Sein und werden wie ich bin – klientenzentriertes
Entwicklungsbild
„Bedürfnisse und die affektive wie kognitive Wahrnehmungswelt von
Kindern basieren auf ihrem psychischen Entwicklungsstand, d. h.
ihren jeweiligen emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen.“
schreibt Barbara Reisel (2001) in der Überzeugung, dass
entwicklungspsychologisches Wissen PsychotherapeutInnen ein
vertieftes Verständnis für ihre KlientInnen ermöglicht – nicht
allein wenn es sich um Kinder, sondern auch wenn es sich um
Erwachsene handelt.
Ich liebe Entwicklungspsychologie und ich liebe es auch
Erkenntnisse/Konzepte aus verschiedenen Disziplinen miteinander zu
kombinieren, was mir natürlich immer nur in Ansätzen gelingt. Also
möchte ich in einem ersten Schritt versuchen, die klientenzentrierte
Theorie unter dem Blickpunkt der kindlichen Entwicklung
darzustellen, um in einem zweiten Schritt Hypothesen dazu zu bilden,
wie sich umschriebe schulische Leistungsschwächen auf die kindliche
Entwicklung auswirken (können).
Aktualisierungstendenz
Rogers formuliert nur ein (ohne Beweis anerkanntes)
Entwicklungsprinzip (Axiom), das für jeden Menschen von Anfang an
gilt. Es handelt sich dabei um die Aktualisierungstendenz, „die dem
Organismus als Ganzem innewohnende Tendenz, alle seine Möglichkeiten
in einer Art und Weise zu entwickeln, dass sie den Organismus als
Ganzen erhalten und fördern.“ (Rogers 1959, Seite 159. Zitiert nach:
Biermann-Ratjen u.a. 1997, Seite 81)
Biermann-Ratjen u.a. (1997) weisen darauf hin, dass es in
Systemtheorie, Biologie und Ethologie mittlerweile Befunde und
Modelle gibt, die diese Annahme bestätigen.
Bedürfnis nach positiver Beachtung
Die Autoren führen auch an, dass es biologische Nachweise gibt, dass
lebende Organismen, nur in einer hinreichend angemessenen Umwelt die
Freiheit haben, ihre eigene Natur zu entfalten. Nicht allein aus
diesem Grund betrachten sie das Bedürfnis des Kindes nach positiver
Beachtung durch seine Bezugspersonen als zweites übergeordnetes
Prinzip im klientenzentrierten Konzept. Auch die Befunde aus der
Bindungstheorie, gegründet von Bowlby und Ainsworth, weitergeführt
von Grossmann & Grossmann, haben „klar gezeigt, dass Säuglinge und
Kleinkinder das angeborene Bedürfnis haben, sich 1. an eine eng
begrenzte Zahl vertrauter Personen zu binden und sich 2. der
zuverlässigen Verfügbarkeit und Zuwendung dieser Bindungspersonen zu
versichern; alle anderen Bedürfnisse sind diesem einen Bedürfnis des
Kindes nach akzeptierender Zuwendung durch eine verlässlich
zugängliche Bezugsperson weitgehend nachgeordnet.“ (Biermann-Ratjen
u.a. 1997, Seite 91)
Selbstaktualisierungstendenz
Ein Teil der Aktualisierungstendenz ist die
Selbstaktualisierungstendenz. Damit meinen wir das Streben des
Organismus, Teile seines Erlebens zu bewussten/symbolisierten
Erfahrungen zu machen, diese Erfahrungen zu bewerten (Erfahrungen
der Erhaltung und Förderung bzw. der Bedrohung und Hemmung des
Organismus) und aus ihnen ein Selbst(-bild) zu entwickeln.
Erfahrungen können nur dann zu Selbsterfahrungen werden, wenn sie
zusammen mit den Bewertungen des Organismus (förderlich/hemmend),
von einer anderen Person, die sich ihrer gesamten Erfahrungen im
Kontakt mit dem Kind bewusst (kongruent) ist, erkannt (empathisch
verstanden) und anerkannt (unbedingt positiv beachtet/wertgeschätzt)
werden.
Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung
Positive Persönlichkeitsentwicklung findet in Beziehungen statt, in
denen die Bezugsperson kongruent (d.h. sie selbst) ist, das Kind
empathisch versteht und es unbedingt wertschätzt. – Unter der
Voraussetzung, dass das Kind dieses Beziehungsangebot zumindest im
Ansatz wahrnimmt! Auf lange Sicht lernt das Kind, die Beziehung die
diese Bezugsperson zu ihm hat, immer mehr auch zu sich selbst zu
haben – es kann sich seine Erfahrungen immer mehr bewusst machen und
sich selbst immer besser verstehen und annehmen.
Ohne Affekte kein Verständnis
Heute sind wir sicher, dass der Prozess der Entwicklung von Anfang
an als Produkt der Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt
zu begreifen ist. Im Säuglings- und Kleinkindalter ist die
wechselseitige Anpassung zwischen Mutter und Kind, das sogenannte „matching“,
besonders bedeutsam. (Bohleber 1992)
Voraussetzung dafür, dass ein Mensch von einem anderen in seinem
Erleben verstanden werden kann sind seine Affekte. Von Geburt an
erfährt der Mensch seine Umwelt und sich selbst (in seinem Bezug zur
Umwelt) in seinen Affekten. In seinen Affekten bewertet ein Mensch
sein Erleben und durch seine Affekte bringt er es zum Ausdruck.
„Die basalen Affekte – Freude, Interesse, Überraschung, Trauer,
Furcht, Ekel, Wut und Scham – sind als Empfindungs- (d.h.
Erfahrungs- und Bewertungs-) sowie Ausdrucksprogramme angeboren. Sie
sind an Babys unmittelbar nach der Geburt oder im Verlauf der ersten
Lebensmonate beobachtbar und sicher identifizierbar. D.h. andere
Menschen können sich in das Baby einfühlen, können sein Erleben
erkennen/ verstehen und das Kind in diesem mehr oder weniger
akzeptieren.“ (Biermann-Ratjen 1996, Seite 14f)
Der bewusst erlebte Affekt eines Erwachsenen enthält mindestens
sechs verschiede Komponenten (1. physiologische und hormonelle
Veränderung; 2. damit korrelierend Änderung des Ausdrucksverhaltens;
3. Handlungsbereitschaften; 4. Wahrnehmung von 1. bis 3. durch das
Individuum, 5. Interpretation dieser Wahrnehmung durch das
Individuum; 6. Interpretation des gesamten Verhaltens durch die
Umwelt). Das Ausdrucksverhalten, die sogenannten Signalkomponenten
eines Affekts (Vokalisierung und Mimik) sind ab der Geburt vorhanden
und erkennbar, die motorischen und kognitiven Komponenten des
Affekts entwickeln sich erst später.
Ein Kind kann sich seiner Affekte nur dann nach und nach bewusst
werden, diese nur dann korrekt symbolisieren, nur dann zu einem Teil
seines Selbst/Selbstbildes/ Selbstkonzepts machen, wenn es zuvor in
diesen seinen Affekten von der wichtigen Bezugsperson richtig
wahrgenommen und angenommen worden ist. Die Bezugsperson muss also
doppelt symbolisieren – ihr eigenes Erleben und das des Kindes – um
diesem gegenüber einfühlsam und wertschätzend sein zu können. Das
ist schwierig und daher störanfällig. Der wichtige Andere kann dem
Kind die vollständige und korrekte Symbolisierung seiner Affekte auf
vielfältige Weise erschweren/verunmöglichen – er kann die Affekte
seiner Kindes (vollständig oder teilweise) nicht beachten, diese
aber auch falsch verstehen oder bewerten/interpretieren.
Das Selbst entwickelt sich in Phasen
Biermann-Ratjen (1996) versteht Selbstentwicklung als Prozess der
zunehmenden Differenzierung von Selbsterfahrungen. Sie geht davon
aus, dass sich die Selbstaktualisierung in Phasen vollzieht.
1. Phase: Hier geht es primär darum, dass das Kind die
Erfahrung macht, dass seine Affekte von seinen wichtigen
Bezugsperson überhaupt wahrgenommen und grundlegend angenommen
werden. Nur unter diesen Voraussetzungen können aus den ersten
affektiven Erfahrungen des Kindes erste Selbsterfahrungen werden,
nur so können ein erstes Selbstbild und eine erste Selbstachtung
entstehen.
