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Inhaltsverzeichnis

Menschliches Sein aus Klientenzentrierter Sicht

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IV.  Therapiekonzept und therapeutischer Prozess

Wie sieht nun die therapeutische Praxis aus? Welche didaktischen Möglichkeiten und Techniken werden im therapeutischen Prozess eingesetzt ? Diese Fragen sollen im Anschluss erarbeitet werden. 

1. Methodenfrage

Das Vermächtnis von Rogers ist die Überzeugung, dass Psychotherapie nicht durch spezifische Techniken oder Fachwissen getragen wird, sondern von einer persönlichen Lebens- und Umgangsweise.

„Der personzentrierte Ansatz ist in erster Linie eine Seinsweise (a way of being), die ihren Ausdruck in Einstellungen und Verhaltensweisen findet, die ein wachstumsförderndes Klima schaffen. Der Umgang mit dem Anderen ist nicht auf Technik oder Methodik focussiert, sondern von dieser grundlegende Philosophie getragen. Wenn diese Philosophie gelebt wird, hilft sie der Person, die Entwicklung ihrer eigenen Kapazität zu erweitern. Wenn sie gelebt wird, stimuliert sie auch konstruktiven Wandel in anderen. Sie gibt dem einzelnen Kraft, und die Erfahrung zeigt, dass die persönliche Kraft, wenn sie gespürt wird, nach persönlicher und sozialer Veränderung strebt“[1] 

Dennoch ist Psychotherapie ein konstruiertes Geschehen, das eine strukturierte und zielorientierte Situation darstellt, und therapeutische Techniken  nicht ausschließt. Wenn Methoden und Techniken in die Therapie einfließen, sollen sie auf dem Hintergrund der Grundeinstellungen im persönlichen Reflektieren und aus der Erfahrung herauswachsen. Für Rogers haben sie keine essentielle Bedeutung, bekommen aber als kongruenten Ausdruck des Therapeuten ihre Wichtigkeit. 

2.  Der therapeutische Prozess

Das Wesen des therapeutischen Prozesses formuliert Rogers folgendermaßen:

  1. „Zwei Personen befinden sich im Kontakt.

  2. Die erste Person, die wir Klient nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz; sie ist verletzt oder voller Angst.

  3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen, ist kongruent in der Beziehung.

  4. Der Therapeut empfindet bedingungslose positive Beachtung gegenüber dem Klienten.

  5. Der Therapeut erfährt empathisch den inneren Bezugsrahmen des Klienten.

  6. Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaß die Bedingungen 4 und 5 wahr, nämlich die bedingungslose positive Beachtung des Therapeuten ihm gegenüber und das empathische Verstehen des Therapeuten.“[2]

Im Laufe der wissenschaftlichen Untersuchungen über Wirksamkeit dieses Therapiekonzeptes wurde das Verständnis der grundlegenden operationalen Philosophie des Therapeuten zu Grundhaltungen als konkrete Techniken d.h. zu  Therapeuten- „Variablen“ verkürzt. So entwickelte sich z.B. vor allem im deutschen Sprachraum die Auffassung, dass es sich bei der Klientenzentrierten Psychotherapie um eine einfache Technik des „Spiegelns“ handle.  

Rogers formulierte Bedingungen, die einen therapeutischen Prozess kreieren und nicht Handlungsanweisungen für den Therapeuten.  

Dies betont auch Höger (1989), wenn er Rogers’ Therapiekonzept in verschiedene Abstraktionsebenen unterteilt:

I.                    Die Ebene der therapeutischen Beziehung allgemein im Gegensatz zu anderen Beziehungsformen

II.                 Die Ebene zusammenfassender Merkmale der therapeutischen Beziehung (Therapietheorie)

III.               Die Ebene zusammenfassender Klassifikationen therapeutischen Verhaltens (z.B. „VEE“)

IV.              Die Ebene konkreter einzelner Verhaltensweisen 

Rogers hat sein Therapietheorie auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau formuliert, deren Ebenen in der Einteilung von Höger in einer hierachisch-logischen Beziehung zueinander stehen. Konkretes Verhalten muss der jeweiligen Situation entsprechen und zugleich mit den Prinzipien der höheren Ebenen (III,IV) übereinstimmen, andererseits entscheidet auch die jeweilige Situation, ob Konkretisierungen in Übereinstimmung mit den Prinzipien höherer Ebenen stehen.

