Praxisteil: Psychotherapie mit
teilleistungsschwachen Kindern
Ja das Schreiben und das Lesen, ist nie mein Fach gewesen
Wie ich bereits beschrieben habe, war ich der Ansicht, lediglich die
Erwachsenentherapie sei wirkliche Psychotherapie. Dass mein
bevorzugtes Arbeiten mit Kindern nicht nur Flucht vor der
Auseinandersetzung mit Erwachsenen sein könnte, sondern auch
Ausdruck meiner besonderen Stärken und Kompetenzen, ist mir lange
nicht in den Sinn gekommen. Ich erinnere mich noch heute an mein
ungläubiges Staunen, als mir an der Klinik eine Studentin erzählte,
dass sie sich vor einer ihr bevorstehenden Testung fürchte, da sie
über keinerlei Erfahrung mit Kindern verfüge. Auch habe ich
Situationen bei Treffen mit Elisabeth und Jost, den beiden anderen
„Wienern“ in meiner Ausbildungsgruppe, vor Augen. Wenn ich ihnen
meine Angst vor dem Arbeiten mit Erwachsenen schilderte, erwiderten
sie, dass es ihnen ähnlich gehe nur umgekehrt, dass sie sich vor
Kindertherapien scheuen, was ich mir ebenfalls kaum vorstellen
konnte. Heute weiß ich, mit (leistungsschwachen) Kindern arbeiten zu
können, ist meine besondere Fähigkeit – die in ihrem Wert der bunten
Vielfalt anderer möglicher psychotherapeutischer
Schwerpunktsetzungen nicht nachsteht!
Mein zweites Missverständnis, war lange, dass ich lediglich Spielen,
nicht jedoch Arbeiten mit Kindern, als Psychotherapie begreifen
konnte. Auf die Übungen zur Verbesserung schwacher Teilleistungen
und auf das Material zum Training des Lesens und Rechtschreibens
zentriert, übersah ich, wie viele wertvolle Prozesse der
Selbstaktualisierung sich beim Arbeiten mit Kindern vollziehen. Erst
als ich im zweiten Teil des Fachspezifikums aus konkreten Stunden
Interaktionen transkribieren und klientenzentriert diagnostizieren
sollte, sah ich mich gezwungen, auf das zurückzugreifen, was ich
hatte – und das waren damals ausschließlich meine Stunden mit
legasthenischen Kindern, die zumeist zu gleichen Teilen aus Arbeit
und Spiel bestanden. Ich weiß noch, wie verwundert und begeistert
ich darüber war, dass sich die Unterstützung der Kinder im
Leistungsbereich – sogar einfaches Aufgabemachen – für mich in
psychotherapeutischer Hinsicht als „ungeschliffener Rohdiamant“
erweis.
Wenn ich einen kurzen Blick auf die Literatur zum Thema Legasthenie
werfe, merke ich, dass ich mit der ursprünglichen Einseitigkeit
meines Psychotherapiebegriffs und auch meines Begriffs von
Leistungsförderung, nicht alleine bin. Komplexeste Publikationen zu
den ausgeklügeltsten Lernhilfen sind heute zahlreich, es gibt aber
auch rezente Veröffentlichungen wie z.B. „Psychoanalyse der
Lese-Rechtschreibschwäche“ von Erika Mertens (2002), die in
Falldarstellungen darlegt, wie sie Legasthenikern (ohne jegliche
Lernbetreuung) allein durch Kinderanalyse zu helfen vermag.
