www.personcentered.net

Inhaltsverzeichnis

Jost Steiner

Literaturverzeichnis

 

2.3.2. Auswirkungen der Literatur auf mein Beziehungsverständnis als Therapeut

Ich kann nicht anders als mit einem trivialen Satz beginnen: Ich habe die Erkenntnis ge-wonnen, dass das Zentrale meiner therapeutischen Tätigkeit ist, dass ich mit dem Klienten in einer zwischenmenschlichen Beziehung bin - und das schon lange, ohne dass es mir voll bewusst war. Was ich in der Beziehung tue - wenn man das gedanklich trennen will - ist auch wichtig, aber sekundär; umso mehr kann ich mich auf mein Thema - Beziehung - konzentrieren.

Sie ist eine besondere Beziehung mit dem ausdrücklichen Ziel, eine hilfreiche zu sein (vgl. Rogers 2000, S. 53ff.), und zwar nicht bei der Erreichung eines statischen Zieles, sondern bei der Ingangsetzung eines Prozesses der „persönlichen Entwicklung und des psychischen Wachstums des Klienten“ (Rogers 2002, S. 230). Der Klient will Hilfe empfangen, der Therapeut geben (vgl. Swildens 1991, S. 55), was eine Asymmetrie in der Beziehung ergibt.
Dementsprechend hat Rogers Bedingungen für den hilfreichen therapeutischen Prozeß differenziert für den Klienten, den Therapeuten sowie für beide gemeinsam formuliert. Naheliegenderweise betrifft der Kontakt als Merkmal allgemein zwischenmenschlicher Beziehung beide, Inkongruenz und Wahrnehmung der Grundhaltungen des Therapeuten betreffen den Klienten (wenngleich Rogers selbst dem Therapeuten eine gewisse Kom-munikationsverantwortung dafür zuweist; 1991, S. 40f.), und drei Bedingungen hat er für
den Therapeuten formuliert. Was bedeuten sie nun für mich?

Ich beginne entgegen Rogers’ Ordnung ihrer Bedeutung (Kongruenz, Akzeptanz und Empathie; 2002, S. 23) mit der Akzeptanz, weil in meiner Selbstexploration das der Akzeptanz nahe kommende von mir für mich wahrgenommene Wohlwollen das Merkmal einer guten Beziehung war. In der Therapie aber geht es um „das vollständige und be-dingungsfreie Akzeptieren des Klienten seitens des Therapeuten“ (ebda., S. 23), und ich wechsle damit die Seite. Erst im Laufe dieser Arbeit und der Lektüre ist mir die erforderliche, schon früher erwähnte (S. 8) positive emotionale Komponente der Akzeptanz deutlich geworden, unterstrichen auch etwa von Rogers durch die Charakterisierung als „tiefe und echte Zuwendung“, die auch geäußert wird (ebda., S. 27). Wichtig ist mir auch die Freiheit von „Beurteilungen und Bewertungen“ (ebda.), auch von positiven, weiß ich doch mit Rogers (2000, S. 69), dass sie „auf die Dauer merkwürdigerweise genauso bedrohlich“ sind „wie“ ... „negative“.

Es ist mir besonders wichtig geworden, die gleichbleibende bedingungsfreie, liebe-
volle Wertschätzung für den Klienten in seinem aktuellen Sein einschließlich seiner Unzufriedenheit damit zu empfinden, mich darauf zu konzentrieren. Eine besondere Wertschätzung der Veränderung(sziele) ist etwa als Ermutigung zwar verlockend - vor allem wegen der Ängste, die der Klient damit verbindet -, erzeugt aber leicht in ihm ein Gefühl, gedrängt zu werden, und dagegen Abwehr. Ich kann das auch gut nachfühlen, denn die Differenzierung der Wertschätzung bringt ein Element der Bedingtheit in sie hinein; mit meinem Abschlussklienten habe ich das erlebt und sukzessive vermeiden können.