Mit den angesprochenen Abstraktionsebenen ist es gelungen, das Missverständnis von den „Basisvariablen“, wissenschaftlich verständlich argumentiert, aufzuklären und das Wesen des Therapiekonzepts als personales Geschehen herauszustreichen. Außerdem wird aus dieser Perspektive auch die Notwendigkeit, schulenspezifische Techniken und Methoden zu entwickeln, sichtbar (Ebenen III, IV), durch die die Grundhaltungen in Verflechtung mit der Persönlichkeit des Therapeuten zum Ausdruck kommen können.

Eine Beziehung, die als bestimmte Form der Beziehung mit Menschen („way of being with persons“) als wesentlicher Wirkfaktor für eine therapeutische Veränderung steht, ist geprägt von Grundhaltungen des Therapeuten, die mit den Worten Kongruenz, bedingungslose Wertschätzung und Empathie umschrieben werden können.

3. Kongruenz 

3.1 Definition

Für Rogers ist Echtheit die „grundlegendste unter den Einstellungen des Therapeuten“[3]. Unter Echtheit versteht er, dass „der Therapeut in der Beziehung zu seinem Klienten er selbst ist, ohne sich hinter einer Fassade oder Maske zu verbergen ... dass der Therapeut sich dessen, was er erlebt oder leibhaftig empfindet, deutlich gewahr wird, und dass ihm diese Empfindungen verfügbar sind, so dass er sie dem Klienten mitzuteilen vermag, wenn es angemessen ist, ... es bedeutet, dass es sich um eine direkte, personale Begegnung mit dem Klienten handelt, eine Begegnung von Person zu Person. Es bedeutet, dass der Therapeut er selbst ist und sich nicht verleugnet“.[4]  

3.2  Ziel der Kongruenz

In dieser Übereinstimmung mit sich selbst hat der Therapeut auch die Freiheit präsent zu sein. Diese Gegenwärtigkeit, die auch das Gewordensein und die Perspektive für die Zukunft mit einschließt, ermöglicht das unmittelbare Erleben mit dem Anderen im jeweiligen Augenblick. Darin steckt auch die Un-mittel-barkeit, die aus dieser Perspektive jenseits aller Mittel, Methoden und Techniken steht. 

Die Person ist frei und tief sie selbst und ihre gegenwärtigen Erfahrungen werden von ihrem  Bewusstsein, das sie von sich hat, repräsentiert. Darin liegt eine grundsätzlich vertrauensstiftende Dimension, die es ermöglicht für den anderen bedingungslos offen zu sein.

Wie weit sich der Therapeut als Person mit seinen Schwächen und Eigenheiten einbringen soll, bleibt letztlich vom Kongruenzverständnis bzw.  von der Interpretation abhängig.

Lietar (1992) betont, dass eine echte und direkte Beziehung nur in der Offenheit des Therapeuten zu sich selbst (in der eigenen gelebten Wertschätzung) möglich sein kann und plädiert für ein offenes Ansprechen persönlicher Schwachstellen. Dagegen vertreten Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (1995) die Ansicht, dass das Hauptaugenmerk auf die Kongruenz  oder auch Inkongruenz des Therapeuten zum Klienten im therapeutischen Augenblick liegen soll und der Versuch des Verstehens in den Vordergrund treten soll.

Finke dagegen sieht den Schwerpunkt im Dialog mit dem Klienten, da er anhand der Perspektiven des Therapeuten über seinen inneren Dialog hinaus sein Selbstverstehen und Erleben überprüfen und auch korrigieren kann. 

Welche Position auch immer im Vordergrund steht, letztlich dient das authentische Verhalten des Therapeuten der personalen Begegnung. 

3.3 Praxis der Kongruenz 

Wie sieht nun kongruentes Verhalten in einer therapeutischen Beziehung aus? Rogers hat hierfür konkrete methodische Schritte für das therapeutische Handeln festgehalten. Im Vertrautsein mit dem inneren Erleben d. h. im Zustand der Kongruenz soll der Therapeut dem Klienten mitteilen, was er in der Beziehungsdynamik mit dem Klienten bei sich wahrnimmt.  

Diese Aussagen sollen die Empfindungen des Therapeuten widerspiegeln, dürfen aber kein Urteil und keine Interpretation beinhalten. Im Versuch das Erleben, das im Verlauf der Therapie zwischen Therapeut und Klient entsteht, einzubringen, entstehen neue Impulse, die den therapeutischen Prozess lebendig halten. 

Finke (1994) beschreibt mit den Interventionskategorien Konfrontieren, Beziehungsklärung und Selbsteinbringung die praktische Arbeit mit dem Therapieprinzip Echtheit. 