Ganz anders sieht es Lotte Schenk-Danzinger (1980), Doyenne der
österreichischen Legasthenieforschung, die auf der Seite 89 ihres
Buches schreibt: „Man sollte sich aber nicht darauf verlassen, dass
eine Psychotherapie alleine hilft, denn die Schule wartet nicht! Die
Fortschritte, die sich allein durch die emotionale Stabilisierung
einstellen, werden nur allzu leicht von den Anforderungen überholt.“
Noch spannender (weil integrativer und ganzheitlicher) sind für mich
die Ausführungen der Kinderpsychiaterin und Analytikerin Annemarie
Dührssen, die in ihrem 1960 erstveröffentlichten Buch
„Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen“ darauf hinweist, „dass
in fast allen Kindertherapien Lern- und Leistungsprobleme eine große
Rolle spielen.“ (Dührssen 1980, Seite 308) Im Anschluss daran führt
sie aus, dass es in diesem Zusammenhang mitunter auch darauf
ankommt, „dass wir über die sonstige analytische Therapie hinaus
noch weitere spezifische Lernhilfen geben können.“ Sie geht im
Weiteren auch ganz explizit auf Leserechtschreibschwierigkeiten ein
und zeichnet sich meiner Ansicht nach durch einen sehr achtsamen und
differenzierten Zugang zu Kindern mit den unterschiedlichsten
Lernschwierigkeiten aus.
Wenn ich mich recht erinnere, ist mir Dührssens Buch schon in meiner
Klinikzeit begegnet, spätestens als ich im Abschied begriffen, ein
Referat für Kindergartenpädagoginnen zum Thema „Spiel – Spiegel der
Seele“ vorbereitete, in dem ich mich mit den Unterscheiden zwischen
dem Spielverhalten von psychisch gesunden und psychisch
beeinträchtigten Kindern beschäftigte. Ich habe sowohl das Buch als
auch die eben zitierten Passagen aktiv gesucht, muss die Inhalte
also zumindest bruchstückhaft gespeichert haben. – Daher wundere ich
mich, dass ich mir bis heute nicht die Chance gegeben habe, die
Grundlagen meiner Arbeit außer Streit zu stellen, anstatt mich darin
immer wieder von Neuem anzuzweifeln.
Das Mädchen aus der Stadt und ich – gegenseitige Entwicklungshilfe
Als ich meine Abschlussarbeit konzipierte stand schnell fest, dass
ich meinen Weg mit Nina darstellen würde, die ich von ihrem neunten
bis zu ihrem zwölften Lebensjahr begleiten durfte. Die Therapie mit
ihr ist lange abgeschlossen, ich bin auf meine Dokumentationen und
Erinnerungen angewiesen, und doch muss gerade sie es sein!
Weshalb? Weil es sich bei Nina um jenes Mädchen handelt, das ich
persönlich eng mit meiner Entwicklung zur Psychotherapeutin, mit der
Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung meiner (beruflichen)
Identität verbinde. Ich denke, wir sind uns ähnlich, haben einander
berührt, haben kooperiert und gekämpft, leider habe ich sie vor
allem in der Anfangsphase oft missverstanden doch nach und nach
immer mehr gelernt, sie zu begreifen und anzunehmen, mich in aller
Freundschaft von ihr abzugrenzen bzw. ihre vielfältigen
Grenzziehungen zu respektieren – je mehr Nina sich zu zeigen begann,
umso deutlicher konnte ich erahnen, was es heißen mag, mit einer
Legasthenie leben zu müssen.
Aus heiterem Himmel – eine Anamnese
Nina kam als sie achteinhalb Jahre alt war mit ihrer Mutter zu uns
in die Praxis. (Meine Freundin Karin und ich arbeiteten damals
diagnostisch im Team!). Nina stand am Beginn der zweiten
Volksschulklasse, die sie wegen ihrer Legasthenie „freiwillig“
wiederholte. Wir lernten ein zartes, blondes, etwas durchsichtiges
Mädchen kennen, das uns vor allem durch seine Zurückhaltung auffiel.