Schließlich kann ich gut nachvollziehen, dass eine Basis dieser „warmen, entgegenkom-menden, nicht besitzergreifenden Wertschätzung“ mein Vertrauen in die „konstruktiven Möglichkeiten“ (Rogers 2002, S. 27) des Klienten ist, hinter dem wieder das Vertrauen in meine eigenen Möglichkeiten, das wohlwollende Akzeptieren meines Seins steht, womit sich eine Querverbindung zur Kongruenz ergibt.

Vorher aber noch zur Empathie oder, wie Rogers in „Therapeut und Klient“ (2002) schreibt: „sensibles und präzises einfühlendes Verstehen des Klienten seitens des Therapeuten“, dh. „die Erlebnisse und Gefühle des Klienten und deren persönliche Bedeutung präzise und sensibel zu erfassen“ (S. 23). Hier meine ich vieles erst in relativ jüngerer Zeit wirklich rezipiert zu haben, was unmittelbar einleuchtend erscheint. Etwa dass einfühlendes Verstehen klarerweise bedeutet, sich „in die innere Welt des Klienten mit ihren ganz privaten personalen Bedeutungen, als ob es die Welt des Therapeuten selbst wäre“ (ebda.), zu begeben und dass ich trotzdem mich immer wieder sehr bald in meinem eigenen Bezugsrahmen gefunden habe. Ein klares Indiz dafür ist das Anbieten von Bedeutungen, die noch viel zu weit weg vom Rande des Gewahrwerdens des Klienten sind. Finke (1994, S. 47f.) weist eindrucksvoll auf den geringen therapeutischen Wert solchen „Intellektualisierens“ hin.

Dass die Empathie zwei Komponenten hat - Einfühlen und Verstehen - streicht ebenfalls Finke (ebda., S. 42f.) als für mich sehr wertvollen, verdeutlichenden Punkt heraus. Verstärkt bei Gefühlen empathisch zu verweilen und nicht zu rasch Bedeutung und Verstehen dafür anzuregen, danach zu suchen ist für mich eine wichtige Wiederentdeckung. Die ermutigende Wirkung in der Therapie wird dann auch spürbar, vor allem wenn sie sich mit bedingungs-loser Wertschätzung verbindet, diese mit Substanz erfüllt bzw. von ihr überhöht wird.

Die bedeutsamste Lesefrucht zur Empathie fand ich bei Finke (eigenartigerweise im Zusammenhang mit der Akzeptanz) unter Bezugnahme auf K. Jaspers, der ein erhellendes und ein entlarvendes Verstehen unterscheidet und dazu schreibt (zitiert nach Finke 1994, S. 34): „Verstehende Psychologie hat in ihrem Verfahren eine merkwürdige Doppeltheit. Sie kann oft wie boshaft erscheinen in der Entlarvung von Täuschungen, sie kann gütig erscheinen in dem Bejahen durch Erhellung eines Wesenhaften...Im faktischen Betrieb drängt sich oft die boshafte Seite auf. Skeptisch oder hassend meint sie ständig nur, ‘dahinterzukommen’. Die Wahrheit dieses Verstehens will ein Durchschauen der universalen Unwahrhaftigkeit sein... Dagegen ist das erhellende Verstehen eine bejahende Grundhaltung. Sie geht liebend auf das Wesen“ (ein), ...“sieht das substantiell Seiende vor ihren Augen wachsen. Die entlarvende Psychologie baut ab und findet ‘nichts weiter als’, die erhellende Psychologie bringt positiv zum Bewusstsein, was ist“. Das Bewusstmachen dieser beiden Seiten des Verstehens hilft mir, mich weniger im „unumgänglichen Fegefeuer“ des Entlarvens als im Bejahend-Erhellenden zu bewegen.