  • Konfrontieren

Im Konfrontieren macht der Therapeut den Klienten auf mögliche Widersprüche zwischen dessen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung aufmerksam. Diese Interventionsform ist nur auf dem Boden unbedingter Wertschätzung und empathischem Verstehen effizient, da sich der Klient leicht ertappt fühlen kann und mit Widerstand reagieren könnte.

Der Aspekt der Beziehungsklärung führt den Therapeuten in die innere Welt des Klienten, wenn er quasi als Teil dieses Innenlebens dessen Hoffen, Wünschen und dessen Befürchtungen mitträgt. In diesem interaktionsbezogenen Verstehen sieht Finke den Grundsatz im Hier und Jetzt zu arbeiten, garantiert. 

  • Beziehungsklärung - Selbsteinbringung

Wenn der Therapeut sich selbst – seine Emotionen – dem Klienten gegenüber einbringt, ist es für den Therapeuten , auch wenn er sehr reflektierend und selbstempathisch danach trachtet, sehr schwierig den Ursprung seiner Gefühle zu orten.

Nach Finke ist es nicht weiter problematisch, wenn der Therapeut seine Persönlichkeitsproblematik in das therapeutische Geschehen mit einfließen lässt, so lange er offen für eine ehrliche Auseinandersetzung sein kann. In einem Beispiel führt Finke die kongruente Äußerung von Ärger dem Klienten gegenüber (wegen einer Terminabsage), auf einen verborgenen Trotz zurück, der wieder auf die Beziehungsstruktur zur Mutter des Klienten hinführt.  

4. Unbedingte Wertschätzung 

4.1 Definition

Die zweite wichtige therapeutische Grundhaltung und Bedingung für eine konstruktive Veränderung des Klienten im therapeutischen Prozess bezeichnet C. Rogers als Akzeptieren, „Anerkennung, Anteilnahme oder Wertschätzung, bzw. Achtung – eine bedingungslose und positive Zuwendung“[5].

Rogers vertritt dabei die Auffassung, „dass die helfende Person um so effizienter sein wird, je höher sie die andere schätzt. Für mich heißt das, die andere Person achten, ihre Meinungen, ihre Gefühle, ihre Person. Es bedeutet eine nicht-besitzergreifende Anteilnahme. Es bedeutet ein Akzeptieren des anderen Individuums als eigenständige Person, eine Hochachtung vor ihm, dem Wert aus eigenem Recht zukommt. Was wir damit sagen wollen, ist, dass die helfende Person diesen anderen als einen unvollkommenen Menschen mit Gefühlen und vielen Möglichkeiten wertschätzt. Und ich glaube, je mehr man seine Wertschätzung, seine anteilnehmende Einstellung lebt, um so mehr ist das der Ausdruck einer eigentlichen, tragfähigen Zuversicht und eines Vertrauens in die Fähigkeit des Menschen“[6].

Interessant ist die Definition von Finke, wenn er in der Wertschätzung „eine Bereitschaft zur engagierten Anteilnahme, einer Bejahung, und einem sich sorgenden Interesse am Schicksal des Patienten“ [7] sieht. Zudem soll dem Klienten diese Wertschätzung zum Ausdruck gebracht werden bzw. übermittelt werden. Lietaer (1988) unterscheidet in der Beschreibung dieser Grundhaltung in: „Positive Gesinnung“,  „Nicht-Direktivität“ und „Bedingungslosigkeit“. 

4.2 Ziel des Akzeptierens

Primäres Ziel des bedingungslosen Akzeptierens ist das vertrauensstiftende Element und die daraus resultierende Möglichkeit des Klienten sich selbst weiter zu erkunden und in seiner inneren Beurteilung und Bewertung den Boden für Veränderung zu geben.

Durch das Akzeptieren positiver wie auch negativer, destruktiver Gefühle und Äußerungen des Klienten bekommt  er einen neuen Zugang zu seinem inneren Erleben.

Der Klient soll am Tun und am Sein des Therapeuten spüren können, dass die Möglichkeit auch zu sich akzeptierend zu sein, angeregt wird. Der Therapeut wird Modell für den Klienten, für eine offene und nicht verurteilende Haltung sich selbst und der Umwelt gegenüber.