Nina erzählte nur sehr wenig von der Schule und antwortete auf viele
unserer Fragen mit schutzsuchendem Blick zur Mutter, die sich jedoch
nicht einmischte, mit „weiß nicht“ bzw. „nix“. Nina ist die einzige
Tochter ihrer Eltern, der Vater arbeitete als Angestellter, die
Mutter war nicht berufstätig. Nach einer bis auf das Überspringen
des Krabbelns (möglicher Vorbote von Legasthenie) völlig
unauffälligen Entwicklung, waren die Probleme in der Schule
unmittelbar mit Schulbeginn völlig unvermutet, quasi aus heiterem
Himmel, über die Familie hereingebrochen. Nina die mit dem
Schulbesuch sicher viele berechtigte positive Erwartungen verknüpft
hatte, erklärte schon bald, angesichts ihrer Probleme die Buchstaben
zu erlernen und aus dieser Kenntnis die Fähigkeit zu Schreiben und
zu Lesen aufzubauen, im Kindergarten habe es ihr viel besser
gefallen. Auch wenn sie äußerte, gerne wieder in den Kindergarten
zurückkehren zu wollen, bemühte sie sich doch redlich, den
schulischen Leistungsanforderungen gerecht zu werden, das Schreiben
und Lesen zu erlernen – leider vergebens. Nina hatte, als sie bei
uns vorgestellt wurde, einen zweijährigen Leidensweg hinter sich.
Trotz intensiven eigenen Bemühens, trotz Unterstützung durch Schule
(z.B. Legasthenieförderunterricht) und Familie (z.B. vermehrtes
Üben) tat Nina sich noch zu Beginn ihres dritten Schuljahres schwer,
von der Tafel abzuschreiben, sie verwechselte nach wie vor
Buchstaben und hatte auch immer größere Probleme, sich zu
konzentrieren, bei der Sache zu bleiben und ein angemessenes
Arbeitstempo zu erreichen.
Die Wiederholung der zweiten Klasse (mit der Legasthenielehrerin der
Schule als Klassenlehrerin, die uns als fordernder und strenger als
die bisherige Lehrerin beschrieben wurde, worin die Mutter Hoffungen
setzte!) sollte einer Leistungsstabilisierung dienen. Die Mutter
hatte die „freiwillige“ Klassenwiederholung gegen den Rat der
früheren Klassenlehrerin, der Direktorin und der Schulpsychologin
durchgesetzt, daher halte ich sie für den Ausdruck einer tiefen
elterlichen Irritation durch Ninas Leistungsprobleme (kein
Elternteil hatte in seiner Schulzeit ähnliche Erfahrungen gemacht),
die das Mädchen zusätzlich zu ihren eigenen Selbstzweifeln massiv
belastete. Als die Mutter am Ende der vorangegangenen Sommerferien,
mit Nina üben wollte, weigerte sich diese vehement. Die bis zum
Schuleintritt problemlose Mutter-Kind-Beziehung schien die
gemeinsame Hilflosigkeit angesichts der unlösbaren Probleme
widerzuspiegeln. Die Mutter hatte versucht, Nina durch Belohnungen
bzw. Bestrafungen zu besseren Leistungen zu motivieren (z.B.
Fernsehen nur dann, wenn Nina ihre Hausübung in einer angemessenen
Zeit alleine erledigt), war jedoch, mangels Besserungen, wieder
davon abgekommen. – Uns saßen also ein kleines braves Mädchen und
eine große brave Mama gegenüber, in denen viel Buntes und
Lebendiges, Interessiertes und Kräftiges steckte, das wir nicht
sehen konnten, da sie verzweifelt und verloren waren, sich nicht
verstehen konnten, niemand hatten, der sie verstand.