2. Phase: Hier geht es vor allem darum, dass alle Affekte des
Kindes (auch jene, die das eigene Selbst betreffen) von seinen
Bezugspersonen einfühlsam, richtig und genau verstanden werden. In
der vorangegangenen Phase hat sich ein erstes Selbstbild entwickelt.
Dieses ist nun Teil des Erlebens. Es kommt daher auch zu Affekten,
die Ausdruck der Bewertung (Selbstbild und Selbstachtung bestätigend
oder bedrohend) dieses Selbsterlebens sind. Auch dieser – höchst
bedeutsame – Teil des Erlebens kann nur dann ins Selbstbild
integriert werden, wenn er von wichtigen Anderen richtig verstanden
(Empathie) und angenommen (Wertschätzung) wird.
„Wenn sich schließlich ein Selbst entwickelt hat, in das auch die
Möglichkeit der Erfahrung von z.B. Scham und Selbstzweifel,
ohnmächtiger Wut etc. integriert werden konnte und die Selbstachtung
nicht erschüttert wird durch jede Form des Sich-nicht-
verständlich-machen-Könnens und des
Sich-nicht-geliebt-und-anerkannt-Vorfindens, inklusive der
dazugehörigen Gefühle, vor allem, der ohnmächtigen Wut ob der
eigenen Abhängigkeit und Kleinheit, kann das Kind sein Interesse
darauf richten, was es sein und werden kann – in der eigenen
Wahrnehmung und in den Augen anderer – z.B. in Abhängigkeit von
seiner biologischen Ausstattung (...).“ (Biermann-Ratjen u.a. 1997,
Seite 95)
3. Phase: Hier geht es vor allem darum, dass das Kind sich –
in seiner Selbstwahrnehmung und in den Augen anderer – als das
entdeckt, was es ist und was es werden könnte. Dazu muss es in
seinen Möglichkeiten und Grenzen von einer kongruenten (sich ihrer
selbst bewussten) Bezugsperson differenziert und wohlwollend
wahrgenommen werden – wie es ist und nicht wie es vielleicht sein
sollte. Denn diese Selbsterfahrungen (auch die Erfahrung der
Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten) kann das Kind nur dann in
sein Selbstbild integrieren, wenn es von seinen wichtigen
Bezugspersonen in seinem Erleben und in den damit verbundenen
Affekten verstanden und ohne Bedingungen akzeptiert wird.
„So und nicht anders zu sein und werden zu können, z.B. männlich
oder weiblich, kann nicht nur das offen abgelehnte oder unbewusst
beneidete oder abgewertete Kind nicht in sein Selbstbild
integrieren. Auch das als z.B. ‚mein Kind’ bewunderte und geliebte
oder anderwärtig narzisstisch missbrauchte Kind kann diese
Selbsterfahrung, in der es nicht ohne Bedingungen von einem
kongruenten wichtigen anderen anerkannt wird, nicht in sein
Selbstbild integrieren.“, schriebt Biermann-Ratjen (1996, Seite 20)
und führt danach aus, dass solche Kinder später immer wieder
Lebenssituationen herstellen, in denen sie auf der einen Seite
versuchen, die elterlichen Anforderungen im Nachhinein zu erfüllen,
auf der anderen Seite jedoch (über Symptome wie Leistungsversagen
oder Impotenz) auch jene Erfahrung nachzuholen trachten, die ihnen
in ihrer Kindheit versagt geblieben ist, um ihrer selbst willen
anerkannt, in ihren Möglichkeiten und Grenzen gesehen und geschätzt
zu werden.
Sie werden krank, wenn sie in Beziehungen leben, in denen sich
Erfahrungen und Affekte ihrer Kindheit wiederholen und wenn es ihnen
nicht mehr ausreichend gut gelingt, die Bewusstwerdung dieser
Erfahrungen (jetzt und weiterhin) zu verhindern.
