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Alfred Köstler

Relativität von Erkenntnis, Gedankenmodelle und Psychotherapie

Eine Reflexion über erkenntnis- und systemtheoretische Aspekte

Alle Erkenntnis ist relativ

Erkenntnis ist als solches – Erkenntnis.
Von einem erkennenden Subjekt aus gesehen, stellt sich die Frage nach relativ und absolut nicht. Es wird etwas erkannt. Der Akt des Bewusstwerdens eines Zusammenhanges oder eines einfachen Gegenstandes ist evident. Erkenntnis ist erfolgt – und das war es.
Die Frage nach relativ und absolut stellt sich erst, wenn zwei oder mehrere Subjekte ihre jeweilige Erkenntnis miteinander vergleichen. Hier gesellt sich zum jeweiligen Erkenntnis-Prozess ein Kommunikations-Geschehen.
Ich als Erkennender, um ein Beispiel zu nennen, sehe, höre, fühle und weiß nur das, was ich selbst erkenne. Was mein Gegenüber erkennt, sagt er mir und über die ihrerseits betrachtungswürdigen Medien der Sprache oder der Schrift erfahre ich, was der Andere erkennt und so meine ich dann, zu wissen, was genau er erkannt hat. Aber in diesem letzteren „Wissen“ steckt sehr viel Relativität drin.
Das lässt sich an einem einfachen Sachverhalt zeigen.
Von der Blume auf dem Tisch, an dem wir Betrachter einander gegenübersitzen, nehme ich ganz selbstverständlich an, dass sie meinem Gegenüber genauso erscheint, wie ich sie sehe. Aber mit dieser Annahme bin ich vorschnell. Abgesehen davon, dass schon der Blickwinkel auf die Blume ein anderer ist, nehme ich das Bild als solches nur subjektiv wahr. Ich habe nämlich keinerlei Chance, zu erfahren, wie die Gestalt und die Farben der Blume meinem Gegenüber erscheinen. Sieht er das Rot der Blüte genauso wie ich oder erscheint es ihm so, wie bei mir ein Grün aussieht? Da nun alle die Blüte als rot bezeichnen, sagen auch wir beide „rot“ dazu, ohne zu wissen, wie sich das beim jeweiligen Partner wirklich „ansieht“.
Das Verblüffende daran ist: Würde mein Gegenüber anstelle des Rots, das ich sehe, ein Grün gemäß meinen Maßstäben sehen, könnte ich ihn dennoch nicht einen Lügner nennen, da er den einen Gegenstand, den wir beide betrachten lediglich so wahrnimmt, wie er es eben tut. Woher sollte ich überdies wissen, dass ich mit meiner Empfindung „richtig“ liege. Vielleicht ist ja genau meine Rot-Empfindung der Irrtum und ich sollte eigentlich grün sehen, tue es aber nicht.
Wir können festhalten: Wahrnehmung ist in ihrem existenziellen Geschehen ein zutiefst subjektiver Akt. Wir stoßen hier an eine absolute Kommunikations-Barriere. Das Urerleben, das einer Wahrnehmung zugrunde liegt, ist ganz auf das Individuum beschränkt, das diese Wahrnehmung hat. Jeder kann zwar mit anderen, welche dieselben Dinge wahrnehmen, über diese Wahrnehmungen „sprechen“ und aus den Bestätigungen, die jeder erhält, kann er den Schluss ziehen, dass seine eigene Wahrnehmung „richtig“ ist; aber was genau die Anderen so eigentlich sehen, hören, fühlen und somit erfahren und wahrnehmen, erfährt unser Betrachter nicht.
Wahrnehmung ist somit relativ; ist bezogen auf den Betrachter.


Gedankenmodell – eine Konsequenz der Relativität von Erkenntnis

Ohne eine umfassende Definition von Modell voranzustellen, sehen wir uns doch gleich einige Aspekte an, die dieses Thema betreffen. Wagen wir den Versuch, die Definition von Modell im folgenden Text lediglich implizit zu behandeln.
Am Schluss der Betrachtung können wir dann entscheiden, ob es eine explizite Definition noch braucht.

