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Jost Steiner

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2.3. Konfrontation von klientenzentrierter Literatur mit meinen Beziehungserfahrungen


2.3.1. Definition und Demontage


Natürlich habe ich mich in der Literatur zuerst auf die Suche nach einer Definition begeben, und es ist mir ähnlich gegangen wie bei meiner Selbstexploration: Allenthalben Betonung der Bedeutung von Beziehung, bs. in der Therapie, aber keine explizite Definition im Sinne von „Unter Beziehung verstehe ich (noch besser: versteht man) ...“ Es tauchten die Begriffe Kontakt und Begegnung, auch Kommunikation und Interaktion auf, aber die exakten Definitionen habe ich auch dafür nicht gefunden.

So ist es mir schon mit den - natürlich zuerst konsultierten - Schriften von Rogers selbst gegangen: Die Bedeutung von Beziehung für eine erfolgreiche Psychotherapie und unser Leben im allgemeinen ergibt sich implizit aus ihrer zentralen Stellung, ganzen Kapiteln, Beiträgen darüber, und auch explizit wird sie betont, ja geradezu mit der klientenzentrierten Psychotherapie gleichgesetzt (vgl. Rogers 2002, S.17: „Die klientenzentrierte Orientierung
ist eine sich ständig weiterentwickelnde Form der zwischenmenschlichen Beziehung, die Wachstum und Veränderung fördert“ - Hervorhebung von mir). Eine Definition aber blieb
mir - im ersten Anlauf - verborgen.

Das hat sich fortgesetzt bei Schmid (1995) trotz seiner tiefschürfenden Analysen bis in philosophische und anthropologische Hintergründe. Beispielhaft sei hiezu auf seine Ausführungen unter dem Zwischentitel ‘„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (....) - Die Bedeutung der Beziehung’ (S. 104ff) verwiesen, in dem Schmid außerdem zwischen den Begriffen Begegnung und Beziehung ohne ausdrückliche Abgrenzung wechselt.

Den Charakter einer Enttäuschung hat mein Suchen bei Prouty (in Prouty et al. 1998 und Prouty 2002) erhalten. Prouty verwendet den Terminus Kontakt und kritisiert Rogers, weil er diesen als erste Bedingung des therapeutischen Prozesses nennt, aber nicht genauer definiert (Prouty 1998, S.32). Er fährt dann aber mit Ausführungen zu Kontaktebenen fort und erfüllt meine Definitionserwartungen nicht.

Rückblickend merke ich, dass sich dann in mein lesendes Suchen nach einer Definition der Hintergedanke eingeschlichen hat, dass ich ohnehin nichts finden werde. Das hat sicher auch eine Rolle dabei gespielt, dass ich mich bei Swildens (1991) in meiner negativen Erwar-tungskomponente bestätigt gesehen habe, obwohl ich im Abschnitt „Phänomenologie der Beziehung“ (ebda., S. 52ff, bs. 52-55) im zweiten Anlauf wichtige Definitionsmerkmale gefunden habe, die beim ersten Lesen unter der Feststellung des Fehlens einer „Beziehung
ist ..“- Definition untergegangen sind.

Auslöser dafür war die Lektüre von E. Zinschitz’ Artikel „Beziehung: Ein tausendfach reflektierender Spiegelsaal“ (2002), der mir gezeigt hat, dass im bereits Gelesenen manch Definitorisches enthalten ist und meine Suchhaltung wieder ins Positive gedreht hat. Gleichzeitig ist sie weniger streng und subjektiver geworden: es geht mir nicht mehr so sehr um die perfekte Definition auf möglicherweise ziemlich abstrakter Ebene (wie etwa meine eigene im Vorabschnitt, ohne mich davon zu distanzieren), sondern es befriedigen mich einzelne Charakteristika des Phänomens Beziehung, und zwar vor allem dann, wenn ich sie subjektiv als bedeutend für meine Beziehungserleben empfinde. Ich erkenne Beziehung auch ohne exakte Definition als bedeutsam für mich; die Definition bleibt mir wichtig, aber sie wird in ihrer Vorrangigkeit demontiert.

Zinschitz beginnt ihre Ausführungen damit, dass sie feststellt, dass Rogers in seine Bedingungen des therapeutischen Prozesses zwei grundlegende Elemente „jener Fähigkeit“ (im gegebenen Zusammenhang der bzw. zur Beziehung) eingebaut hat, „die der Mensch für soziale Interaktion und für das In-der-Welt-Sein überhaupt braucht“, nämlich des Kontaktes miteinander (1.) und der Wahrnehmung voneinander (6.; Zinschitz 2002, S.45).