Auch wenn der Therapeut nicht anders kann, als vage Theorien über den Klienten und sein Gewordensein, im Hintergrund zu haben, so soll doch die Leichtgläubigkeit des Therapeuten klar im Vordergrund sein. Finke betont, dass die Leichtgläubigkeit und Unbefangenheit ein Prinzip in der Therapie sein soll, das nicht primär auf ein  Erkennenwollen des Klienten zielt, sondern vielmehr als Appell an die positiven Möglichkeiten des Klienten ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf K. Jaspers verweisen, der das „erhellende Verstehen“ dem „entlarvenden Verstehen“ gegenübersetzt und in der bejahenden Grundhaltung das substanziell Seiende wachsen lässt. Interessant scheint die Frage, wie weit sich diese Begriffe ausschließen oder wie weit sich diese unterschiedlichen Zugänge zum Menschen ergänzen können oder müssen. 

4.3 Praxis der Akzeptanz

Das Wesen einer therapeutischen Beziehung ruht in der ehrlichen Bereitschaft den Klienten zu akzeptieren. Ohne diese Grundvoraussetzung ist psychotherapeutisches Arbeiten nicht möglich. Diese fundamentale Bejahung des Gegenübers ist der Boden, aus dem sich eine therapeutische Beziehung konstituieren kann. Auch das Erarbeiten der Bereitschaft des Klienten an dem Prozess aktiv Anteil nehmen zu können oder zu wollen, wird nur im Akzeptieren des Gegenübers möglich und stellt zugleich einen wesentlichen Anteil des psychotherapeutischen Prozesses dar.

Finke beschreibt sein praktisches Arbeiten als sehr behutsame und geduldige Form, in der z.B. das andauernde sich wiederholende Klagen über somatische Schmerzen einer Klientin immer wieder vom Therapeuten mitgetragen wird.

Dahinter steht die Überzeugung, dass diese Wiederholungen nicht als Widerstand zu deuten sind, sondern im Gefühl des Verstehens für den Klienten eine Chance entsteht, die Schutzfunktion des Verhaltens zu erkennen und zu thematisieren.

In vier Punkten hat Finke Gesprächsregeln zusammengefasst, in denen die praktische Umsetzung des  bedingungslosen Akzeptierens gezeigt wird.[8]

  • Zeigen Sie dem Patienten Ihr Interesse an seinem Schicksal und an seiner Person, indem Sie ihm aufmerksam zuhören.
  • Formulieren Sie Ihre Interventionen, auch konfrontierende, immer so, dass darin Wertschätzung und Respekt zum Ausdruck kommen.
  • Bekunden Sie u. U. Ihre Sorge und Ihre Anteilnahme.
  • Versuchen Sie zunächst, die Sicht und die Beurteilung des Patienten anzunehmen. Verbünden Sie sich mit seinem Heilungswillen.

Biermann-Ratjen bieten im Fall, dass „Unbedingte Wertschätzung“ nicht mehr möglich ist, zwei Erklärungsversuche an. Entweder der Therapeut hat sich mit dem Klienten identifiziert oder der Klient spricht den Therapeuten auf Erfahrungsbereiche an, in denen der Therapeut selbst inkongruent ist. Zudem betonen die Autoren die enge Verflechtung von „Unbedingter Wertschätzung“ und „Empathie“. Der Therapeut muss sich in den Bezugsrahmen des Klienten einfühlen, damit er den Klienten wirklich verstehen kann. Daraus ergibt sich der Schluss, dass Akzeptieren ohne wirkliches Verständnis (und umgekehrt) nicht wirklich möglich ist. 

5. Empathie  

5.1 Definition

Rogers beschreibt den Begriff Empathie als Bemühen „den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so als ob man die andere Person wäre ...“[9]

Rogers hat die angeführte Formulierung mit der Auffassung von Empathie als Prozess, sowie durch die Ausrichtung auf das, was dem Klienten gerade noch nicht gewahr ist, in späteren Arbeiten erweitert.

Im Terminus „Einfühlendes Verstehen“ zeigen sich zwei wesentliche Aspekte dieses Therapieprinzips:  

5.1.1 Intuitiv–emotionales Verstehen

Empathisches Sich-Einlassen weißt auf einen emotional-intuitiven Vorgang hin. Der Therapeut versucht in die Welt des Klienten einzutauchen und den Gefühlen und Empfindungen des Gegenübers in der jeweiligen Bedeutung nahe zu kommen. Aus der Formulierung dieser emotionalen Inhalte entsteht gleichsam ein „Abdruck“ des Klienten, der zugleich Angebot und Möglichkeit der „Selbsterfahrung“ für den Klienten wird. Aus dem akzeptierenden und einfühlenden Mitvollzug des Therapeuten bietet sich dem Klienten ein erweitertes Verständnis seiner Person.

W. Dilthey (1958) bezeichnet das Einfühlen in den anderen als kreativen Nachvollzug fremden Erlebens, der auch den Erlebenshorizont des Therapeuten erweitert.