Gedankenmodell und dahinterliegende Wahrheit
Gedankenmodelle sind im Wesentlichen Modelle.
Sie stellen keineswegs – auch wenn sie das gerne möchten – ein durchgängiges und getreues Abbild von Realität dar. Vielmehr treffen ihre Aussagen in der Regel jeweils nur an gewissen Punkten genau zu, während das Umfeld dieser Punkte eher darauf ausgerichtet bleibt, den jeweiligen Betrachtungspunkt gut darzustellen und ihn stimmig erscheinen zu lassen.
Für einen stimmigen Punkt im Modell ist nun vorausgesetzt, dass er in gewisser Weise durch eine „existenzielle Erfahrung“ des Modell-Autors abgesichert ist. Hätten alle diese Punkte keine solche Erfahrung hinter sich, stünde hinter dem gesamten Modell keine Legitimation durch Realität und das Modell wäre wertlos.
Sobald der Fokus von einem solchen Betrachtungspunkt weicht und auf einen anderen gelegt wird, rückt ein anderer Aspekt des Modells in den Mittelpunkt des Interesses. (Es sollte auch der durch eine direkte „existenzielle Erfahrung“ legitimiert sein. – Die nun folgende Betrachtung mag zunächst sperrig aussehen. Sie wird weiter unten durch Beispiele verdeutlicht.)
Geschieht so ein Fokus-Wechsel, rückt der frühere Betrachtungspunkt in das Umfeld des neuen ab und wird gleichsam etwas „unscharf“. Der vorige Punkt verliert auch seine frühere Schlüssigkeit teilweise, weil etwa die neue existenzielle Erfahrung (des Betrachters) zu ihm jetzt nicht mehr so passt. Als Umfeld für den neuen Betrachtungspunkt muss der alte Punkt wie jedes Umfeld einer stringenten Darstellung des neuen Fokus dienen. Somit muss es sich der frühere Betrachtungspunkt und sein Umfeld unter Umständen gefallen lassen, etwas verzerrt und abgeändert zu werden. Die zuvor erfolgte existenzielle Erfahrung muss – gegebenenfalls auch stark – verblassen, damit eine optimale Unterstützung des Verständnisses des neuen Fokus und seiner existenziellen Erfahrung möglich wird.
Wovon konkret ist hier die Rede?
Ein Modell als Wiedergabe eines Realitäts-Zusammenhangs muss viele unterschiedliche Aspekte „unter einen Hut bringen“. Je nach Blickrichtung rückt eine andere Wahrheit in den Vordergrund und verdrängt zuvor beachtete Wahrheiten. Ist der Umfang der dargestellten Realität sehr groß, kann es zu erheblichen Widersprüchen innerhalb der Darlegung kommen. Die wechselnden Aussagen können leicht als „Wankelmut“ oder „Charakter-Schwäche“ aufgefasst werden, auch wenn sie lediglich die jeweils gültige Wahrheit zu einer Erfahrung eines Teilaspektes des Ganzen wiedergeben.
Um diese Gesetzmäßigkeit zu verdeutlichen, sei hier eine kleine Anekdote eingefügt.
Zum Pastor kommt ein Bauer, der ihn um Rat wegen seiner zänkischen Frau fragen will. Nachdem er dies und jenes an Beispielen geschildert hatte, fragt er den Pastor, wer von beiden den nun Recht habe. Der denkt nach und sagt dann: Na, du hast Recht! Der Bauer geht zufrieden nach Hause, sagt seiner Frau, was der Pastor ihm gesagt habe und nun geht diese wutentbrannt zum Pastor, um ihm vorzuwerfen, wie er sich denn so in Dinge einmischen könne, ohne den anderen Teil gehört zu haben? Nachdem der Pastor also auch ihr eine Weile zugehört hat, sagt er schließlich: „Frau, da hast du Recht“ und die Bäuerin geht, nun ihrerseits zufrieden. Aus der Küche kommt nun des Pastors Frau und sagt, er habe doch nicht erst dem Bauern und dann seiner Frau Recht geben können, das widerspreche sich doch! „Da hast du Recht“, entgegnet ihr der Pastor und macht sich zur Vorbereitung der Sonntagspredigt an die Lektüre jener Bibelstelle, wonach man dem Kaiser geben soll, was des Kaisers ist.