Du sollst nicht merken – psychologische Diagnostik
Nina war in ihrem zweiten Schuljahr vom schulpsychologischen Dienst
getestet worden. Es gab keinen schriftlichen Befund, doch auch unser
Eindruck bestätigte, die mündliche Auskunft der Kolleginnen, dass es
sich bei Nina um ein legasthenisches Kind im Sinne der
Diskrepanzdefinition (umschriebene Leistungsschwäche bei über/
durchschnittlicher Intelligenz) handelte. Also zentrierten sich
unsere diagnostischen Bemühungen auf die Suche nach jenen
Teilleistungsschwächen, die den hartnäckigen
Leserechtschreibproblemen des Mädchens zu Grunde lagen. Es zeigten
sich deutliche Beeinträchtigungen visueller Basisfunktionen (optische
Differenzierung, optische Gliederung und optisches Gedächtnis),
erhebliche Schwierigkeiten im intermodalen (Verbindung zwischen
optischem und akustischem Sinneskanal) Gedächtnis, sowie Defizite in
Raumwahrnehmung und Raumorientierung. Schwächen, die Ninas
Legasthenie nur zu gut erklärten, zumal keine geeigneten
Kompensationsstrategien (wie z.B. Merktechniken o. Ä.) zu beobachten
waren. Heute wundere ich mich, dass wir keine Verfahren zur
Persönlichkeitsdiagnostik eingesetzt haben (wir arbeiten gewöhnlich
mit dem Satzergänzungstest und der Familie in Tieren), führe dies
aber darauf zurück, dass uns dafür keine Zeit geblieben ist. Denn
Nina, die für die Bewältigung der von uns an sie gestellten
Anforderungen viel Kraft und Zeit brauchte, bedurfte zahlreicher
Spiel- und Erholungspausen, um durchhalten zu können. Wir gewannen
den Eindruck einer gravierenden Erschöpfbarkeit. Diese führe ich
einerseits auf die große Anstrengung bei der Bewältigung von
Anforderungen zurück, die den intensiven Einsatz beeinträchtigter
Basisfunktionen verlangten und halte sie andererseits für das
Zeichen eines inneren Kampfs mit der Spannung, die in Nina entstand,
wenn sie merken musste, dass sie nicht so viel leisten konnte, wie
sie wollte. Erschreckend war für mich, dass Nina ihre Müdigkeit
nicht direkt zum Ausdruck bringen konnte, sondern „durchzutauchen“
versuchte. Dieses „Durchtauchen“, zu dem auch eine beobachtbare
Ungenauigkeit und (vermutete) innere Abwehr gehörten, ging so weit,
dass Nina, als ich ihre Müdigkeit für sie aussprach, abwinkte und
meinte, sie könne eh noch, obwohl sie auf der anderen Seite den
Endruck vermittelte, sie würde am liebsten ausschließlich spielen.
Ich habe dieses Verhalten das meiner Ansicht nach dem Selbstschutz
diente in meinem damaligen Befund als „innere Emigration in
Leistungssituationen“ bezeichnet und war tief berührt von Ninas Not.
Umschrieben schwach und hoffnungslos erschöpft – ICD-10 Diagnosen
Wenn ich nun das, was ich damals erfahren habe, in Form von ICD-10
Diagnosen zu fassen versuche, so würde ich F81.0 (Lese- und
Rechtschreibstörung) und F93.9 (nicht näher bezeichnete emotionale
Störung des Kindesalters) kodieren.
F81.0 Umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung. Diese liegt laut
ICD-10 nur dann vor, wenn so wie bei Nina fünf Grundbedingungen
gegeben sind:
1. Die Beeinträchtigung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit ist
klinisch eindeutig.
2. Diese Beeinträchtigung ist nicht durch Defizite in der
allgemeinen Intelligenz erklärbar.
3. Die Schwierigkeiten bestehen von Beginn der Schullaufbahn an.
4. Die schulischen Probleme können durch äußere Faktoren nicht
ausreichend begründet werden.
5. Die Lese- und Rechtschreibstörung ist auch nicht direkt auf eine
unkorrigierte optische oder akustische Beeinträchtigung (wie
Fehlsichtigkeit oder Schwerhörigkeit) zurückzuführen.
Bei Nina war der Lese- und Rechtschreibstörung (anders als bei
vielen anderen Kindern) keine umschriebene Entwicklungsstörung des
Sprechens oder der Sprache vorausgegangen. Das passt auch dazu, dass
wir im Test visuelle und nicht akustische
Informationsverarbeitungsdefizite fanden. Nina wies jedoch einige
der im ICD-10 angeführten Begleitsymptome auf: Sie hatte nicht nur
Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sondern auch emotionale Probleme, die
als psychische Reaktion auf eine umschriebene Lese- und
Rechtschreibstörung für die frühe Schulzeit typisch sind.
F93.9 Nicht näher bezeichnete emotionale Störung des Kindesalters.
