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psychotherapeutische Arbeit mit lern- und leistungsschwachen Kindern

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Sein und werden wie ich bin – klientenzentriertes Entwicklungsbild

„Bedürfnisse und die affektive wie kognitive Wahrnehmungswelt von Kindern basieren auf ihrem psychischen Entwicklungsstand, d. h. ihren jeweiligen emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen.“ schreibt Barbara Reisel (2001) in der Überzeugung, dass entwicklungspsychologisches Wissen PsychotherapeutInnen ein vertieftes Verständnis für ihre KlientInnen ermöglicht – nicht allein wenn es sich um Kinder, sondern auch wenn es sich um Erwachsene handelt.
Ich liebe Entwicklungspsychologie und ich liebe es auch Erkenntnisse/Konzepte aus verschiedenen Disziplinen miteinander zu kombinieren, was mir natürlich immer nur in Ansätzen gelingt. Also möchte ich in einem ersten Schritt versuchen, die klientenzentrierte Theorie unter dem Blickpunkt der kindlichen Entwicklung darzustellen, um in einem zweiten Schritt Hypothesen dazu zu bilden, wie sich umschriebe schulische Leistungsschwächen auf die kindliche Entwicklung auswirken (können).

Aktualisierungstendenz
Rogers formuliert nur ein (ohne Beweis anerkanntes) Entwicklungsprinzip (Axiom), das für jeden Menschen von Anfang an gilt. Es handelt sich dabei um die Aktualisierungstendenz, „die dem Organismus als Ganzem innewohnende Tendenz, alle seine Möglichkeiten in einer Art und Weise zu entwickeln, dass sie den Organismus als Ganzen erhalten und fördern.“ (Rogers 1959, Seite 159. Zitiert nach: Biermann-Ratjen u.a. 1997, Seite 81)
Biermann-Ratjen u.a. (1997) weisen darauf hin, dass es in Systemtheorie, Biologie und Ethologie mittlerweile Befunde und Modelle gibt, die diese Annahme bestätigen.

Bedürfnis nach positiver Beachtung
Die Autoren führen auch an, dass es biologische Nachweise gibt, dass lebende Organismen, nur in einer hinreichend angemessenen Umwelt die Freiheit haben, ihre eigene Natur zu entfalten. Nicht allein aus diesem Grund betrachten sie das Bedürfnis des Kindes nach positiver Beachtung durch seine Bezugspersonen als zweites übergeordnetes Prinzip im klientenzentrierten Konzept. Auch die Befunde aus der Bindungstheorie, gegründet von Bowlby und Ainsworth, weitergeführt von Grossmann & Grossmann, haben „klar gezeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder das angeborene Bedürfnis haben, sich 1. an eine eng begrenzte Zahl vertrauter Personen zu binden und sich 2. der zuverlässigen Verfügbarkeit und Zuwendung dieser Bindungspersonen zu versichern; alle anderen Bedürfnisse sind diesem einen Bedürfnis des Kindes nach akzeptierender Zuwendung durch eine verlässlich zugängliche Bezugsperson weitgehend nachgeordnet.“ (Biermann-Ratjen u.a. 1997, Seite 91)

Selbstaktualisierungstendenz
Ein Teil der Aktualisierungstendenz ist die Selbstaktualisierungstendenz. Damit meinen wir das Streben des Organismus, Teile seines Erlebens zu bewussten/symbolisierten Erfahrungen zu machen, diese Erfahrungen zu bewerten (Erfahrungen der Erhaltung und Förderung bzw. der Bedrohung und Hemmung des Organismus) und aus ihnen ein Selbst(-bild) zu entwickeln. Erfahrungen können nur dann zu Selbsterfahrungen werden, wenn sie zusammen mit den Bewertungen des Organismus (förderlich/hemmend), von einer anderen Person, die sich ihrer gesamten Erfahrungen im Kontakt mit dem Kind bewusst (kongruent) ist, erkannt (empathisch verstanden) und anerkannt (unbedingt positiv beachtet/wertgeschätzt) werden.

Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung
Positive Persönlichkeitsentwicklung findet in Beziehungen statt, in denen die Bezugsperson kongruent (d.h. sie selbst) ist, das Kind empathisch versteht und es unbedingt wertschätzt. – Unter der Voraussetzung, dass das Kind dieses Beziehungsangebot zumindest im Ansatz wahrnimmt! Auf lange Sicht lernt das Kind, die Beziehung die diese Bezugsperson zu ihm hat, immer mehr auch zu sich selbst zu haben – es kann sich seine Erfahrungen immer mehr bewusst machen und sich selbst immer besser verstehen und annehmen.

Ohne Affekte kein Verständnis
Heute sind wir sicher, dass der Prozess der Entwicklung von Anfang an als Produkt der Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt zu begreifen ist. Im Säuglings- und Kleinkindalter ist die wechselseitige Anpassung zwischen Mutter und Kind, das sogenannte „matching“, besonders bedeutsam. (Bohleber 1992)
Voraussetzung dafür, dass ein Mensch von einem anderen in seinem Erleben verstanden werden kann sind seine Affekte. Von Geburt an erfährt der Mensch seine Umwelt und sich selbst (in seinem Bezug zur Umwelt) in seinen Affekten. In seinen Affekten bewertet ein Mensch sein Erleben und durch seine Affekte bringt er es zum Ausdruck.
„Die basalen Affekte – Freude, Interesse, Überraschung, Trauer, Furcht, Ekel, Wut und Scham – sind als Empfindungs- (d.h. Erfahrungs- und Bewertungs-) sowie Ausdrucksprogramme angeboren. Sie sind an Babys unmittelbar nach der Geburt oder im Verlauf der ersten Lebensmonate beobachtbar und sicher identifizierbar. D.h. andere Menschen können sich in das Baby einfühlen, können sein Erleben erkennen/ verstehen und das Kind in diesem mehr oder weniger akzeptieren.“ (Biermann-Ratjen 1996, Seite 14f)
Der bewusst erlebte Affekt eines Erwachsenen enthält mindestens sechs verschiede Komponenten (1. physiologische und hormonelle Veränderung; 2. damit korrelierend Änderung des Ausdrucksverhaltens; 3. Handlungsbereitschaften; 4. Wahrnehmung von 1. bis 3. durch das Individuum, 5. Interpretation dieser Wahrnehmung durch das Individuum; 6. Interpretation des gesamten Verhaltens durch die Umwelt). Das Ausdrucksverhalten, die sogenannten Signalkomponenten eines Affekts (Vokalisierung und Mimik) sind ab der Geburt vorhanden und erkennbar, die motorischen und kognitiven Komponenten des Affekts entwickeln sich erst später.
Ein Kind kann sich seiner Affekte nur dann nach und nach bewusst werden, diese nur dann korrekt symbolisieren, nur dann zu einem Teil seines Selbst/Selbstbildes/ Selbstkonzepts machen, wenn es zuvor in diesen seinen Affekten von der wichtigen Bezugsperson richtig wahrgenommen und angenommen worden ist. Die Bezugsperson muss also doppelt symbolisieren – ihr eigenes Erleben und das des Kindes – um diesem gegenüber einfühlsam und wertschätzend sein zu können. Das ist schwierig und daher störanfällig. Der wichtige Andere kann dem Kind die vollständige und korrekte Symbolisierung seiner Affekte auf vielfältige Weise erschweren/verunmöglichen – er kann die Affekte seiner Kindes (vollständig oder teilweise) nicht beachten, diese aber auch falsch verstehen oder bewerten/interpretieren.

Das Selbst entwickelt sich in Phasen
Biermann-Ratjen (1996) versteht Selbstentwicklung als Prozess der zunehmenden Differenzierung von Selbsterfahrungen. Sie geht davon aus, dass sich die Selbstaktualisierung in Phasen vollzieht.

1. Phase: Hier geht es primär darum, dass das Kind die Erfahrung macht, dass seine Affekte von seinen wichtigen Bezugsperson überhaupt wahrgenommen und grundlegend angenommen werden. Nur unter diesen Voraussetzungen können aus den ersten affektiven Erfahrungen des Kindes erste Selbsterfahrungen werden, nur so können ein erstes Selbstbild und eine erste Selbstachtung entstehen.