Ein Vergleich aus dem Bereich der Optik
Im Grunde haben wir es hier mit dem Phänomen der Bilddarstellung eines Weitwinkel-Objektives zu tun. Dort, wo das Zentrum des erhaltenen Bildes liegt, dort stimmen die Proportionen. Das Umfeld des Zentrums ist als Ganzes zu sehen, was dem Modell als Ganzen entspricht. Rund um das Zentrum beginnt sich das Bild jedoch zu verzerren und je weiter weg ein Bildteil vom Zentrum liegt, desto stärker fällt diese Verzerrung aus.
Warum muss das so sein?
Verwendet man ein „normales“ Objektiv anstelle eines Weitwinkel-Objektives erhält man ein im Großen und Ganzen richtig proportioniertes Bild. (Im Millimeterbereich und darunter werden allerdings auch hier Verzerrungen gegen den Bildrand feststellbar sein.) Das Bild zeigt jedoch von vorne herein einen begrenzten Ausschnitt. Es wird somit nicht das ganze Modell gezeigt. Um mit Hilfe einer „normalen“ Brennweite ein Gesamtbild zu erhalten, müssten mehrere Fotos nebeneinander gemacht und diese anschließend passgenau zu einem Gesamtpanorama zusammengefügt werden. In der Fotografie lässt sich das einigermaßen leicht realisieren.
Bei einem Gedanken-Modell, also einer Theorie oder einer Hypothese, ist das anders. Hier stellt eine von vorne herein fragmentierende Vorgehensweise eine große Herausforderung dar. Wer koordiniert die vielen, nebeneinander auftauchenden Teilbilder, also Teilergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit? Wer entscheidet, ob diese Bildausschnitte in ihrer Größenordnung zueinander passen? Unterschiedliche Dimensionen ergeben kein homogenes Gesamtbild und Messungen im Bereich von Lichtjahren sind mit Messungen im Nanometer-Bereich in der Regel nicht kompatibel, um ein einfaches Beispiel zu nennen. Wer bestimmt, ob die behandelten Inhalte noch in irgendeinem Zusammenhang zueinander stehen?
Hier stoßen wir unvermutet wieder auf unser Gesamt-Modell und seine Aufgabensetzung.
Ist nicht gerade das die Aufgabe eines Modells, einen großen und groben Überblick des ganzen Wissensgebiets zu bewerkstelligen? Mit Hilfe des Modells sollen die zuvor angesprochenen Teilaspekte einer Forschung in ihrer Größenordnung und inhaltlichen Zugehörigkeit zueinander richtig positioniert und gewichtet werden können.
Dabei muss nun in Kauf genommen werden, dass das Modell im Ganzen in seiner Wiedergabe nur im jeweils gewählten Fokus scharf, richtig proportioniert und in den gezeigten Details befriedigend schlüssig ist. In den vom Fokus abseits liegenden Bereichen muss ein Modell Abstriche in der Genauigkeit machen. Damit aber ermöglicht es eine stringente Darstellung des aktuellen Fokus bei gleichzeitiger Erhaltung des Überblicks.