Diese beginnt wie alle Störungen der Kategorie F9 in Kindheit oder
Jugend. Da es eine Kategorie mit diesem speziellen Störungsbeginn
gibt, widerstrebt es mir, Ninas emotionale Beeinträchtigung durch
ihre Lese- und Rechtschreibstörung unter F3 (Affektive Störungen)
bzw. F4 (Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen)
einzuordnen. Für F3 hätte gesprochen, dass einige Depressionszeichen
vorlagen, dies jedoch in einer für das Kindesalter typischen
Ausformung. Für F4 würde sprechen, dass Ninas emotionale
Beeinträchtigung als Reaktion auf ihre Belastung durch das
Schulversagen begriffen werden musste. Diese blieb jedoch bei Nina
letztlich viel länger bestehen, als unter F43 gefordert. Auch wenn
ich nun eine sehr diffuse Kategorie gewählt habe, bin ich doch von
der ursprünglich vorgesehenen Einstufung unter F92.0 (Störung des
Sozialverhaltens mit depressiver Störung) abgekommen, da ich Ninas
aggressives Verhalten für nicht ausreichend halte, diese – meiner
Ansicht nach – harte Diagnose zu stellen. Leider gibt es unter der
Kategorie F93 (emotionale Störungen des Kindesalters) keine mit
Akzent auf belastungsbedingten depressiven Rückzug bzw. aggressive
Verweigerung bei Überforderung. Also will ich die Chance, die in
dieser „Wischi-waschi-Kategorie“ liegt nutzen und Ninas emotionale
Störung näher bezeichnen.
In diesem Zusammenhang sei mir ein kurzer Rückgriff auf die
Literatur gestattet. In der bereits zitierten Studie von Andreas
Bäcker und Gerhard Neuhäuser (2003) wurde mit Hilfe der Child
Behavior Checklist zwischen internalisierenden und
externalisierenden Syndromen als psychische Reaktion auf Lese- und
Rechtschreibstörungen unterscheiden, Kategorien, die in ähnlicher
Weise schon Niemeyer fand, der Legastheniker „einerseits als
depressiv, ängstlich, stimmungslabil, entmutigt, störbar,
verschlossen und krankheitsanfällig, andererseits als aggressiv,
unbeherrscht, widerspenstig und feindselig gegen Mitschüler“
schildert. (Schenk-Danzinger 1980, Seite 82) Ich würde Nina der
ersten Kategorie zuordnen.
Schenk-Danzinger selbst hat die Verhaltensauffälligkeiten
legasthenischer Kinder in vier Reaktionstypen gegliedert, die sie in
zwei Kategorien zusammen fasst:
Sie meint, dass manche Kinder mit Kompensationsmechanismen (wie z.B.
Clownerie, tollkühnem Verhalten, Prahlen, Wichtigtuerei und erhöhter
Unfugbereitschaft) und/oder Aggressivität bzw. Feindseligkeit
(streitsüchtig und angriffslustig, bereit zu spotten, andere
herabzusetzen und zu verklagen, trotzig, überempfindlich, störend
und unruhig) reagieren, während andere Abwehr- und
Ausweichmechanismen (aktive und passive Verweigerung, Opposition
gegen alles Schulische bis hin zu ungerechtfertigten
Minderleistungen) und/oder regressives Verhalten (scheu, ängstlich,
empfindlich, unruhig, stimmungslabil, weinerlich, deprimiert bis zum
Lebensüberdruss, apathisch, zieht sich in Tagträume zurück, weist
psychosomatische Symptome auf) wählen. Schenk-Danzingers zweite
Kategorie beschriebt Ninas emotionale Reaktion auf ihr Versagen
umfassender als die von Niemeyer und passt zum Konzept der gelernten
Hilflosigkeit (=Wahrnehmung von Unbeeinflussbarkeit). Diese hat laut
Seligmann drei Folgen (vgl. Herkner 1981, Seite 136):
1. Passivität: Legastheniker müssen oft erleben, dass sie keinen
Einfluss auf ihre Lese- und Rechtschreibleistungen haben. Doch wenn
sie keinen Zusammenhang zwischen Üben und Leistung sehen, dann fehlt
für sie der Anlass, etwas zu tun, ihre Motivation sinkt.
