Das Drama des legasthenischen/teilleistungsschwachen Kindes
In der Entwicklungspsychologie betrachten wir Umbruchsphasen wie die
Geburt eines Geschwisterkindes und den Tod einer geliebten Person,
den Kindergarteneintritt und den Abschluss der Ausbildung,
Karenzzeit und Beförderung, Eheschließung und Scheidung etc. als „critical
life events“, deren Bewältigung unterschiedlich gut gelingt, je nach
dem über welche eigene Kompetenz und über welche soziale
Unterstützung wir verfügen. Wenn Kinder in der schwierigen
Umstellungsphase rund um den Schuleintritt umschriebe
Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten entwickeln, die durch
Teilleistungsschwächen bedingt sind, dann sind sie vor sehr schwere,
kaum bewältigbare Zusatzbelastungen gestellt. Diese möchte ich nun
zu Beschreiben und zu Begründen versuchen, auch wenn ich weiß, dass
ich immer nur über Ansätze des dazu nötigen mitfühlenden Wissens
verfüge, das durch den Versuch einer schriftlichen Darstellung auch
noch viel von seiner affektiven Unmittelbarkeit verliert.
Die Einschulung erfolgt in Phase 3 der Selbstentwicklung nach
Bierman-Ratjen. Die Kinder sind damit beschäftigt sich in ihren
Augen und in den Augen anderer als die zu entdecken, die sie sind
und werden können, in all ihren realen Möglichkeiten und Grenzen.
Informationen über ihre Fähigkeiten zur Bewältigung schulischer
Leistungsanforderungen und Rückmeldungen über die Qualität ihrer
Kompetenzen im Vergleich mit denen Gleichaltriger sind für Kinder in
diesem Alter sinnvolle und notwendige Entwicklungsanreize. – Dies
jedoch nur unter der Bedingung, dass die Kinder von ihren wichtigen
Bezugspersonen (vor allem von ihren Eltern, im günstigsten Fall aber
auch von ihren Lehrern) in der Gesamtheit ihres Leistungsspektrums
wahrgenommen, in ihrem diesbezüglichen Erleben und in den damit
verbundenen Affekten verstanden und ohne Bedingungen akzeptiert
werden. Leider haben intellektuelle Kompetenzen im Allgemeinen und
Kulturtechniken im Besondern in unserer Leistungsgesellschaft ein
besonders hohes Gewicht. Ich halte dies für eine generalisierte
Bedingung für positive Bewertung, verschärft in einer Zeit in der
angesichts knapper werdender Ressourcen ein unsolidarischer
Konkurrenzkampf, angeheizt durch Slogans wie „Leistung muss sich
wieder lohnen“, zunehmend gesellschaftsfähig wird.
Selbstkonzept
Kinder mit Legasthenie hatten vor ihrem Schuleintritt viele
berechtigte Phantasien, was sie in der Schule alles lernen und
leisten würden. Doch werden sie von ihrer Realität oft bitter
enttäuscht. Bis zu einem gewissen Grad zu Recht, bis zu einem
gewissen Grad zu Unrecht, werden sie als Kinder angesehen, die
banale schulische Anforderungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen mit
links bewältigen müssten und schätzen sich auch selbst so ein. Die
Intelligenz dieser Kinder führt dazu, dass sie die Defizite mit
denen sie kämpfen, voll und ganz wahrnehmen können und müssen, dass
sie nach Erklärungen für diese schmerzlichen Erfahrungen suchen.
Auch investieren sie viel Kraft in den Erwerb und Einsatz von
Kompensationsstrategien, lernen z.B. ganze Lesebücher auswendig, um
ihr Bild von dem was sie sind und werden können (gute Schüler)
aufrecht zu erhalten, obwohl sie auch mit diesen Strategien entweder
von Anfang an oder mit zunehmenden Anforderungen scheitern.
Teilleistungsschwache Kinder sind ständig und unausweichlich darauf
gedrängt, dass sie nicht sind und bei bestem Willen auch nicht sein
können, was sie gerne wären, gute Schüler, die u.a. auch gut Lesen,
Schreiben und Rechnen. Sie werden (wie ich gleich genauer ausführen
werde) von ihren wichtigen Bezugspersonen in diesem für sie
bedrohlichen und unerklärlichen Erleben meist weder verstanden noch
geschätzt und beginnen (oft erst nach einer Phase höchster Anpassung
an die wahrgenommenen Wertmaßstäbe der wichtigen Bezugspersonen)
aggressiv oder regressiv auf diese unliebsamen Selbsterfahrungen zu
reagieren.