Biermann-Ratjen (1996) weist auf die Vereinbarkeit ihrer
klientenzentrierten Entwicklungstheorie mit Eriksons Überlegungen
zur Identitätsentwicklung hin. Auch Reisel (2002) findet Eriksons
Modell für den personzentrierten Ansatz passend:
Phase 1 entspricht der von Erikson
Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen genannten
Identitätskomponente, die sich schwerpunktmäßig im ersten Lebensjahr
entwickelt. Diese begreift er als „alles durchdringende Haltung sich
selbst und der Welt gegenüber, die sowohl ein wesenhaftes Zutrauen
zu anderen als auch ein fundamentales Gefühl der eigenen
Vertrauenswürdigkeit meint.“ (Erikson 1974, Seite 97). Diese
entsteht „aus dem Zusammentreffen von mütterlicher Person und
Neugeborenem, einer Begegnung der wechselseitigen
Vertrauenswürdigkeit und des gegenseitigen Erkennens.“ (ebd. Seite
106) Jedes Baby macht in dieser Phase auch einmal unangenehme
Erfahrungen – Bedürfnisse können nicht immer sofort befriedigt und
Vertrauen kann auch einmal enttäuscht werden. Doch kommt es darauf
an, dass vertrauensvolle Erfahrungen deutlich überwiegen, so dass
sich das Gefühl des Urvertrauens durchsetzen kann gegen die
Niederschläge von Urmisstrauen.
Phase 2 entspricht der von Erikson
Autonomie gegen Scham und Zweifel genannten
Identitätskomponente, die sich vornehmlich im Verlauf des zweiten
und dritten Lebensjahres etabliert. Das Kind beginnt sich von der
Mutter abzulösen und seinen eigenen Willen zu entdecken, es kann
sich nun selbst von der Mutter entfernen oder sich ihr annähern,
will immer mehr selbst machen und kann sich auch immer besser verbal
ausdrücken. Die Erfahrung des Gefühls „der Selbstbeherrschung ohne
Verlust der Selbstachtung“, die „ontogenetische Quelle des freien
Willens“ (ebd. Seite 110) ist Ziel dieser Entwicklungsstufe. Wenn
Kinder in ihrem Besteben ein eigenständiges Selbst zu entwickeln und
zu behaupten nicht anerkannt werden, wenn Eltern (die in diesem
Zusammenhang unvermeidlichen) Konflikte mit ihren Kindern als Kampf
missverstehen, wenn es ihnen nicht gelingt, sich bei der Suche nach
Lösungen von Konfliktsituationen auch in die innerdynamischen Nöte
ihrer Kinder einzufühlen, entwickelt sich ein Hang zu Scham und
Zweifeln.
Phase 3 entspricht der von Erikson
Initiative gegen Schuldgefühl genannten
Identitätskomponente, die zu entwickeln das Kind vornehmlich im
vierten und fünften Lebensjahr beschäftigt ist. „Nachdem das Kind
fest überzeugt ist, eine selbstständige Person zu sein, muss es nun
herausfinden, was für eine Art von Person es werden könnte.“
schreibt Erikson (ebd. Seite 117) und betont in diesem Zusammenhang
die Bedeutung der Entwicklung einer Geschlechtsidentität (vgl.
ödipale Phase). Das Gefühl der Initiative sieht er als Ziel dieser
Entwicklungsphase. Wenn das Kind jedoch von seinen starken
Phantasien bedroht und beängstigt wird und wenn es sich in seinem
magischen Denken und/oder in seinen oft überflutenden Gefühlen der
Rivalität und Eifersucht von seinen Bezugspersonen nicht verstanden
fühlt, kann es massive Schuldgefühle entwickeln, die dazu führen,
dass es lernt, „sich selbst bis zum Zustand allgemeiner Gehemmtheit
einzuschränken.“ (ebd. Seite 121).
Gelingt es dem Kind ein ungebrochenes Initiativegefühl zu
entwickeln, so kann aus diesem in einem weiteren Schritt (Eriksons
vierte Phase Werksinn gegen
Minderwertigkeitsgefühl mit Altersschwerpunkt zwischen
dem sechsten und zwölften Lebensjahr) ein realistisches Streben nach
Leistung und Unabhängigkeit hervorgehen.
Ein weiteres, meiner Ansicht nach mit diesem Dreischritt der Selbst-
bzw. Identitätsentwicklung bis zu einem gewissen Grad vergleichbares
Entwicklungsverständnis hat Kegan in „Die Entwicklungsstufen des
Selbst“ (1994) vorgestellt:
Erste Gleichgewichtsstufe: einverleibend (0 bis 1½)
In dieser Phase geht es für das Baby darum, nicht mehr wie bei
seiner Geburt von seinen Reflexen, Empfindungen und Bewegungen
bestimmt zu werden (sie zu sein), sondern diese nach und nach selbst
steuern zu lernen (sie zu haben) – z.B. seine Finger nicht mehr im
Handgreifreflex automatisch um den Zeigefinger der Mutter zu
schließen, sondern willentlich zuzugreifen. So kann es erstmals mit
der Welt in Beziehung treten, in die es vorher eingebunden war. Dann
erst gibt es ein Subjekt das greift und ein Objekt das begriffen
wird.