2. Lernstörungen: Wenn die überprüften Lese- und
Rechtschreibleistungen unabhängig vom Ausmaß des vorangegangenen
Übens sind, tendieren Legastheniker dazu anzunehmen, dass sie ihren
Lernerfolg auch in anderen Bereichen nicht beeinflussen können.
3. Traurigkeit: Die Erfahrung, an einer unangenehmen Situation
nichts ändern zu können, ihr hilflos ausgeliefert zu sein, führt zu
depressiven Verstimmungen.
Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995) weisen darauf hin, dass
Kinder deren Legasthenie von den Eltern als Versagen gewertet wird
und die deswegen zu Hause Ablehnung erfahren, mit höherer
Wahrscheinlichkeit depressiv auf ihr Versagen reagieren als Kinder,
die sich durch eine Verminderung ihrer Anstrengungen oder durch
geringere Bewertung ihrer schulischen Erfolge schützen können.
Nicht so sein wollen, dürfen, können – klientenzentrierte Diagnostik
Nina wurde von der Erfahrung des unaufhörlichen Scheiterns in
schulischen Leistungssituationen wie von einem Blitz aus heiterem
Himmel getroffen.
Das in seiner bisherigen Entwicklung „sufficient functioning child“,
erlebte völlig unvorhergesehen sein Unvermögen, die Kulturtechniken
Lesen und Schreiben gut zu erlernen. Ich denke, es ist für jeden von
uns schwierig, die Erfahrung der Begrenztheit seiner Möglichkeiten
zu integrieren, doch eine Grenzerfahrung wie diese – als über/durchschnittlich
kompetentes Kind aus unerklärlichen Gründen nicht gut Lesen und
Schreiben lernen zu können, an Funktionen zu scheitern, auf denen
wir in der ganzen weiteren Schulzeit aufbauen, die wir alle zu den
Grundlagen der Bildung zählen – ist nahezu unerträglich. Das
bisherige Selbsterleben „ich kann schon jetzt einiges und ich bin
auch fähig, noch viel Neues dazulernen; ich bin schlau; ich bin
leistungsstark, vor allem dann, wenn ich mich bemühe; ich will in
die Schule gehen und dort Lesen, Schreiben, Rechnen und alles andere
lernen, was es dort für mich zu lernen gibt ...“ stand in krassem
Widerspruch zu tagtäglich erneuerten Erfahrungen wie z.B. „ich merke
mir die Buchstaben nicht, ich kann sie nicht verlässlich auseinander
halten, ich kann daher auch einfache Wörter nicht lesen; beim
Schreiben komme ich ebenfalls durcheinander und mache viele Fehler;
es wird auch dann nicht besser, wenn ich mich sehr anstrenge und
viel übe; ich bin so verunsichert, dass ich am liebsten nichts mehr
sehen, hören und sagen würde, ich will weg ...“.
Nina hatte in den zwei Jahren ihres Schulbesuchs eine Reihe von sehr
unangenehmen Erfahrungen gemacht, die in krassem Widerspruch zu
ihrem bisherigen (in Entwicklung befindlichen) Selbstbild standen.
Auch Erwachsene wären von Selbstwahrnehmungen, die so sehr von den
bisherigen abweichen, die so tief enttäuschen, die so unvermutet
auftauchen, die so unausweichlich und unabänderlich sind, wie die
von Nina, zutiefst verunsichert. Die unerträgliche Schärfe der
erlebten Diskrepanz schrie geradezu nach Auflösung. Das
Nicht-lesen-und-nicht-schreiben-Können war jedoch genauso Faktum wie
seine Unbeeinflussbarkeit durch zusätzliche Anstrengung. Daher
musste (ohne Wissen um Ursachen und Auswirkungen der Legasthenie)
das frühere Bild von sich als kompetent und leistungsfähig ins
Wanken geraten. „Bin ich wirklich so blöd?“, wird wohl jene Frage
sein, die Nina sich in ihren ersten beiden Schuljahren immer öfter
stellte. Ihren verzweifelten Versuch zu verstehen, fasse ich für
mich in die Frage: „Was ist bloß los mit mir?“ Die zahlreichen
unangenehmen Erlebnisse führten mit Sicherheit zu einer Vielzahl von
Emotionen, die in Ninas Leben weder Sitz noch Stimme hatten ...