Rogers betont den „Als-ob-Charakter“ der Empathie (siehe Zitat), der als Schutz vor einer Identifikation mit dem Klienten dienen soll. M. Scheler (1923) hat die Begriffe „Einfühlen“ und „Einsfühlen“ für diese Differenzierung verwendet.

Im Einsfühlen kommt es zu einer emotionalen Verschmelzung zwischen Therapeut und Klient, wogegen das Einfühlen ein Akt des Nachempfindens mit gewisser emotionaler Distanz ist, bei dem das Getrenntseins vom Gegenüber dem Therapeuten bewusst ist.

Finke stellt in diesem Zusammenhang die Überlegung an, ob ein Einsfühlen für bestimmte Momente nicht wichtig sein kann, da durch diese Identifikation auch ein tieferes Erfassen der inneren Welt des Klienten möglich wird. 

5.1.2 Verstehen des Sinnzusammenhanges 

Das Verstehen verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Bedeutungen. So kann im Verstehen die Bedeutung des Akzeptierens („Ja, ich kann das nachvollziehen und ich verstehe dich.“) im Vordergrund sein. Andererseits kann aber auch der Zusammenhang des Ganzen in diesem Verstehen angesprochen werden. („Ich sehe den Sinn deines Verhaltens. Ich erahne den Zusammenhang.“) In diesem Verständnis wird hinter den Gefühlen und Verhaltensweisen ein zugrundeliegender Sinnzusammenhang erahnt, der letztlich dem spezifischen Ausdruck des Klienten eine Bedeutung gibt. In diesem Verständnis ist ein mitfühlendes Anschauen des Erlebens des Klienten ein Teilausschnitt von Empathie, erst das Erfassen und Verstehen des Sinnes vervollständigt den empathischen Prozess.

Das prozesshafte Geschehen ist ein weiterer und wichtiger Aspekt von Empathie. Das Verstehen passiert in vielen kleinen Einzelschritten. Jedes Durchschauenwollen und Aufdecken des Klienten ist massiv verängstigend und destruktiv. Das Erfassen von Bedeutungszusammenhängen erfolgt nicht in einer einzigen oder einigen Interventionen, sondern benötigt den Prozess des sich Annäherns, Miterlebens und Verdeutlichens.

Biemann-Tatjen, Eckert und Schwartz (1995) verstehen unter Empathie den Versuch das Erleben des Klienten so genau wahrzunehmen, wie wenn es das eigene Erleben wäre. Empathisch-einfühlendes Verstehen bedeutet „die persönliche Wahrnehmungswelt eines anderen zu betreten und völlig in ihr zu Hause zu sein.“[10]

5.1.3 Szenisches Verstehen

W. Keil übernimmt das Konzept des hermeneutischen Verstehens von Lorenzer (1970) und überträgt es auf die Klientenzentrierte Therapie. Die unbewussten und abgewehrten Interaktionsformen vom Klienten werden in inszenierten Beziehungsmustern dargestellt.

Der Therapeut soll sich wirklich auf das Beziehungsangebot des Klienten einlassen, damit er die erlebten Szenen hermeneutisch zum einfühlenden Verstehen des Klienten verwenden kann. Wesentlich dabei ist, dass  das Sich-Einlassen des Therapeuten nicht Selbstzweck im Sinne von Feedback oder Selbsteinbringung dem Klienten gegenüber verwendet wird. Das Verstehen der Szenen des Klienten, das in der hermeneutisch orientierten Reflexion seiner Reaktion erfahrbar wird, dient dem Verstehen und Akzeptieren von Inkongruenzen. 

5.2 Ziel und Funktion von Empathie

„Du bist für den anderen in seiner inneren Welt ein vertrauensvoller Gefährte. Indem du die Gefühlsbedeutungen in dem Strom seines Erlebens aufzeigst, hilfst du dem anderen, diese wertvolle Beziehung zum inneren Erleben aufzunehmen, die Gefühlsbedeutungen erlebnismäßiger zu erfahren und im Erleben weiterzukommen.“[11]

Der Klient wird mit der Hilfe des empathischen Begleitens in bedingungslos akzeptierender Form zur Selbstexploration motiviert. Aus dieser Selbstexploration entsteht mit dem Modell des therapeutischen Agierens ein selbstempathischer Prozess, der zu einer Veränderung des Selbst führt.

