4. Personzentrierte Beratung...
...für Menschen mit einer geistigen Behinderung
Wenn wir uns dem Thema personzentrierte Beratung für Menschen mit
einer geistigen Behinderung zuwenden, fällt auf, dass die Bitte um
Hilfe, anders als bei normal begabten Erwachsenen, selten direkt
von jenen selbst ausgesprochen wird. Zwar kann sich in extrem
provozierendem Verhalten, Selbstverletzungen, übermäßiger
Zurückgezogenheit und anderen symptomatischen Verhaltensweisen
durchaus ein Hilfeschrei ausdrücken, aber dass ein Mensch mit einer
geistigen Behinderung selbst um professionelle Hilfe ersucht und
sich für eine Beratung/Therapie entscheidet, kommt selten vor. Bei
Menschen, die nicht in institutioneller Betreuung sind, bitten
meist die Eltern und/oder die Betreuer in den Tagesstätten und in
den die Familien ersetzenden Heimen um Hilfe. In der
institutionellen Betreuung tut dies vorwiegend das Personal,
manchmal aber auch die Eltern oder der zuständige Psychologe/Pädagoge.
Dazu ist anzumerken, dass die um Hilfe bittenden Betreuer und Eltern
in vielen Fällen selbst Teil des Problems sind. Das problematische
Verhalten eines Menschen, der eine geistige Behinderung hat, mag
zwar in erster Linie für ihn selbst negativ oder schädlich sein -
wie etwa im Fall von psychoseähnlichen Verhaltensweisen, depressiven
Äußerungen und Selbstverstümmelungen -, aber es kann gleichzeitig
auch die Menschen in seinem Umfeld zur Verzweiflung bringen, die
nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen oder wie sie diesen
Menschen auch angesichts solchen Verhaltens weiterhin akzeptieren
können. Außerdem kann es sein, dass das ernsthaft provozierende
Verhalten den Menschen selbst überhaupt nicht stört, aber für
diejenigen, die mit ihm zu tun haben, eine enorme Schwierigkeit
darstellt. Darüber hinaus können Betreuer und Eltern, bewusst oder
unbewusst, die Schwierigkeiten, in denen der Klient sich befindet, (mit)verursachen.
Es liegt nahe, dass es beim Problemverhalten eines Menschen, der
eine geistige Behinderung hat, immer auch um eine soziale oder
Beziehungsproblematik geht, manchmal sogar ausschließlich. Das
bedeutet, dass Betreuer und Eltern oft nicht nur diejenigen sind,
die um Hilfe bitten, sondern auch jene, die diese Hilfe erhalten
(sollten). Mit anderen Worten, nicht nur die Frage, wo das Problem
liegt, sondern auch die Frage, wer das Problem hat, ist sehr
wichtig.
Neben einer Beratung von Menschen mit geistiger Behinderung kann
also auch eine Beratung der Bezugspersonen angezeigt und sinnvoll
sein. Betreuer haben oft ernsthafte Probleme in ihren Beziehungen zu
den Klienten oder mit deren Verhaltensweisen. Es fällt ihnen schwer,
authentisch zu reagieren, sich in den anderen Menschen
hineinzuversetzen, ihn zu akzeptieren oder den Mut zu einer
Konfrontation aufzubringen. Außerdem „erleben“ auch Menschen mit
einer geistigen Behinderung ihre Probleme: sei es in Form eines
diffusen Gefühls von Unlust, sei es durch Selbstverletzung, Schreien
oder als bewusste Wahrnehmung, anders zu sein, Defizite zu haben.
Obwohl diese Probleme nicht unmittelbar die Beziehung zwischen
Betreuern und Klienten oder zwischen Eltern und Kindern betreffen,
können sie diese dennoch ernsthaft beeinträchtigen.
Auch kann es dabei, wie ich oben bereits kurz angeschnitten habe, um
Verhaltensweisen gehen, die nicht der Klient selbst, aber seine
Umgebung sehr wohl als problematisch erlebt. So kann das
herausfordernde Verhalten einer Klientin für sie selbst ein lustiges
Spiel sein, aber die Betreuerin zur Verzweiflung bringen.
Das impliziert, dass die Vorgehensweise bei einer
Verhaltensproblematik von Menschen mit einer geistigen Behinderung
in erster Linie eine auf der Beziehungsebene zwischen Eltern und
Kind oder Betreuern und Klienten sein soll. Auch hierbei erachte ich
die personzentrierte Beratung als Methode für sehr sinnvoll.
Erstens wird eine solche Vorgehensweise von den Betreuern meistens
als sehr wertvoll erlebt, mit anderen Worten, sie scheint mit ihren
Vorstellungen, wie man mit solchen Menschen umgehen soll, überein
zustimmen. Zum einen fühlen sie sich in den Problemen, mit denen sie
kämpfen, erkannt und anerkannt (was leider viel zu wenig der Fall
ist), zum anderen setzt sich auf diese Weise ziemlich oft ein
Prozess bei ihnen in Gang, in dem sie Einsicht in ihre eigenen
Gefühle und Handlungsweisen gewinnen. Dies führt zu - manchmal sogar
tiefgreifenden - Veränderungen in ihren Beziehungen zu den Klienten.