Was braucht ein Mensch, ein Kind zu Beginn seiner Schullaufbahn, in
einer derart unangenehmen Lebenslage. Eine Bezugsperson, die es in
der Erfahrung des Scheiterns ohne Bedingungen annimmt, genau
versteht und dabei sie selbst bleibt. Das ist sehr viel verlangt!
Ninas Mutter (und wahrscheinlich auch ihr Vater) war dazu nicht in
der Lage! Wie auch? Eltern wie diese, mit einer ganz „normalen“
eigenen Schullaufbahn und einem bisher ganz „normal“ entwickelten
Kind, erwarten auch bei diesem eine ganz „normale“ Schulkarriere
(eventuell mit etwas Nachhilfe, diversen Durchhängern in der
Motivation, der einen oder anderen Entscheidungs- bzw. Nachprüfung,
vielleicht sogar einer Ehrenrunde), könnten ihr Kind dabei auch
halbwegs wertschätzend, einfühlsam und kongruent begleiten. Doch
unerklärliche und unbeeinflussbare Lese- und Rechtschreibprobleme
von Anfang an, versetzen auch gelassene Eltern über/durchschnittlich
intelligenter Kinder in Panik. Was ist bloß mit ihnen los? Wie wird
es mit ihnen weitergehen? Was soll nur aus ihnen werden? ... – diese
und zahlreiche andere besorgte Fragen drängen sich auf, immer
lauter, je unsolidarischer und konkurrenter, je härter und
anspruchsvoller unsere Welt wird, und je grundlegender in Frage
steht, ob wir alle Platz haben.
Das schmerzliche Nicht-angenommen-und-nicht-verstanden-Werden im
unerklärlichen und bedrohlichen Scheitern und im Bemühen, dieses zu
verhindern, verunmöglichte Nina, sich selbst in ihrem Versagen und
all ihren damit verbundenen Gefühlen anzunehmen und zu verstehen. Da
Nina von ihren Eltern und leider auch von Seiten der Schule, wo ich
mir oft mehr Kompetenz wünsche, keine unbedingte positive Beachtung
und kein Verständnis erfuhr, begann sie sich auch selbst nur mehr
unter bestimmten Bedingungen (v. a. gut in der Schule zu sein, gut
lesen und schreiben zu können) positiv zu beachten. Sie hatte, als
sie zu mir kam, neben einem Selbstbild, das viele negativ bewertete
Erfahrungen enthielt, eine klare Vorstellung vom höchst kompetenten
Selbst entwickelt, dass sie am liebsten wäre (Idealselbst), dem sie
jedoch nie und nimmer gerecht werden konnte. Daher vermied sie es,
in Situationen zu geraten, die ihr deutlich machten, dass sie fremde
und/oder eigene Ansprüche nicht erfüllen konnte.
Zu Ninas organismischen Bedürfnissen zähle ich ihren Wunsch mit
ihren Problemen angenommen und verstanden zu sein, ihre Sehnsucht,
sich zu erklären was mit ihr los ist, ein realistisches aber doch
hoffnungsvolles Bild von sich Selbst zu entwickeln, zu erkennen, was
ihr helfen könnte, ihre Leistungen zu verbessern, zu betrauern,
worauf sie keinen Einfluss nehmen kann, die Erfahrung zu machen,
innerhalb ihrer Möglichkeiten etwas erreichen zu können etc.
Endlich angekommen – die Erfahrung von Diagnostik und
Therapieindikation
Viele Familien, die in unsere Praxis kommen entspannen sich oft
schon beim kurzen gemeinsamen Gespräch vor der Testung bzw. der
Anamneseerhebung. Kinder sind berührt, wenn sie Fragen hören, die
unser mitfühlendes Wissen zum Ausdruck bringen, wenn sie spüren,
dass uns vertraut ist, was sie nicht begreifen und benennen können.