Diese Prozesse können nur in einer primären Beziehung stattfinden.
Das Baby fühlt sich zuerst auch in die Mutter-Kind-Beziehung
eingebunden, es ist diese Beziehung. Physische und psychische
Erfahrungen der körperlichen Nähe und des Schutzes aber auch
Erfahrungen der Anerkennung und Förderung des Ablösungswillens sowie
Erfahrungen mit weiteren Bezugspersonen (v.a. dem Vater),
ermöglichen es dem Kind, sich selbst als Subjekt und die Mutter als
Objekt begreifen zu lernen. Wenn es sein Getrennt-Sein erkannt hat,
tritt das Baby sofort in eine intensive Subjekt-Objekt-Beziehung mit
seiner Mutter, d.h. es hat diese Beziehung.
Zweite Gleichgewichtsstufe: impulsiv (2 bis 7)
Wenn das Kind seine Reflexe, Empfindungen und Bewegungen selbst
steuern gelernt hat, wird es von den Strukturen die diese
koordinieren bestimmt, den Impulsen und Wahrnehmungen. Das Kind ist
seine Impulse und Wahrnehmungen und kann sie noch nicht haben (d.h.
selbst steuern). Daher meint es, dass in zwei verschieden großen,
unterschiedlich vollen Wassergläsern auch unterschiedlich viel
Wasser ist, auch wenn es vorher zugesehen hat, wie das Wasser aus
zwei gleich großen und gleich vollen Gläsern umgeschüttet worden
ist.
Im Beziehungsgeschehen zeigt sich das folgendermaßen: Auch andere
Menschen sind voll und ganz in die Wahrnehmung des Kindes
eingebettet. Ändert sich diese, so ändert sich für das Kind die
ganze Person, es kann die Mutter nicht anders begreifen als im einen
Moment nur gut und im anderen Moment nur böse – Differenzierungen
sind ihm noch nicht möglich. Das Kind kann noch nicht erkennen, dass
andere Menschen andere Impulse und Wahrnehmungen als es selbst haben.
Es ist der Ansicht, dass auch alle andern das wollen, was es selbst
will und das wahrnehmen, was es selbst wahrnimmt.
Um sich hier weiterentwickeln zu können, braucht das Kind von seinen
Eltern einerseits Wertschätzung und Verständnis seiner
Impulsgebundenheit (Festhalten), andererseits aber auch konsequente
und liebevolle Unterstützung beim Erwerb der Impulskontrolle (Loslassen)
sowie ihren verlässlichen Rückhalt (in der Nähe bleiben), wenn es
beginnt, sich vermehrt anderen Kindern und Erwachsenen zuzuwenden.
Die Eltern müssen das Kind in seinem Bestreben, selbst Verantwortung
für seine Impulse und Wahrnehmungen zu übernehmen respektieren
(zeigt sich zB in eigenem Zimmer, Taschengeld, Uhr etc.) und ihre
Rolle als alleinige entwicklungsfördernde Instanz mit Gleichaltrigen
und Schule teilen, die beim Kind Regeln und Rollen sowie
Eigenständigkeit und Kompetenz einfordern.
Je deutlicher das Kind erkennt, das es seine Impulse und
Wahrnehmungen hat und nicht ist, umso mehr lernt es auch, die
Eigenständigkeit der Impulse und Wahrnehmungen anderer anzuerkennen
und sich diesen zuzuwenden – das geschieht jedoch auf eine (für das
Schulalter typische) kontrollierende und manipulative Weise.
Dritte Gleichgewichtsstufe: souverän (7 bis 12)
Wenn das Kind gelernt hat, selbst Verantwortung für die Kontrolle
seiner Impulse und Wahrnehmungen zu übernehmen, gewinnen diese
zeitliche Beständigkeit, es entstehen stabile Dispositionen
(Bedürfnisse, Interessen und Wünsche). Das Kind erlebt sich auch
selbst als beständig, beginnt eine stabile Vorstellung von sich zu
entwickeln (Selbstkonzept), wird immer unabhängiger von äußeren
Bewertungen und immer mehr zu positiver Selbstbeachtung fähig.