Finke hebt ebenfalls die Motivation des Klienten für eine Auseinandersetzung mit sich selbst heraus, wobei er den Klienten anregt an der Erkundung von Bedeutungszusammenhängen aktiv mitzuarbeiten. Finke plädiert dafür sehr sorgsam mit Äußerungen des Klienten umzugehen. Der Therapeut soll sein Verständnis von Klientenäußerungen in „fließender Form“ d.h. dem Klienten vom Sinnzusammenhang nachvollziehbar anbieten.  

5.2.1 Hermeneutische Empathie

W. Keil erweitert den Anspruch C. Rogers, den Klienten in 1:1 Relation zu verstehen, mit dem Begriff der hermeneutischen Empathie. Damit meint er den Versuch „in der Begegnung mit etwas >Unvollständigem< oder >Verfälschtem< das jeweils >Ganze< oder >Unverfälschte< aufzufinden oder wiederherzustellen.

Die konkrete hermeneutische Vorgehensweise geschieht dabei in der Form des sogenannten hermeneutischen Zirkels. Es wird einerseits immer wieder von den Teilen auf das (noch fehlende) Ganze, aber andererseits auch immer wieder vom (noch nicht gegebenen) Ganzen auf die Teile (bzw. deren Hineinpassen und Einordnung in das Ganze) geschlossen. Dieser Vorgang wird solange wiederholt, bis eben aus dem bisher Unvollständigen ein Ganzes entsteht, das logisch konsistent und emotional evident erfahren werden kann.“[12] 

Die Vorbedingung für die hermeneutische Dimension im therapeutischen Verstehen ist, dass Psychotherapie überhaupt als Arbeit mit tiefenpsychologischen Phänomenen, d.h. mit dem inkongruenten Erleben und dessen Bedeutung verstanden wird. W. Keil verweist darauf, dass vor allem Reaktionen, in denen es dem Therapeuten nicht möglich ist den Klienten zu akzeptieren und zu verstehen auf inkongruente Anteile des Klienten verweisen. Der Prozess des voranschreitenden Verstehens vom Therapeuten bedingt das Selbstverstehen des Klienten. 

Nach Gendlins Empathieverständnis, der nicht die Grundhaltungen des Therapeuten, sondern den Focusingprozess des Klienten für das Agens der Therapie hält, erweitert sich das empathische Eingehen auf den Klienten im Besonderen auf das Wiederherstellen des impliziten Experiencingprozesses des Klienten. Dazu muss die empathische Reaktion des Therapeuten über den erstarrten Selbstprozess des Klienten herausragen. 

5.3 Praxis der Empathie

Auch wenn Rogers keine Handlungsanweisungen für die Arbeit gegeben hat, ist das  „Empathisch sein“ seiner Ansicht nach eine subtile und fordernde Art mit dem anderen umzugehen.

Für Tausch hat im Besonderen die „Selbstexploration“ des Therapeuten einen hohen Stellenwert. Damit meint er die Offenheit des Psychotherapeuten für die Wahrnehmungen der eigenen Gefühle und Empfindungen in der Beziehung zum Klienten in der aktuellen Situation.

Wenn der Therapeut dem Klienten subjektive Gefühlseinstellungen und Vermutungen in geeigneter Form mitteilt, fühlt sich der Klient ernst genommen, er fühlt sich weniger bedroht, weil er die Äußerungen des Therapeuten als dessen subjektive Wahrnehmung erkennen kann. Der Klient wird von der Vorbildwirkung des Therapeuten in seiner eigenen Selbstexploration angeregt und aus einer wachsenden inneren Sicherheit zu mehr Kommunikation ermutigt.

Biermann-Ratjen arbeiten mit den Bewertungen, die der Klient den erlebten Gefühlen beimisst. Neben dem Erfassen des emotionalen Inhaltes wird die Intervention um die Wahrnehmung des Therapeuten erweitert. So wird etwa die Intervention „Sie spüren die Angst aufsteigen“ um den Satz „und das ist ihnen peinlich“ (innerer Bezugsrahmen) erweitert.

W. Keil weist auf die Bedeutung der Therapeutenreaktionen hin, die als Gradmesser für den therapeutischen Prozess zu sehen sind. Vorraussetzung ist der korrekte Umgang mit der Grundhaltung der unbedingten Wertschätzung, die als Kontrollbedingung für das empathische Verstehen gesehen werden kann.