Wichtige Bezugspersonen – Eltern, Lehrer, Therapeuten
Besonders problematisch ist, dass teilleistungsschwache Kinder, die
ungewöhnlich früh, unausweichlich und nachhaltig die Begrenztheit
der eigenen Möglichkeiten in ihr Selbstbild zu integrieren haben,
wegen des geringen Allgemeinwissens unserer Gesellschaft zum Thema
Legasthenie, meist auf Bezugspersonen treffen, die sie in ihren
unerklärlichen Selbstwahrnehmungen bei bestem Willen nicht verstehen
können. Menschen, die umschriebe Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten weder aus eigener noch aus geteilter Erfahrung kennen,
die dahinterliegende Störungen und begleitende Probleme nicht fassen
können, sind nicht (oder nur in sehr geringem Ausmaß) fähig, Kinder
mit Teilleistungsschwächen im vielfältigen und dramatischen
affektiven Erleben ihrer Grenzen korrekt zu verstehen und ihnen bei
der Entwicklung eines realistischen Bildes, von dem, was sie sind,
und einer hoffnungsvollen Perspektive, von dem, was sie werden
könnten, beizustehen. Auch wenige betroffene Eltern beziehen aus
ihrer Legasthenie Gelassenheit und Einfühlungsvermögen, meist sind
die eigenen Kindheitserfahrungen unverarbeitet, es besteht die
Gefahr, dass sie hochkommen.
Legasthenische Kinder haben nicht nur mit ihrer Enttäuschung über
sich selbst zu kämpfen, in der sie nicht verstanden und angenommen
sind und sich auch selbst nicht verstehen und annehmen können. Sie
sind auch noch durch intensive Reaktionen relevanter Bezugspersonen
auf ihre Schwächen belastet. In einer Zeit, die sich durch
zunehmenden Kampf um gute gesellschaftliche Positionen auszeichnet,
hinter der die immer größer werdende Angst vor Arbeitslosigkeit und
Fall aus dem sozialen Netz steht, kann ich den massiven Druck, den
Eltern empfinden (und meist auch weitergeben), deren Kinder
Schulleistungsschwierigkeiten haben, nur zu gut verstehen. Doch weiß
ich aus Erfahrung, dass dieser Druck zur Verschlechterung und nicht
wie (von den Verfechtern von Zucht, Ordnung und harter Arbeit
fälschlich angenommen) zur Verbesserung der Probleme führt.
Eltern die bis zum Schuleintritt mit Recht unerschütterlich an ihre
Kinder geglaubt haben, diese im Profil ihrer Stärken und Schwächen
verstehen und annehmen konnten, sind erschüttert, wenn ihre Kinder
schon mit den ersten öffentlichen Leistungsanforderungen nicht
zurecht kommen, können diese Wahrnehmung ihrer Kinder bei bestem
Willen nicht wertschätzen, sind angesichts der Gegensätzlichkeit
ihrer Erfahrungen (der Diskrepanzen im Leistungsspektrum ihrer
Kinder) zutiefst verunsichert, fragen sich, ob die Kinder gescheit
sind, ob sie die Anforderungen der Schule bewältigen können. Die
Kinder merken, dass an ihnen gezweifelt wird, zweifeln schon lange
an sich selbst, sind schwer besorgt um ihr Bild von sich und ihren
Möglichkeiten, würden Halt und Unterstützung brauchen, erfahren
jedoch viel zusätzliche Irritation. Tiefgreifende
Fehlinterpretationen, wie z.B. er/sie könnte wenn er/sie nur wollte,
muss sich nur mehr anstrengen und mehr üben etc. fügen diesen
Kindern enorme zusätzliche Verletzungen zu. Sie fragen sich, ob sie
die faulen und unwilligen Kinder sind, für die sie gehalten werden,
während sie sich oft unbemerkt verausgaben.
Was hier fehlt ist oft das Grundvertrauen in die
Aktualisierungstendenz, in die Kraft, jedes Kindes zur
Weiterentwicklung, die es auch motiviert, Lesen, Schreiben, Rechnen
zu lernen. Allein das Bild vom Kind das die Kulturtechniken erlernen
will, schafft legasthenischen Kindern Erleichterung. Die Erfahrung,
dass jemand das Problem kennt, benennen und verstehen kann, zusammen
mit dem Kind nach Ursachen und Bewältigungsmöglichkeiten sucht,
verschafft vielen Kindern, die mit ihren Eltern erstmals zur
Diagnostik in unsere Praxis kommen, spürbare Erleichterung. Wenn
hier ein Stück Verstehen und Wertschätzung erfahren wird, kann der
(ohnehin erschwerte) Selbstentwicklungsprozess wieder in Gang
kommen.