Damit komme ich zur letzten der den Therapeuten betreffenden Bedingungen (Rogers 1991, S. 40) oder - wie sie Rogers später für mich treffender nennt - „Einstellungen“ (Rogers 2002, S. 30), der Kongruenz, die er als die grundlegendste dieser Einstellungen bezeichnet (ebda.). Sie „besagt, dass der Therapeut sich dessen, was er erlebt oder leibhaftig empfindet, deutlich gewahr wird und dass ihm diese Empfindungen verfügbar sind, so dass er sie dem Klienten mitzuteilen vermag, wenn es angemessen ist“ (ebda., S. 31). Ich bevorzuge das Wort Ein-stellung, weil es die Kongruenz in den Therapeuten (hin)einstellt, während Bedingung für mich immer etwas von Äußerem an sich hat. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie die grundlegendste Therapeuteneinstellung ist.

Nur im Zustand der Kongruenz lebe ich auch die anderen Therapeutenhaltungen. In ihr werde ich gewahr, wenn ich nicht empathisch, nicht wertschätzend bin, in ihr habe ich die Chance, über die augenblicklich im Wege stehende(n) Erfahrung(en) dorthin zurückzukehren, nur in ihr handelt es sich ohne (auch unbewusste) Fassade „um eine direkte, personale Begegnung mit dem Klienten“, in der ich ich selbst bin (ebda.).

„Diese Bedingung ist gewiss nicht einfach auszufüllen“ (ebda.), aber insbesondere in Offenheit für meine eigenen Perfektionsansprüche und Versagensängste ist dies „wenigstens“ über mehr oder weniger weite Strecken möglich - diese „Einschränkung“ gilt m.E. aber auch für Empathie (vgl. dazu das Verständnis von Empathie als ein „prozesshaftes Geschehen, das jeweils Verstehen und Nichtverstehen beinhaltet ...“ bei Mitterhuber/Wolschlager 2001,
S. 148) und Wertschätzung.

Die größte Herausforderung stellt für mich das Äußern der eigenen Empfindungen dar, das ich in Rogers’ späterer Schrift (2002, Original 1975, Seite 31f.) stärker betont finde als in der früheren (2000, Original 1961, S. 74f.). Insbesondere wenn es um negative Empfindungen geht, führt das mitunter zu einer Gratwanderung zwischen Wertschätzung und Kongruenz.

Ausführlich beschäftigt sich Finke (1994, S. 65ff.) mit der Kongruenz, dem „Therapieprinzip Echtheit“, das er im Bereich der Therapietheorie unmittelbar dem Aspekt der („neuen“) Kommunikation, somit der Beziehung zuordnet (ebda., S. 15ff). Im weiteren Verlauf (S. 78ff.) spricht mich vor allem an, was Finke als „Beziehungsklären“ bezeichnet, allerdings nicht als Therapietechnik, sondern als unmittelbarste Form der Begegnung: das Aufgreifen des vom Klienten in noch so verschlüsselter Form eingebrachten Themas der Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten.

Ich tue das mit meinem Abschlussklienten etwa seit der 80. Sitzung immer wieder, und es hat meist spürbare, Spannungen und Stagnation lösende Wirkung - „meist“, weil selbst in solchen Interaktionen sich wieder Fassaden aufrichten können. Aber allein im Ansprechen des Themas Beziehung steckt immer ein großes Stück Kongruenz.

Zur Kongruenz im direkten Thematisieren der Beziehung gehört auch die Beziehungsangst. Sie erlebe ich, gerade wenn ich offen bin, und ich erlebe auch, dass es möglich ist, mit ihr (kongruent) in Beziehung zu bleiben, und dass damit eine Entwicklung in Gang kommt, und eine wenig tröste ich mich damit, dass selbst Rogers vom Wagnis der Beziehung und der Angst vor dem Klienten schreibt (2000, S. 80).

Letztendlich meine ich, dass kongruent anwesend, in Beziehung zu sein mit seinen guten
und schlechten Empfindungen, manchmal gar nicht wahrnehmbar geäußert, manchmal verbalisiert, jener „presence“ sehr nahe kommt, die der späte Rogers als besonders wirksam in der Therapie erlebte (Stumm/Keil 2001, S. 26).


 

Inhaltsverzeichnis

Jost Steiner

Literaturverzeichnis