Wenn der Klient bestimmte Gefühle oder Werthaltungen erkennen lässt, die im Therapeuten Gefühle auslösen, z.B. Angst oder Ablehnung, kann dieser seine unbedingte Wertschätzung nicht aufrecht erhalten. Die Möglichkeiten auf den Klienten einzugehen werden deutlich eingeengt. Der Therapeut kann an seiner vorhandenen oder auch fehlenden Wertschätzung den Grad seines empathischen Verstehens überprüfen. Wenn ein hohes Maß an Wertschätzung und damit an Empathie kontinuierlich erlebt wird, hat die Therapie erfolgreich ihr Ziel erreicht und kann beendet werden.

5.3.1 Die Stufen des Einfühlenden Verstehens nach J. Finke 

Finke meint, damit der Therapeut den Bezugsrahmen des Klienten erfassen kann, muss er sich an den intuitiv erschauten und gefühlten Bezugspunkten orientieren. Finke plädiert auf einen möglichst differenzierten Umgang mit dem Begriff der Empathie, da ansonsten unterschiedliche Ebenen des Verstehens verwischt würden. Als Beitrag zu einer differenzierten Sichtweise unterscheidet Finke fünf Stufen des Verstehens.[13] 

  1. Einfühlendes Wiederholen:

Der Therapeut versucht mit eigenen Worten den Aussage-Sinn des Klienten wiederzugeben. Verbal nicht Ausgedrücktes und doch Gemeintes arbeitet der Therapeut mit dem Klienten heraus. In dieser formalen Verdeutlichung können auch relativ bewusstseinsnahe Bedeutungsaspekte angesprochen werden. In den angebotenen Formulierungen des Therapeuten wird ein Korrektur- oder Bestätigungsprozess beim Klienten wachgerufen, der ihn dazu drängt dem Anliegen eine Deutung zu geben, die möglicherweise näher am Erlebten ist. Das Bemühen des Therapeuten die innere Welt des Klienten zu verstehen, wirkt entängstigend und motiviert zu einer weiteren Selbsterkundung. 

  1. Konkretisierendes Verstehen

Auf dieser Stufe geht es um das Erfassen eines Sinnzusammenhanges zwischen dem Erleben des Patienten und einer konkreten Situation. Allgemeine Gefühle sollen in ihrer spezifischen Situation konkretisiert werden. Es kann dem Klienten helfen in einer Situation auftauchende Gefühle möglichst detailliert zu vergegenwärtigen. Außerdem spielt in dieser Interventionsform der Kontext der Situation eine wichtige Rolle, weil aus dem Kontext bestimmte Gefühle verständlicher werden können.  

  1. Selbstkonzeptbezogenes Verstehen

Um den Klienten aus seinem Bezugssystem heraus  verstehen zu können, kann das Selbstkonzept herangezogen werden, da darin alle Meinungen und Bewertungen des Einzelnen manifestiert sind. Der Therapeut versucht den Klienten aus seinem Selbstkonzept heraus zu verstehen und stellt einen Zusammenhang zwischen den Verhaltens- und Erlebnisweisen des Klienten einerseits und den Bewertungen, den gefühlsmäßigen, inneren Stellungnahmen des Klienten zu seinem Handeln andererseits her. 

  1. Organismusbezogenes Verstehen

Aufgabe des Organismusbezogenen Verstehens ist es, basale, aber oft verdeckte Bedürfnisse des Klienten zu erspüren und diesem so wieder den Zugang zu seinem ursprünglichen Erleben zu öffnen. Das ganzheitlich organismische Erleben ist beim Klienten mehr oder weniger verschüttet. Im organismusbezogenen Verstehen ist die Blickrichtung des Therapeuten zum ursprünglich-ganzheitlichen Erleben gerichtet. Empathisch versucht der Therapeut einen Teil dieser Erlebnisfähigkeit zu übernehmen und zu erahnen, welche Gefühle, Wünsche oder Bedürfnisse dem berichteten Erleben vorausgingen. Dies ist deswegen wichtig, damit sich der Klient in der befindlichen Situation annähern kann. In einem Beispiel begleitet der Therapeut eine Klientin von der wahrgenommenen Unruhe zum Wunsch nach Geborgenheit und Anerkennung, den sie an ihren Mann hat. Wut und Verachtung sich selbst und ihrem Mann gegenüber kann sich die Klientin nicht eingestehen. Im Nachdenken, welche Erwartungen die Klientin an ihren Mann früher gehabt hat, versucht der Therapeut eine Hilfe zu geben, dass sie sich der befindlichen Situation ein Stück annähern kann. Im Erkennen, so dass sie sich ihrem Mann nie nahe gefühlt hat und seine Resignation in der Beziehung verachtet hat, öffnen sich Zugänge zu ihrem organismischen Erleben. 