Die Gruppe der Gleichaltrigen
Für Kinder mit Teilleistungsschwächen ist es auch nicht immer
leicht, in der Gruppe der Gleichaltrigen einen guten Platz zu
finden. In einer Phase wo es vermehrt um Themen der Ablösung geht,
wo Kompetenz gefeiert und Konkurrenz gesucht wird, hängen
Teilleistungsschwächen manchen Kindern wie ein Klotz am Bein. Sie
haben geringere Chancen sich von ihren Eltern abzugrenzen, wissen
sie doch, dass sie diese oft spätestens dann wieder brauchen, wenn
es gilt, Hausübung zu machen bzw. zu kontrollieren. Sie wissen auch,
dass es zahlreiche Leistungsbereiche gibt, in denen sie inkompetent
sind und daher nicht konkurrieren können. Gott sei Dank zählen
Kulturtechniken und Schulleistungen in unverbildeten Kindergruppen
oft weit weniger als musische, kreative, sportliche o.Ä.
Kompetenzen. Dann haben auch teilleistungsschwache Kinder, sofern
sich ihre Probleme nicht auch auf diese Funktionen auswirken, gute
Chancen Bereiche zu finden, in denen sie sich und anderen zeigen
können, was in ihnen steckt. Leider besteht jedoch die Gefahr, dass
Kinder mit Teilleistungsschwächen so viel Zeit zum Lernen brauchen,
dass ihnen kaum Gelegenheit dazu bleibt, zu tun und damit zu
entwickeln, was sie mögen und gut können, ob es sich nun um Fußball
spielen, bauen, konstruieren, zeichnen, singen, tanzen,
fotografieren, programmieren etc. handelt.
Wenn ich also mein Verständnis vom Einfluss einer umschriebenen
Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten auf die Aktualisierung
des Selbst zusammen fasse, so trifft die Teilleistungsschwäche ein
Kind akkurat in jener Entwicklungsphase in der es sich mit der
Entwicklung eines realistischen Bildes von dem beschäftigt, was es
ist und was es sein könnte – also im ungünstigsten Moment und
irritiert dieses Bild empfindlich. Viele dieser Kinder hören, mit
ihren Schulleistungen können sie später einmal nur Straßenkehrer
werden. – Ein Beispiel dafür, dass das legasthenische Kind von
seinen Bezugspersonen, die in ihre eigenen Irritationen angesichts
der Probleme des Kindes verstrickt sind, oft völlig allein gelassen,
missverstanden oder abgewertet wird. Eine sekundäre Neurotisierung
durch die Legasthenie ist (bis auf Ausnahmefälle) die geringste zu
erwartende Konsequenz, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch eine
Erschütterung des Selbst, das zutiefst bedrohliche nahezu
unintegrierbare Erfahrungen macht und in diesen von den wichtigen
Bezugspersonen oft weder angenommen, noch korrekt verstanden und
auch nicht geschätzt wird – Erfahrungen, die also auf jeder Stufe
der Selbstentwicklung angesiedelt sein können. Ich halte es für
möglich, dass Kinder beginnen sich massiv an einem Idealselbst zu
orientieren, dem sie nie und nimmer entsprechen (können und wollen),
dass das Realitätserleben für manche von ihnen so schmerzlich ist,
dass sie sich in Größenphantasien flüchten, verzweifelt ein
grandioses Selbst aufrecht zu halten und zu bestätigen versuchen,
Omnipotenz phantasieren. Ich denke, dass einige von ihnen die große
affektive Belastung durch die Legasthenie nicht bewältigen können
und in ein Stadium zurückfallen, wo sie die Verantwortung für die
Steuerung ihrer Impulse und Wahrnehmungen zurücklegen, die dann
immer wieder mit ihnen durchgehen. Ich kann mir auch vorstellen,
dass die Irritation des Selbstkonzepts so groß ist, dass es zu einer
Art Wiederbelebung von Stufe 2 der Selbstkonzeptentwicklung nach
Biermann-Ratjen kommt, in der es um die Integration von
Selbsterfahrungen der Scham und des Selbstzweifels, der ohnmächtigen
Wut, der Bedrohung der Selbstachtung durch
Sich-nicht-verständlich-machen-Können und
Sich-nicht-geliebt-und-anerkannt-Vorfinden geht und um die Wut ob
der eigenen Abhängigkeit und Kleinheit.
Jede Erhöhung des Stresspotentials durch negative/positive
Aufregungen können das Selbst zusätzlich irritieren, das jedoch
durch protektive Faktoren geschützt ist.
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