(Selbstaktualisierungstendenz!) Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle
verleiht dem Kind Gefühle von Macht, Freiheit und Unabhängigkeit.
Themen der Ablösung wie Kompetenz, Selbstachtung, Selbstdarstellung
und Selbsterhöhung herrschen vor. Die Gruppe der Gleichaltrigen
(Kinder können einander nun gegenseitig Halt geben) wird immer
bedeutsamer. In der Bezogenheit auf andere findet die in dieser
Phase gefeierte Eigenständigkeit ihre Grenzen. Wenn Kinder erkennen,
dass sie ihre Dispositionen haben (und nicht sind), können sie
aufhören, ihre Beziehungen kontrollierend und manipulativ zu
gestalten. Dann können sie auch lernen, über ihre eigenen
Bedürfnisse, Interessen und Wünsche hinaus zu denken und beginnen,
diese mit den Bedürfnissen, Interessen und Wünschen anderer zu
koordinieren. Dieses neue Subjekt-Objekt-Gleichgewicht betrachtet
Keagan als vierte Gleichgewichtstufe:
zwischenmenschlich.
Wenn die Erfahrung zum Feind wird
Inkongruenz ist der zentrale
Begriff der Störungslehre der klientenzentrierten Therapie. Diese
ist definiert als „Nichtübereinstimmung der gesamtorganismischen
Bewertung von Erfahrung mit der Bewertung der Erfahrung in den
Bewertungsprozessen, die durch das Selbstkonzept und die
Selbstbehauptungstendenz (= Besteben das Selbstbild aufrecht zu
erhalten) sowie durch das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung
vorgegeben sind.“ (Biermann-Ratjen 1996, Seite 25)
Können die Erfahrungen, die das Selbstkonzept bedrohen, dem
Bewusstsein ferngehalten werden, sprechen wir von
Abwehr. Diesen Fall verstehen wir
als Inkongruenz zwischen der Gesamtheit der Erfahrung und der
bewussten Erfahrung.
Wenn die Bedrohtheit des Selbstkonzepts und der Selbstachtung
gespürt wird, so wird die Inkongruenz als
Angst erlebt. Biermann-Ratjen (1996) hält die Art der
Angst, in der die Inkongruenz gefühlt wird, für einen wichtigen
diagnostischen Hinweis auf die Stabilität bzw. Instabilität des
Selbstkonzepts eines Klienten:
Vernichtungsangst bis hin zur Todesangst,
wird dann erlebt, wenn die gesamte Identität eines Klienten bedroht
ist, wenn dieser schon in der 1. Phase seiner Selbstentwicklung
beeinträchtigt wurde. Solche Klienten brauchen zu ihrer
Weiterentwicklung Erfahrungen des Angenommenseins in ihrem Wunsch
unbedingte positive Beachtung zu erfahren und als lebens- und
liebenswerte Person respektiert und gewollt zu sein, bis sie sich
und ihr Identitätsgefühl selbstständig am Leben erhalten können.
Angst vor dem Verlust der Selbstachtung,
vor dem Verlust jedweder Möglichkeit, positive Beachtung zu finden,
vor dem vollständigen Wertlos- bzw. Böse-Sein und/ oder der
Entdeckung, dass die anderen völlig wertlos und ganz böse sind,
erleben Klienten mit einer Beeinträchtigung in der 2. Phase der
Selbstentwicklung. Sie bedürfen eines genauen Verständnisses ihres
verzweifelten Bemühens, Böses und Wertloses von sich fernzuhalten.
Angst vor unangenehmen
Beziehungserfahrungen prägt Klienten mit Beeinträchtigung
in der 3. Phase ihrer Selbstentwicklung. Erst wenn sie sich in
dieser Angst angenommen und verstanden fühlen bzw. annehmen und
verstehen können, geht es darum, diese Klienten in ihrer Angst vor
der Wiederholung von Selbsterfahrungen zu sehen, in denen sie nicht
verstanden und akzeptiert worden sind und in denen sie sich nun auch
selbst nicht verstehen und akzeptieren können.
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