Ein Beispiel eines Modells aus dem Bereich der Psychotherapie – Einführung
Die Seele ist nicht nur bei Arthur Schnitzler ein „weites Land“.
Als Sigmund Freud 1892 die Behandlung der 24-jährigen Elisabeth v. R. (ein von Freud gewähltes Synonym) (1) begann, diagnostizierte er bald ein hysterisches Leiden, bestehend aus Schwächegefühlen und Schmerzen in den Beinen. Eine Anregung seines Kollegen Josef Breuer aufgreifend, konzentrierte er sich bei der Behandlung auf das Wiedererinnern von Situationen, die mit heftigen und unangenehmen Affekten verknüpft waren und die die Patientin deshalb „unterdrückt“ hatte, wie diese Pioniere der Psychotherapie-Forschung es ausdrückten. Eine solche Situation wiederzuerleben und sie in Worte zu fassen, konnte helfen, Symptome zu mildern oder ganz verschwinden zu lassen. Den heilenden Ausschlag gab bei diesem Fall der wiedererinnerte Moment, als Elisabeth v. R. am Totenbett ihrer Schwester den – allem Anschein nach – tabuisierten Gedanken hatte, dass der (auch von ihr geliebte) Mann ihrer Schwester nun frei wäre und ihr Mann werden könnte (Freud 1895, S. 127 f.)(2).
Interessant ist der Abschluss dieses Falles, wie Freud ihn darstellt (Freud 1895, S. 128 ff).(2)
Er versuchte der Patientin in mehrfacher Weise „Gelegenheit zu geben, sich der seit langer Zeit aufgespeicherten Erregung durch `Abreagieren’ zu entledigen“. Auch sprach er mit Elisabeth v. R. und ihrer Mutter über die augenblickliche Lebenssituation und über die nächste Zukunft des Mädchens. Einige Zeit später konnte Freud seine ehemalige Patientin auf einem Hausball „im raschen Tanze dahinfliegen ... sehen“ und erfuhr, dass sie sich „aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet (hat).“(3)

Von Fakten zum Modell
Fakten sind jene Punkte, in denen die Baumeister von Modellen für sich selbst eine existenzielle Grunderfahrung von Realität orten können. Somit sind Fakten die Grundpfeiler von Gedankenmodellen.
Welche Fakten liegen für dieses Beispiel auf dem Tisch?
Da ist zunächst das an Schwäche und Schmerzen in den Beinen leidende Fräulein Elisabeth v. R. Ihr affektverstärktes Erinnern von bestimmten Situationen gehört ebenfalls dazu. Auch die Beobachtung, dass auf solches Erinnern hin manchmal Symptome abschwächen oder ganz verschwinden, ist Fakt. Unter anderem gelingt es Fräulein Elisabeth v. R. einen besonders klaren, aber verborgenen Gedanken wieder ans Licht zu fördern – auch ein Faktum. Schließlich gibt es noch jene Gespräche über die momentane Lage der Mutter und der Tochter und die Ausblicke auf die nächste Zukunft. Auch diese therapeutische Kommunikation ist Fakt.
Welche Passagen aus der oben erfolgten Darstellung deuten auf das Vorhandensein eines zugrunde liegenden Modells hin und zeigen auf, dass Freud nicht im modellfreien Raum agiert?
Einen Hinweis geben die Termini „unterdrückt“ und „verdrängt“. Unangenehme Affekte und die mit ihnen verbundenen Lebenssituationen werden deshalb vergessen, weil sie die betreffende Person nicht aushält. Weil die Gedanken und Affekte nicht sein dürfen, müssen sie weg. Diese Erklärung klingt schlüssig. Sie ist jedoch kein simples Fakt mehr, sondern sie ist Schlussfolgerung, die einem zugrundeliegenden Modell entspringt.
Dass das Erinnern und Artikulieren von affektbehafteten, vergessenen Situationen zeitlich mit einer Symptombesserung zusammengefallen ist, ist Faktum – so haben wir festgestellt. Warum das jedoch gewirkt hat und ob ein „Abreagieren“ der „seit langer Zeit aufgespeicherten Erregung“ die eigentliche Abhilfe geschafft hat, ist hingegen Folgerung aus einem Modell. Ob nicht gleichermaßen und sogar vorrangig Gespräche über die momentane Lebenslage und die angepeilte Zukunft für Abhilfe gesorgt haben, bleibt dahingestellt. Aussagen, die letzteres behaupten, gehören ebenfalls zu einem Modell, vermutlich jedoch zu einem ganz anderen.
An dem psychotherapie-geschichtlichen Fallbeispiel können wir ersehen, wie Fakten und Modelle zusammenhängen. Der agierende Psychotherapeut bzw. die forschenden Wissenschaftler stoßen zunächst auf Tatbestände, die sie wahrnehmen und auf die sie reagieren. Bereits in der Selektion ihrer Wahrnehmung, aber vor allem in der Auswahl ihrer Reaktionen werden sie von einem Modell geleitet, wenn dies auch den betroffenen Personen in der Regel nicht bewusst ist. – Diese letzte Behauptung wollen wir als Vorgriff in unserer Erklärung akzeptieren. Unter (unbeachteter) Anleitung eines solchen Modells lassen sich die gesammelten, zugrunde liegenden Fakten meist leicht in einen Zusammenhang zueinander stellen. Es zeigt sich hier ein erkenntnistheoretisch interessantes Zirkel-Geschehen: Die gefundenen Zusammenhänge erweitern das Modell, während die verdeckte Führung durch das Modell die Sammlung und Auswahl der Fakten beeinflusst. Das Modell wächst im Fortgang der Forschung.