Zur Bedingung „1. Zwei Personen befinden sich in Kontakt“ (Rogers 1991, S. 40; Hervorhebung im Original) erläutert Rogers (ebda., S. 34): „Menschen befinden sich in psychologischem Kontakt oder haben das Minimum an Beziehung, wenn sie eine offen oder unterschwellig wahrgenommene Veränderung des Erlebnisfeldes des anderen erzeugen“. Zinschitz sieht das als eine „gemeinsame Aktivität (der) involvierten Personen“ (a.a.O.,
S. 46); mir erscheint besonders die Wechselseitigkeit wichtig, dass nämlich jede involvierte Person „eine ... wahrgenommene Veränderung des Erlebnisfeldes des anderen“ erzeugt. Ich registriere mit Genugtuung, dass die Wahrnehmung meiner eigenen Definition hier vorkommt, und nehme die Veränderung des Erlebnisfeldes als das Wahrgenommene mit Bereicherung zur Kenntnis. Ein wenig verwirrt mich noch, dass Rogers (psychologischen) Kontakt mit (einem Minimum an) Beziehung gleichsetzt und wieder auch nicht, aber damit kann ich leben.

Um Wahrnehmung geht es auch in der 6. Bedingung: „Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaße die Bedingungen 4 und 5 wahr, nämlich die bedingungslose positive Beachtung des Therapeuten ihm gegenüber und das empathische Verstehen des Therapeuten“. (Rogers 1991, S. 40; Hervorhebungen im Original). Rogers erläutert dies auch als des Therapeuten Kommunikation, die den Klienten zumindest ansatzweise erreicht. Ich betone dies deshalb, weil für mich mit dieser Zweitlektüre ein großes, vertiefendes Aha-Erlebnis verbunden ist, dass es nämlich nicht um die Vermittlung und Wahrnehmung abstrakter Bedingungen, sondern um den Therapeuten als Person geht, die sich mit oder besser in diesen Haltungen in den Kontakt bzw. die Beziehung zum Klienten einbringt. Für das oft Gelesene - Wertschätzung und Empathie nicht zu haben, sondern zu sein - erfüllt mich seither ein völlig neues, spürbares und nicht nur rationales Verständnis.

Prouty schreibt (Prouty et al. 1998, S. 35ff.), wie erwähnt, von Kontakt, und zwar in drei Formen von Kontakt - dem Realitäts-, dem affektiven und dem kommunikativen Kontakt. Unter dem Titel Kontaktfunktionen (S. 35ff.) weist er dabei der Wahrnehmung und dem Ausdruck eine zentrale Erklärungsfunktion zu, nämlich (S. 36f.) der „Wahrnehmung der „Welt“, insbesondere von Menschen, Orten, Dingen und Ereignissen“, ... der „Wahrneh-mung von Stimmungen, Gefühlen und Emotionen“ und der „Symbolisierung von Realität (Welt) und Affekt (Selbst) für andere durch Worte und Sätze“, dh. das Wahrgenommene „gegenüber anderen sinngemäß zum Ausdruck zu bringen“ (Hervorhebungen im Original). Unter der Überschrift Kontaktverhalten definiert Prouty meines Erachtens etwas unglücklich Realitätskontakt und affektiven Kontakt - also dieselben Termini - neu als Ausdruck der wahrgenommenen Welt bzw. Affekte bzw. wiederholt mit etwas anderen Worten die Definition des kommunikativen Kontakts.

Die davon ausgehende Irritation wiegt für mich jedoch gering gegenüber der Bestätigung der Wahrnehmung als zentral für Beziehung, und zwar sowohl nach, von außen als auch - was für mich schon in Rogers’ „wahrgenommenen Veränderungen des Erlebnisfeldes“ impliziert ist - von/nach innen und der Hinzufügung der unter Kontaktverhalten von Prouty so bezeichneten „Ausdrucksdimensionen“ (ebda., S. 38).