2. Phase: Hier geht es vor allem darum, dass alle Affekte des Kindes (auch jene, die das eigene Selbst betreffen) von seinen Bezugspersonen einfühlsam, richtig und genau verstanden werden. In der vorangegangenen Phase hat sich ein erstes Selbstbild entwickelt. Dieses ist nun Teil des Erlebens. Es kommt daher auch zu Affekten, die Ausdruck der Bewertung (Selbstbild und Selbstachtung bestätigend oder bedrohend) dieses Selbsterlebens sind. Auch dieser – höchst bedeutsame – Teil des Erlebens kann nur dann ins Selbstbild integriert werden, wenn er von wichtigen Anderen richtig verstanden (Empathie) und angenommen (Wertschätzung) wird.
„Wenn sich schließlich ein Selbst entwickelt hat, in das auch die Möglichkeit der Erfahrung von z.B. Scham und Selbstzweifel, ohnmächtiger Wut etc. integriert werden konnte und die Selbstachtung nicht erschüttert wird durch jede Form des Sich-nicht- verständlich-machen-Könnens und des Sich-nicht-geliebt-und-anerkannt-Vorfindens, inklusive der dazugehörigen Gefühle, vor allem, der ohnmächtigen Wut ob der eigenen Abhängigkeit und Kleinheit, kann das Kind sein Interesse darauf richten, was es sein und werden kann – in der eigenen Wahrnehmung und in den Augen anderer – z.B. in Abhängigkeit von seiner biologischen Ausstattung (...).“ (Biermann-Ratjen u.a. 1997, Seite 95)

3. Phase: Hier geht es vor allem darum, dass das Kind sich – in seiner Selbstwahrnehmung und in den Augen anderer – als das entdeckt, was es ist und was es werden könnte. Dazu muss es in seinen Möglichkeiten und Grenzen von einer kongruenten (sich ihrer selbst bewussten) Bezugsperson differenziert und wohlwollend wahrgenommen werden – wie es ist und nicht wie es vielleicht sein sollte. Denn diese Selbsterfahrungen (auch die Erfahrung der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten) kann das Kind nur dann in sein Selbstbild integrieren, wenn es von seinen wichtigen Bezugspersonen in seinem Erleben und in den damit verbundenen Affekten verstanden und ohne Bedingungen akzeptiert wird.
„So und nicht anders zu sein und werden zu können, z.B. männlich oder weiblich, kann nicht nur das offen abgelehnte oder unbewusst beneidete oder abgewertete Kind nicht in sein Selbstbild integrieren. Auch das als z.B. ‚mein Kind’ bewunderte und geliebte oder anderwärtig narzisstisch missbrauchte Kind kann diese Selbsterfahrung, in der es nicht ohne Bedingungen von einem kongruenten wichtigen anderen anerkannt wird, nicht in sein Selbstbild integrieren.“, schriebt Biermann-Ratjen (1996, Seite 20) und führt danach aus, dass solche Kinder später immer wieder Lebenssituationen herstellen, in denen sie auf der einen Seite versuchen, die elterlichen Anforderungen im Nachhinein zu erfüllen, auf der anderen Seite jedoch (über Symptome wie Leistungsversagen oder Impotenz) auch jene Erfahrung nachzuholen trachten, die ihnen in ihrer Kindheit versagt geblieben ist, um ihrer selbst willen anerkannt, in ihren Möglichkeiten und Grenzen gesehen und geschätzt zu werden.
Sie werden krank, wenn sie in Beziehungen leben, in denen sich Erfahrungen und Affekte ihrer Kindheit wiederholen und wenn es ihnen nicht mehr ausreichend gut gelingt, die Bewusstwerdung dieser Erfahrungen (jetzt und weiterhin) zu verhindern.