Ein Modell ordnet – und schränkt ein
Ab einer gewissen Größe des angesammelten Materials und der gefundenen bzw. hergestellten Zusammenhänge lässt sich der Drang nach expliziter Formulierung des Modells nicht mehr unterbinden. Nunmehr, da Stück für Stück der Einzelerkenntnisse zusammengetragen sind, braucht es die Ordnungskraft eines Modells, wenn verhindert werden soll, dass sich die vielen Einzel-Erkenntnisse wie das Laub eines Mischwaldes im Herbstwind in alle Richtungen zerstreuen.
Mit der Formulierung des Modells begeben sich die gesammelten Fakt-Erkenntnisse jedoch in ein Korsett, in dem sie die uneingeschränkte Freiheit ihrer gegenseitigen Verknüpfbarkeit einbüßen. Verknüpft ein gewisses Modell das eine Fakt mit einem anderen in einer gewissen Weise und schafft so eine schlüssige – in diesem Modell schlüssige! – Erklärung, so tut dies ein anderes Modell vielleicht auf eine andere Art. Die Fakten sind dieselben, die Erklärungen klaffen unter Umständen erheblich auseinander.
In dem angeführten Fall entscheidet ein Therapeut durch die Zugehörigkeit zu einer Schule, wie er die Wirkung seiner Intervention deutet und versteht.
Wer der psychoanalytischen Richtung angehört, verbindet mit der Wiedererinnerung einer affektbeladenen Situation und mit dem Abreagieren der aufgespeicherten Erregung die Erklärung einer zugrunde liegenden allgemeinen Triebstruktur und deutet die Besserung eines Symptoms als eine Entladung inner-trieblicher Spannungen, die für ihn die Ursache des Symptoms dargestellt hatten.
Wer hingegen der Personenzentrierten Richtung angehört, erkennt im Wiedererinnern auch schmerzlicher Situationen ein Erstarken des Selbst und ein Wirken der „Selbstaktualisierung“ des Patienten und schreibt das Zurückgehen des Symptoms dieser Stärkung der ganzen Persönlichkeit zu. Triebstrukturen, einschränkendes Vaterimago und dergleichen mehr spielen bei dieser Erklärung keine Rolle.
Wer allerdings dem Zweig der Existenzanalyse und Logotherapie angehört, weiß um die Trotzmacht der geistigen Dimension einer Person und stellt diese Kraft dem physischen und psychischen Geschehen gegenüber. Dass aus dieser geistigen Ressource ein Aufarbeiten von schmerzlichen Situationen möglich ist; dass die Geschichte des Patienten in ein anderes Licht getaucht werden und durch eine neue Sinnorientierung auf den weiteren Lebensweg einwirken kann; dass also Zukunftsaspekte größere Bedeutung haben können, als Vergangenheitsbewältigung; das alles bietet dieses Modell für einen Therapieerfolg als Erklärungshintergrund an.