Ähnlich geht es ihren Eltern, die mündliche und schriftliche (Testbesprechung
& Befund) Erklärungen erhalten, nach denen sie meist lange gesucht
haben und die sie oft erheblich entlasten. Besonders wichtig ist für
sie mitunter unsere Erfahrung, dass legasthenische Kinder, wenn sie
sich in ihrer schwierigen Situation eine liebevolle, genaue und
wahrhaftige Selbstwahrnehmung bewahren, oft schwere doch
erfolgreiche (=durchkommen) Schuljahre erleben, danach aber privat
und beruflich zu einem sehr reichen Leben finden können.
Wie es Ninas Mutter damals erging weiß ich nicht mehr, einerseits
deshalb, weil zu der Zeit Karin die meisten Testbesprechungen
durchführte und andererseits auch deswegen, weil ich die
therapeutische Elternarbeit damals angstvoll ohne ein stabiles
Selbstverständnis betrieb und auch lange Zeit schlecht
dokumentierte. (So ist es mir z.B. als ich mit Nina arbeitete nicht
eingefallen, dass ich auch die Gespräche mit ihrer Mutter aufnehmen
könnte!)
Nina selbst scheint jedoch Erleichterung verspürt zu haben. Es war
ihr in unserer ersten gemeinsamen Stunde deutlich anzumerken, dass
sie sich freute, kommen zu dürfen und dass sie am liebsten die ganze
Vielfalt der Spielanregungen in unseren Räumen durchprobiert hätte.
Ich denke, dass sie damit auch zum Ausdruck brachte, dass sie mein
Beziehungsangebot (in jener Güte, die mir damals möglich war) als
hilfreich wahrnehmen und sich darauf einlassen konnte.
Wohin des Weges – Ziele der Therapie
Wie ich bereits erwähnt habe, sehe ich die Arbeit mit Nina auch als
Weg zu meiner beruflichen Identität, d.h. ich habe unter anderen
Voraussetzungen begonnen, als ich jetzt reflektiere und schreibe.
Zieldefinitionen gehören bis heute nicht zu meinen Stärken, sie
wecken in mir die Angst, mich zu sehr festzulegen, mich viel zu
früh, viel zu unbedeckt zu zeigen, nichts mehr wachsen lassen zu
können, weil ich – von einem alten Muster in Versuchung geführt –
diese Ziele dann auch unbedingt erreichen, etwas schaffen bzw.
leisten muss. Ziele sind für mich selten Orientierungshilfe, weil
ich sie meist so anstarre, dass mir Geschmeidigkeit und Originalität
aber auch Lebendigkeit und Flexibilität abhanden kommen. Ich fände
es erleichternd und schön, wenn ich das Bild hätte, dass uns Ziele,
die meine KlientInnen und ich immer wieder neu überprüfen und
justieren können, auf einen guten Weg führen werden.
Auch wenn wir es damals nicht sehr deutlich machten, Nina und ich
hatten ein gemeinsames Ziel, allerdings verschiedene Vorstellungen
vom Weg dorthin. – Wir wollten beide, dass es Nina besser geht, ich
meinte jedoch, das bedürfe primär der Verbesserung von Ninas
Leistungsvermögen mit speziellen auf sie abgestimmten Übungen, Nina
war sichtlich überzeugt, es würde ihr besser gehen, wenn sie in
unseren Stunden auf Arbeit verzichten könnte und ungehindert spielen
dürfte.
Ich finde, sie hat Recht behalten und es ist ihr gut gelungen, mich
von der Leuchtkraft ihres Sterns zu überzeugen, meine anfänglichen
Bewertungsbedingungen außer Kraft zu setzen – und somit (wie bereits
erwähnt) ihr und mir Entwicklungshilfe zu leisten. Doch auch meine
Zielvorstellungen waren nicht nur abwegig.
Heute meine ich, dass es in der Legasthenietherapie vornehmlich
darauf ankommt, dass die Kinder ihr Selbstbild differenzieren (das
... kann ich nicht oder nur schwer, aber dafür kann ich das ... gut)
und v. a. ihre Selbstachtung wiedererlangen.
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