Biermann-Ratjen (1996) weist auf die Vereinbarkeit ihrer klientenzentrierten Entwicklungstheorie mit Eriksons Überlegungen zur Identitätsentwicklung hin. Auch Reisel (2002) findet Eriksons Modell für den personzentrierten Ansatz passend:

Phase 1 entspricht der von Erikson Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen genannten Identitätskomponente, die sich schwerpunktmäßig im ersten Lebensjahr entwickelt. Diese begreift er als „alles durchdringende Haltung sich selbst und der Welt gegenüber, die sowohl ein wesenhaftes Zutrauen zu anderen als auch ein fundamentales Gefühl der eigenen Vertrauenswürdigkeit meint.“ (Erikson 1974, Seite 97). Diese entsteht „aus dem Zusammentreffen von mütterlicher Person und Neugeborenem, einer Begegnung der wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit und des gegenseitigen Erkennens.“ (ebd. Seite 106) Jedes Baby macht in dieser Phase auch einmal unangenehme Erfahrungen – Bedürfnisse können nicht immer sofort befriedigt und Vertrauen kann auch einmal enttäuscht werden. Doch kommt es darauf an, dass vertrauensvolle Erfahrungen deutlich überwiegen, so dass sich das Gefühl des Urvertrauens durchsetzen kann gegen die Niederschläge von Urmisstrauen.

Phase 2 entspricht der von Erikson Autonomie gegen Scham und Zweifel genannten Identitätskomponente, die sich vornehmlich im Verlauf des zweiten und dritten Lebensjahres etabliert. Das Kind beginnt sich von der Mutter abzulösen und seinen eigenen Willen zu entdecken, es kann sich nun selbst von der Mutter entfernen oder sich ihr annähern, will immer mehr selbst machen und kann sich auch immer besser verbal ausdrücken. Die Erfahrung des Gefühls „der Selbstbeherrschung ohne Verlust der Selbstachtung“, die „ontogenetische Quelle des freien Willens“ (ebd. Seite 110) ist Ziel dieser Entwicklungsstufe. Wenn Kinder in ihrem Besteben ein eigenständiges Selbst zu entwickeln und zu behaupten nicht anerkannt werden, wenn Eltern (die in diesem Zusammenhang unvermeidlichen) Konflikte mit ihren Kindern als Kampf missverstehen, wenn es ihnen nicht gelingt, sich bei der Suche nach Lösungen von Konfliktsituationen auch in die innerdynamischen Nöte ihrer Kinder einzufühlen, entwickelt sich ein Hang zu Scham und Zweifeln.

Phase 3 entspricht der von Erikson Initiative gegen Schuldgefühl genannten Identitätskomponente, die zu entwickeln das Kind vornehmlich im vierten und fünften Lebensjahr beschäftigt ist. „Nachdem das Kind fest überzeugt ist, eine selbstständige Person zu sein, muss es nun herausfinden, was für eine Art von Person es werden könnte.“ schreibt Erikson (ebd. Seite 117) und betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Entwicklung einer Geschlechtsidentität (vgl. ödipale Phase). Das Gefühl der Initiative sieht er als Ziel dieser Entwicklungsphase. Wenn das Kind jedoch von seinen starken Phantasien bedroht und beängstigt wird und wenn es sich in seinem magischen Denken und/oder in seinen oft überflutenden Gefühlen der Rivalität und Eifersucht von seinen Bezugspersonen nicht verstanden fühlt, kann es massive Schuldgefühle entwickeln, die dazu führen, dass es lernt, „sich selbst bis zum Zustand allgemeiner Gehemmtheit einzuschränken.“ (ebd. Seite 121).

Gelingt es dem Kind ein ungebrochenes Initiativegefühl zu entwickeln, so kann aus diesem in einem weiteren Schritt (Eriksons vierte Phase Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl mit Altersschwerpunkt zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr) ein realistisches Streben nach Leistung und Unabhängigkeit hervorgehen.