Häufig erübrigt sich dadurch eine den Klienten betreffende
Vorgehensweise, oder es kommt zu einer adäquateren Fragestellung.
Ein weiterer Punkt ist zwingend zu beachten. Da es meist die
Angehörigen und Betreuer sind, die meinen, die betreffende Person
bedürfe einer Beratung - und nur zu oft verbinden sie damit ganz
bestimmte Vorstellungen, was die Beratung bewirken soll - muss der
Berater sehr sorgfältig darauf achten, nicht nur zum Erfüller von
Aufträgen zu werden, sondern wirklich offen zu bleiben für die
Anliegen und Bedürfnisse der Klienten selber. Nur so besteht die
Chance, dass sich Vertrauen aufbaut, dass eine Beziehung entsteht
und das aus der Unfreiwilligkeit ein Selber-Wollen wird. Dieser
Wandel wird sich nicht immer schon nach der ersten Sitzung
vollziehen, es wird manchmal Zeit brauchen, bei dem einen mehr, bei
dem anderen weniger, doch ohne dieses Selber-Wollen wird eine
Beratung ziemlich chancenlos bleiben.
Worum geht es...
...in einer Beratung mit geistig behinderten Menschen?
In einer Beratung geht es niemals nur darum, behinderte Menschen
nach den Wünschen ihrer Umgebung zu formen, sondern ihnen ganz
persönliche Entwicklungsschritte zu ermöglichen. Denn nicht was
fehlt, ist entscheidend, sondern das was da ist. Die Wege zur
Veränderung liegen nicht in den Mängeln, sondern in den Ressourcen,
die müssen aufgespürt, gefördert und genutzt werden. Das ist ein
großes und nicht immer leicht zu erreichendes Ziel, aber es ist es
wert und nicht nur in der Beratung sondern im Allgemeinen. Deshalb
liegt mein Schwer-punkt in der Beratung nicht in der Diagnostik,
sondern darin den anderen mit seinen Bedürf-nissen und Wünschen zu
verstehen, auch wenn Verhaltensweisen und Äußerungen zuerst nicht
immer zu verstehen sind und kaum nachvollziehbar erscheinen. Und
schauen wir doch einfach einmal bei uns selbst. Wem tut es nicht
gut, wenn er ein Gegenüber hat, bei dem er das Gefühl hat: „Aha, der
versucht mich zu verstehen, der hört mir zu und nimmt mich ernst“?
Auch geht es mir nicht darum, gezielt unerwünschte Verhaltensweisen
zu verändern. Wie in jeder anderen personzentrierten Beratung geht
es grundsätzlich darum, Veränderungen im Selbstkonzept der Klienten
zu erreichen. Für die meisten Menschen mit geistiger Behinderung
heißt das erst mal, ein besseres Selbstwertgefühl entwickeln, eine
andere – versöhnlichere – Haltung zu sich zu finden, damit weitere
Veränderungen überhaupt möglich werden. Menschen mit geistiger
Behinderung fällt das meist besonders schwer, denn sie werden von
der Umwelt zu oft mit ihrer Unfähigkeit und Unzulänglichkeit
konfrontiert und entwickeln leicht ein Selbstkonzept, welches
beinhaltet: „Ich kann nichts und ich tauge nichts!“. Unrealistische
Selbstüberschätzungen stellen oft nur die Kehrseite der selben
Medaille dar, denn vor allem Menschen mit leichten geistigen
Behinderungen leiden unter ihrem „Anderssein“ und messen sich an den
„Normalen“ denen sie gleich kommen möchten. Sich viel zutrauen, aber
dennoch seine Grenzen erkennen, in dieser Hinsicht kann Beratung
etwas bewirken und dabei ist die personzentrierte Haltung von
entscheidender Bedeutung.
Wenn Menschen sich selbst besser annehmen und mehr in Kontakt sind
mit den eigenen Gefühlen, wirkt sich das unweigerlich auch auf ihr
Verhalten aus: Symptome nehmen ab, Handlungsspielraum erweitert
sich. Und obwohl ich mit meiner Beratung nicht darauf aus bin
Verhaltensänderungen zu bewirken, sie werden nicht ausbleiben, wenn
sich das Selbstkonzept ändert und das Selbstgefühl stärker wird. Und
es ist meines Erachtens ein großer Unterschied, ob jemand
brachliegende Ressourcen selber entdeckt und eigene Schritte macht –
wenn es auch nicht immer die sein werden die wir uns vorstellen –
oder ob er in eine bestimmte Richtung gedrängt wird. Auch das ist
ein essentieller Gesichtspunkt der personzentrierten Sichtweise.
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