Leute, häufig Ärzte, Sport- oder Biologielehrer und in ihrer
Religiosität frustrierte, zeichnen sich dadurch aus, daß sie fähig
sind, einen Teil der Wirklichkeit völlig auszublenden. Sie
vergessen scheinbar, daß das Leben grundsätzlich, das Leben in der
heutigen Welt insbesonders eine fundamental ungesunde Angelegenheit
ist. Wer sich einredet, seinen Körper zur heilen Zone machen zu können,
muß nicht nur die Umweltverschmutzung, sondern seine ganze Umwelt
ignorieren. Die kollektive Verpestung der Welt muß ihm weniger
bedeuten als die individuelle Belästigung durch seinen Nachbarn
(Jeder neue Gesundheitsminister stürzt sich mit größter Freude
aufs Rauchen - die industriellen Schadstoffe sind offensichtlich
seine Sache nicht). Gesundheitsideologen, wie ich sie hier
beschreibe, haben noch nicht verstanden, daß Gesundheit heute kein
individuelles Gut wie bei den Römern mehr sein kann. Ihr
verzweifeltes Bestreben, einer kranken Umwelt einen umso gesünderen
Körper entgegenzusetzen, ist unrealistisch und im Grunde
schizophren.
Immerhin gibt es neben den Gesundheitsrittern eine breite Bewegung,
welche die globale und soziale Dimension von Krankheit bzw.
Gesundheit erkannt hat und sich dementsprechend für
gesellschaftliche Veränderungen engagiert.
Ohnehin sind die Gesundheitsideologen im oben beschriebenen Sinn ein
anachronistischer Haufen (kein anarchistischer, dafür sind sie viel
zu brav!). Sie sind schon längst von den Glücksideologen abgelöst
worden: Kollektive Anliegen können immer weniger begeistern, die
Gesundheit ist mittlerweile dazu geworden. Außerdem entspricht das
Ideal bloß körperlicher Gesundheit nicht dem in seiner Wurzel
klassisch(römisch!)en Postulat nach Ganzheitlichkeit.
Werte, die unser suizidales Unbewußtsein noch überdecken sollen, müssen
individualistisch und ganzheitlich sein - wenn sich auch in der
logischen Unvereinbarkeit dieser beiden Eigenschaften wieder eine
erstaunliche Schizophrenie offenbart. Die beiden Werte, die uns am
Ende des zweiten Jahrtausends noch übrigbleiben, sind
dementsprechend der Wert der Liebe und des Glücks.
Bei aller Sympathie für wirkliche Liebe kann ich in diesem Rahmen
nicht auf die Ideologie der Liebe eingehen, die ich am besten bei
Eugen Drewermann vertreten finde, meines Erachtens nicht zufällig
ein zölibatärer, katholoider Priester und als Psychotherapeut auch
Glücksideologe.
Die Glücksideologie ist eine für unsere Zeit maßgeschneiderte
Ideologie. Im Gegensatz zur Gesundheitsideologie ist sie eine rein
individualistische Ideologie (es kann ihr nur um individuelles Glück
gehen), da alle Ideologien, die das Paradies auf die ganze Erde
holen wollten, eindeutig gescheitert sind. Daß eine Gesellschaft
sich auf die Suche nach Glück begeben könnte, steht heute nicht
mehr zur Debatte. Diese vorgegebene Beschränkung auf den jeweils
persönlichen Bereich macht die Glücksideologie (post)modern und
attraktiv. Trotzdem tritt sie als ganzheitliche Ideologie auf, weil
sie den Menschen nicht mehr auf seine materielle oder körperliche
Existenz reduziert, sondern auch vor allem seine seelische
Befindlichkeit miteinbezieht. Die alte römische Sehnsucht nach
einer mens sana in corpore sano und wesentliche Elemente der
Gesundheitsideologie sind in ihr wieder aufgenommen.