Ein weiteres, meiner Ansicht nach mit diesem Dreischritt der Selbst- bzw. Identitätsentwicklung bis zu einem gewissen Grad vergleichbares Entwicklungsverständnis hat Kegan in „Die Entwicklungsstufen des Selbst“ (1994) vorgestellt:

Erste Gleichgewichtsstufe: einverleibend (0 bis 1½)
In dieser Phase geht es für das Baby darum, nicht mehr wie bei seiner Geburt von seinen Reflexen, Empfindungen und Bewegungen bestimmt zu werden (sie zu sein), sondern diese nach und nach selbst steuern zu lernen (sie zu haben) – z.B. seine Finger nicht mehr im Handgreifreflex automatisch um den Zeigefinger der Mutter zu schließen, sondern willentlich zuzugreifen. So kann es erstmals mit der Welt in Beziehung treten, in die es vorher eingebunden war. Dann erst gibt es ein Subjekt das greift und ein Objekt das begriffen wird.
Diese Prozesse können nur in einer primären Beziehung stattfinden. Das Baby fühlt sich zuerst auch in die Mutter-Kind-Beziehung eingebunden, es ist diese Beziehung. Physische und psychische Erfahrungen der körperlichen Nähe und des Schutzes aber auch Erfahrungen der Anerkennung und Förderung des Ablösungswillens sowie Erfahrungen mit weiteren Bezugspersonen (v.a. dem Vater), ermöglichen es dem Kind, sich selbst als Subjekt und die Mutter als Objekt begreifen zu lernen. Wenn es sein Getrennt-Sein erkannt hat, tritt das Baby sofort in eine intensive Subjekt-Objekt-Beziehung mit seiner Mutter, d.h. es hat diese Beziehung.

Zweite Gleichgewichtsstufe: impulsiv (2 bis 7)
Wenn das Kind seine Reflexe, Empfindungen und Bewegungen selbst steuern gelernt hat, wird es von den Strukturen die diese koordinieren bestimmt, den Impulsen und Wahrnehmungen. Das Kind ist seine Impulse und Wahrnehmungen und kann sie noch nicht haben (d.h. selbst steuern). Daher meint es, dass in zwei verschieden großen, unterschiedlich vollen Wassergläsern auch unterschiedlich viel Wasser ist, auch wenn es vorher zugesehen hat, wie das Wasser aus zwei gleich großen und gleich vollen Gläsern umgeschüttet worden ist.
Im Beziehungsgeschehen zeigt sich das folgendermaßen: Auch andere Menschen sind voll und ganz in die Wahrnehmung des Kindes eingebettet. Ändert sich diese, so ändert sich für das Kind die ganze Person, es kann die Mutter nicht anders begreifen als im einen Moment nur gut und im anderen Moment nur böse – Differenzierungen sind ihm noch nicht möglich. Das Kind kann noch nicht erkennen, dass andere Menschen andere Impulse und Wahrnehmungen als es selbst haben. Es ist der Ansicht, dass auch alle andern das wollen, was es selbst will und das wahrnehmen, was es selbst wahrnimmt.
Um sich hier weiterentwickeln zu können, braucht das Kind von seinen Eltern einerseits Wertschätzung und Verständnis seiner Impulsgebundenheit (Festhalten), andererseits aber auch konsequente und liebevolle Unterstützung beim Erwerb der Impulskontrolle (Loslassen) sowie ihren verlässlichen Rückhalt (in der Nähe bleiben), wenn es beginnt, sich vermehrt anderen Kindern und Erwachsenen zuzuwenden.
Die Eltern müssen das Kind in seinem Bestreben, selbst Verantwortung für seine Impulse und Wahrnehmungen zu übernehmen respektieren (zeigt sich zB in eigenem Zimmer, Taschengeld, Uhr etc.) und ihre Rolle als alleinige entwicklungsfördernde Instanz mit Gleichaltrigen und Schule teilen, die beim Kind Regeln und Rollen sowie Eigenständigkeit und Kompetenz einfordern.
Je deutlicher das Kind erkennt, das es seine Impulse und Wahrnehmungen hat und nicht ist, umso mehr lernt es auch, die Eigenständigkeit der Impulse und Wahrnehmungen anderer anzuerkennen und sich diesen zuzuwenden – das geschieht jedoch auf eine (für das Schulalter typische) kontrollierende und manipulative Weise.