  1. Interpretieren

Im strengen Sinn enthalten viele vorhin beschriebene Interventionen Anteile von Interpretationen. In dieser Stufe gehen die Interpretationen ein Stück weit aus dem Hier und Jetzt heraus und versuchen Beziehungsmuster und Entscheidungen aus früherer Zeit (dosiert) intellektualisierend zu betrachten. Dafür sollte die Beziehung zwischen Klient und Therapeut so weit verfestigt sein, dass der Klient der Interpretation vertrauen kann. Weiters soll der Therapeut seine Interpretation als Hypothese verstehen, die er auch jederzeit zu korrigieren bereit ist, und schließlich sollte der Klient die thematisierten Inhalte in einen Bedeutungszusammenhang bringen können. 

6. Verwirklichung der Grundhaltungen 

Die Grundhaltungen von Echtheit oder Kongruenz, empathischem Verstehen und bedingungsloser Wertschätzung werden als gelebte Form der Beziehung mit Menschen wesentliche Wirkfaktoren für therapeutische Veränderung. Auch wenn Rogers die Empathie als herausragendes Charakteristikum für die Therapie ansieht und der Kongruenz für das In-Gang-Kommen eines therapeutischen Prozesses primäre Bedeutung beimisst, so ist unbedingt zu beachten, dass die Grundhaltungen in ihrem funktionellen Zusammenhang als ein einheitliches Ganzes verstanden werden müssen.  

Biermann-Ratjen schlagen vor von einer Grundhaltung („way of being with“) zu sprechen, da die traditionelle Dreiteilung die Gefahr des Missverständnisses birgt, die Grundhaltungen als „Basisvariablen“ bzw. als getrennte konkrete Verhaltensweisen zu interpretieren. 

7. Formulieren von Interventionen 

In Anlehnung an Minsel (1974) hat J. Finke Regeln für das Formulieren von therapeutischen Interventionen angeführt. Sie dienen dazu, den Inhalt der Intervention wirksam zu vermitteln. Diese Regeln sind als Angebot und Hilfe gedacht und decken auch nur einen sehr allgemeinen Teil der therapeutischen Beziehung ab.

Natürlich steht der Anspruch der Kongruenz und die behutsame Suche nach persönlich stimmigem Zugang zum Klienten an zentraler Stelle. 

  • Der Therapeut soll häufig in das Gespräch eingreifen, damit eine Atmosphäre der kontinuierlichen Auseinandersetzung entsteht.
  • Die Antwort des Therapeuten soll kurz und zielgerichtet  sein, damit der Klient in seiner Aufmerksamkeit nicht abgelenkt wird.
  • Der Gefühlszustand des Klienten soll am Schluss der Intervention stehen, um ihn für den Klienten herauszuheben.
  • In den Interventionen sollen keine Fremdwörter oder Fachtermini benutzt werden. Damit die Sprache möglichst erlebnisaktivierend wird, sollen bildhafte, plastische und erlebnisnahe Ausdrücke verwendet werden.
  • Wenn Ambivalenzen vom Klienten formuliert werden, soll zunächst nur eine Seite der Ambivalenz angesprochen werden (später kann die andere Seite folgen). Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Wirkung der Ambivalenz direkt anzusprechen.
  • Wenn der Klient sehr allgemein ist, soll der Therapeut konkreter und spezifischer formulieren. Wenn der Klient sehr konkret und detailreich berichtet, soll der Therapeut verallgemeinernd und strukturierend reagieren, weil in der je spezifischen Form des Redens Grundproblematiken anklingen können.


[1] Rogers C., zit. nach: Schmid P., Personale Begegnung, 119.

[2] Rogers C., Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehung,40.

[3] Rogers C., zit. nach: Baumgartner I., Pastoralpsychologie, 448.

[4] Rogers C., zit. nach: Baumgartner I., Pastoralpsychologie, 448f.

[5] Roger C., zit. nach: Schmid P., Personale Begegnung, 130.

[6] Rogers C., zit. nach: Baumgartner I., Pastoralpsychologie, 452.

[7] Finke J., Empathie und Interaktion, 32.

[8] Finke J., Empathie und Interaktion, 42.

[9] Rogers C., Eine Theorie der Psychotherapie,37.

[10] Biermann-Ratje E., Eckert J.,  Schwartz H.J., Gesprächspsychotherapie, 15.

[11]Biermann-Ratje E., Eckert J.,  Schwartz H.J., Gesprächspsychotherapie, 15.

[12] Keil W., Hermeneutische Empathie, zit.: Person, 1/1977,6.

[13] Finke J., Empathie und Interaktion, 48f.

 

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