Psychotherapeuten nehmen sich der Glücksideologie an: Sie bieten
nicht nur Behandlung von Leiden, sondern auch Selbsterfahrung,
Selbstverwirklichung, die Entdeckung des wahren Selbst, gelungenen
Geschlechtsverkehr, geglückte Beziehungen an. Psychotherapeuten
profitieren von der Glücksideologie oder verfechten sie sogar.
Sobald sich aber an eine Art des Denkens und Agierens
Heilserwartungen knüpfen, gerät sie in die Gefahr, quasi-religiös,
idealistisch, ideologisch und unrealistisch zu werden. Daher halte
ich Psychotherapeuten als Repräsentanten einer Glücksideologie
analog zu den Repräsentanten einer Gesundheitsideologie für äußerst
kritikwürdig.
Schon bald ist in der Psychologie erkannt worden, daß die
Individuen und ihr Glück mit der Gesellschaft und ihrem Zustand
zusammenhängen. In der Praxis scheinen sich die meisten
Psychotherapeuten recht wenig für eine Veränderung
gesellschaftlicher und sozialer (oft globaler) Unglücksverhältnisse
zu interessieren oder gar zu engagieren. Im Grunde halte ich aber glückliche
Seelen in einer neurotisierenden Gesellschaft für genauso undenkbar
wie gesunde Körper in einer kranken Umwelt.
Wenn sich daher Psychotherapeuten stärker sozial oder politisch
engagieren würden, wäre das für sie meines Erachtens eine
psychohygienische Maßnahme ersten Ranges. Ohne diesem Einsatz
bleibt Psychotherapie insgesamt ein hoffnungsloses, unrealistisches,
geradezu irrationales (um nicht wieder zu sagen: schizophrenes)
Unterfangen, was sich weder auf die Befindlichkeit in diesem Beruf
noch auf seine Zukunft positiv auswirken kann.
Gesellschaftliches Engagement könnte Psychotherapeuten und andere
Pychofreaks auch davor bewahren, sich in Innerlichkeit oder in ständiger
Beziehungsarbeit zu verstricken. Es gibt nicht nur Aufgaben und
Abenteuer im Kopf, sondern auch im Außen und in Dingen, die eine
Person nicht unmittelbar betreffen.
Eine verstärkte Aktivität der Psychotherapeuten in
politisch-sozialen Fragen würde sie deutlicher mit ihren Grenzen
konfrontieren. Menschen, denen bisweilen eine Erlöserrolle
zugedacht wird, könnte das als Sicherung dienen, daß sie auf dem
Boden bleiben.
Ideologien, seien sie kollektiver oder privater Natur, neigen zu
Idealismen und wirklichkeitsfremder Selbstbezüglichkeit. Eine auf
die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogene Berufsauffassung wäre
mit einem bescheidenen, aber veränderungswilligen Pragmatismus
verbunden.
Außerdem ginge bei einem sozial engagierten Psychotherapeuten der
Vorwurf, er sei ein Vertreter egoistischer Selbstverwirklichung, ins
Leere.
Obwohl ich den Wert des Glücks in eine problematische Tradition
gestellt habe und mögliche Gefahren einer Glücks- und
Gesundheitsideologie betont habe, sollte hier nicht der hohe
positive Stellenwert individuellen Glücks in Abrede gestellt
werden.
Nur möchte ich meinen eigenen "glücksideologischen
Anteilen", die sich mit meiner Begeisterung für und meinen (Heils-)Erwartungen
an die Psychologie verbinden, zu bedenken geben, daß der Wert des
Lebens sich nicht an seiner Gelungenheit, nicht an seiner
Gesundheit, nicht an seinem Glücksquantum bemessen läßt, sondern
eher an seiner Bedeutung und an seinem Gehalt.
Sich davon zu überzeugen, mag für manche überflüssig sein, für
andere eine psychohygienische Maßnahme.
Gerhard
Lukits |