Dritte Gleichgewichtsstufe: souverän (7 bis 12)
Wenn das Kind gelernt hat, selbst Verantwortung für die Kontrolle seiner Impulse und Wahrnehmungen zu übernehmen, gewinnen diese zeitliche Beständigkeit, es entstehen stabile Dispositionen (Bedürfnisse, Interessen und Wünsche). Das Kind erlebt sich auch selbst als beständig, beginnt eine stabile Vorstellung von sich zu entwickeln (Selbstkonzept), wird immer unabhängiger von äußeren Bewertungen und immer mehr zu positiver Selbstbeachtung fähig. (Selbstaktualisierungstendenz!) Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle verleiht dem Kind Gefühle von Macht, Freiheit und Unabhängigkeit. Themen der Ablösung wie Kompetenz, Selbstachtung, Selbstdarstellung und Selbsterhöhung herrschen vor. Die Gruppe der Gleichaltrigen (Kinder können einander nun gegenseitig Halt geben) wird immer bedeutsamer. In der Bezogenheit auf andere findet die in dieser Phase gefeierte Eigenständigkeit ihre Grenzen. Wenn Kinder erkennen, dass sie ihre Dispositionen haben (und nicht sind), können sie aufhören, ihre Beziehungen kontrollierend und manipulativ zu gestalten. Dann können sie auch lernen, über ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wünsche hinaus zu denken und beginnen, diese mit den Bedürfnissen, Interessen und Wünschen anderer zu koordinieren. Dieses neue Subjekt-Objekt-Gleichgewicht betrachtet Keagan als vierte Gleichgewichtstufe: zwischenmenschlich.

Wenn die Erfahrung zum Feind wird
Inkongruenz ist der zentrale Begriff der Störungslehre der klientenzentrierten Therapie. Diese ist definiert als „Nichtübereinstimmung der gesamtorganismischen Bewertung von Erfahrung mit der Bewertung der Erfahrung in den Bewertungsprozessen, die durch das Selbstkonzept und die Selbstbehauptungstendenz (= Besteben das Selbstbild aufrecht zu erhalten) sowie durch das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung vorgegeben sind.“ (Biermann-Ratjen 1996, Seite 25)
Können die Erfahrungen, die das Selbstkonzept bedrohen, dem Bewusstsein ferngehalten werden, sprechen wir von Abwehr. Diesen Fall verstehen wir als Inkongruenz zwischen der Gesamtheit der Erfahrung und der bewussten Erfahrung.
Wenn die Bedrohtheit des Selbstkonzepts und der Selbstachtung gespürt wird, so wird die Inkongruenz als Angst erlebt. Biermann-Ratjen (1996) hält die Art der Angst, in der die Inkongruenz gefühlt wird, für einen wichtigen diagnostischen Hinweis auf die Stabilität bzw. Instabilität des Selbstkonzepts eines Klienten:
Vernichtungsangst bis hin zur Todesangst, wird dann erlebt, wenn die gesamte Identität eines Klienten bedroht ist, wenn dieser schon in der 1. Phase seiner Selbstentwicklung beeinträchtigt wurde. Solche Klienten brauchen zu ihrer Weiterentwicklung Erfahrungen des Angenommenseins in ihrem Wunsch unbedingte positive Beachtung zu erfahren und als lebens- und liebenswerte Person respektiert und gewollt zu sein, bis sie sich und ihr Identitätsgefühl selbstständig am Leben erhalten können.
Angst vor dem Verlust der Selbstachtung, vor dem Verlust jedweder Möglichkeit, positive Beachtung zu finden, vor dem vollständigen Wertlos- bzw. Böse-Sein und/ oder der Entdeckung, dass die anderen völlig wertlos und ganz böse sind, erleben Klienten mit einer Beeinträchtigung in der 2. Phase der Selbstentwicklung. Sie bedürfen eines genauen Verständnisses ihres verzweifelten Bemühens, Böses und Wertloses von sich fernzuhalten.
Angst vor unangenehmen Beziehungserfahrungen prägt Klienten mit Beeinträchtigung in der 3. Phase ihrer Selbstentwicklung. Erst wenn sie sich in dieser Angst angenommen und verstanden fühlen bzw. annehmen und verstehen können, geht es darum, diese Klienten in ihrer Angst vor der Wiederholung von Selbsterfahrungen zu sehen, in denen sie nicht verstanden und akzeptiert worden sind und in denen sie sich nun auch selbst nicht verstehen und akzeptieren können.

 

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Judith Reimitz

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