Ganz ähnlich verstehe ich den bei Zinschitz (2002, S.46) in einer Übersetzung eines holländischen Originals (in: Swildens H./ Haas de, O./ Lietaer, G./ Van Balen, R. (Eds.), Leerboek Gesprekstherapie. Die clientgerichte benadering, Utrecht (De Tijdstroom), S. 355ff.) zitierten O. de Haas, für den Beziehung aus einer Kontakt- und einer Interaktionsdimension besteht. Die erste bedeutet, dass zwei Menschen miteinander in Kontakt sind, wenn sie sich füreinander öffnen, bereit sind, „sich füreinander zu öffnen“; meines Erachtens ist allerdings die tatsächliche Öffnung erforderlich und nicht nur die Bereitschaft. Gegenüber der Aus-drucksdimension kommt für mich jetzt die Eindrucksdimension hinzu, die für mich in der Nähe der Wahrnehmung steht, und zwar der schon genannten extensionalen Wahrnehmung, und eine stärkere Gerichtetheit auf den Anderen.

Die Interaktionsdimension bedeutet die gegenseitige Beeinflussung von Personen, die Anpassung aneinander, wobei wieder das Wort „versuchen“ vorher steht, was mir weniger zusagt. Ich meine, dass es tatsächlich geschehen und nicht nur versucht (Karl Sommers warnendes Wort „A trier is a liar“ wirkt hier bei mir) werden muss - so wie es Rogers als tatsächliche, wenn auch subjektiv „wahrgenommene Veränderung“ beschreibt.

Swildens untersucht Beziehung als allgemeines, typisch menschliches Phänomen vor dem Sonderfall der therapeutischen Beziehung. Er definiert „Beziehung als Matrix, worin Kontakt, Interaktion und Begegnung ihren Platz finden“ (Swildens 1991, S. 54). Kontakt präzisiert er als persönlichen Kontakt, der „Zweck in sich selbst“ ist, „Gleichwertigkeit und Gegen-seitigkeit“ voraussetzt. Er wird möglich durch Zugänglichkeit füreinander, die anthropo-logisch damit begründet wird, dass „kein individuelles Existieren ohne Koexistenz denkbar“ ist (alle Zitate S. 53). Die Bereitschaft zur Öffnung wird betont und auch die begrenzte zeitliche Dimension.

„Begegnung“ ist für Swildens „mehr als Kontakt“, bei dem „die Wechselwirkung zwischen dem je eigenem Erleben im Mittelpunkt“ steht; sie „setzt Kontakt voraus“, doch es geht bei der „Begegnung um ein gemeinschaftliches Erfahren, ein Wir-Erleben, ... um Spitzen-erfahrungen“, die „sicher nicht ... häufig vorkommen“ (S.53).

Unter Interaktion versteht Swildens den funktionellen Umgang der Menschen miteinander (auch funktioneller Kontakt), zB. die Interaktion zwischen Kassierin und Käuferin im Supermarkt; er beschreibt es auch als Beeinflussung und Sich-Beeinflussen-Lassen und warnt vor Unterschätzung, denn der größte Teil dessen, „was Menschen miteinander zu tun haben“ (S. 54), besteht aus Interaktionen.

Swildens zeigt mir die Vielfältigkeit von Beziehung, die Möglicheit des Wechselns zwischen den auch als Berührungsstrukturen oder Umgangsformen bezeichneten Beziehungsphä-nomenen - und das ist von Wert, wenn auch im Schreiben darüber sich fast alles auf die kognitive Ebene verlagert hat; ich finde es etwas blutleer. Und am Ende bleibt für mich auch kognitiv unklar, wie sich Beziehung als „dauernde Vorbedingung .. der Berühungsstrukturen“ zur Beziehung als Matrix verhält und welchen Platz darin die an sich einleuchtend wichtige bis notwendige „zentrale Motivation“ hat (ebda., S. 54).

In Summe fühle ich mich von den verschiedenen Aspekten aus der Literatur - Veränderung des Erlebnisfeldes („mein“ Schwerpunkt bei Rogers), wechselseitige Wahrnehmung, Wahrnehmung nach innen und außen (Prouty), Ausdruck(Prouty), Offenheit und Gerichtetheit (de Haas) Kontakt, Begegnung und Interaktion (Swildens) - trotz teilweiser Überschneidung und Mehrdeutigkeit von Begriffen - bereichert, in der Bedeutung von Beziehung im all-gemeinen bestätigt und zu einer verstärkten Bewusstheit ihrer Vielfältigkeit geführt. Das wieder regt mich an zu untersuchen, was ich aus der Lektüre für mein Verständnis der therapeutischen Beziehung dazugewinnen konnte.

 

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