Die Verantwortung eines Modells für die sie beherbergenden Erkenntnisse
Ein Modell verbindet Erkenntnisse miteinander zu einem Ganzen.
Wenn die Einzel-Erkenntnis noch in direkter Berührung des Forschenden mit der Realität zustande gekommen ist, so befindet sich die Schlussfolgerung und damit die Verbindung mehrerer Erkenntnisse miteinander bereits auf einer Metaebene. Auch dieser Verknüpfung von „Urerkenntnissen“ liegt ein existenzielles Geschehen zugrunde, nämlich der Denk- und Verstehensprozess des Forschers. Letztere „Realität“ ist jedoch in höherem Maße als subjektiv zu bezeichnen, als es für die „Urerkenntnis“ zugetroffen hat. Sie spielt sich nämlich ausschließlich im Denken des Forschenden ab. Außerdem kommt hier der Kommunikations-Prozess zum Tragen, der zwischen mehreren „Erkennenden“ stattfindet, wenn sie ihre Schlussfolgerungen miteinander vergleichen.
Bei diesen Schlussfolgerungen, die Stück für Stück das Modell ergeben, ist somit größte Sorgfalt und Genauigkeit geboten. Baut doch meist ein Schluss auf einem anderen auf. Stimmt die tragende Etage nicht, kann die darüber liegende kaum zutreffend sein. Anderseits hat so ein Gedankengebäude auch Platz für Toleranzen. Ist der eine oder andere Schluss nicht ganz exakt, können solche Fehlschlüsse dennoch zwischen korrekten, tragenden Schlüssen dergestalt eingebaut sein, dass das Gedankengebäude als Ganzes hält.
Auch bei einer Bewertung von Schlüssen muss im Übrigen das Verhalten von Fokus und Umgebung mit berücksichtigt werden. Wir haben es bereits beleuchtet. Das ganze Gedanken-Gebäude, das große Modell, kann nur mit dem „Weitwinkel-Objektiv“ erfasst werden. Da, worauf der Fokus liegt, sollten die Aussagen präzise und stimmig sein – vorausgesetzt die zugrunde liegenden „Urerkenntnisse“ halten einer Überprüfung Stand. Aspekte, die nicht zu diesem Fokus gehören, sind zwar noch im Blickfeld, stellen sich aber zum Teil (sehr) verzerrt dar – und zwar solange, bis der Fokus auf sie gesetzt wird. Dann aber verzerren sich die soeben zuvor betrachteten Punkte.
Wie stark diese Verzerrung der Umgebung eines scharf eingestellten Fokus ausfällt, hängt von der Qualität des erstellten Modells ab und somit davon, wie genau und wie weitblickend die verbindenden Schlüsse gezogen wurden. Je besser in dieser Hinsicht ein Modell da steht, desto weniger Verzerrung muss an den Rändern in Kauf genommen werden, obwohl der gleiche Umfang im Bilde bleibt. Je schlechter aber ein Modell gebaut ist, desto mehr Verzerrung zeigt sich schon in unmittelbarer Nähe des Fokus und der konkret gemachten Erfahrung.

Beispiele für Fokus und Unschärfe an zwei Modellen
Wie das in der Praxis aussieht, können wir an zwei Modellen der Astronomie ersehen.
Das geozentrische Weltbild beherrschte bis in die Renaissance das Denken des Abendlandes. Man stellte sich die Erde als Mittelpunkt des Universums vor und ließ Sonne, Mond und Sterne um sie herumkreisen. Die Hauptmotivation für diese Darstellung ist rasch ausgemacht. Am Morgen geht die Sonne im Osten auf und am Abend im Westen unter. Der Mond tut in sich verschiebenden Abständen dasselbe. Jedes Kind kann somit unschwer eine Skizze von diesem Geschehen auf ein Blatt Papier malen. Die Sonne ist nun auch der Fokus, bei dem eine Grunderkenntnis, nämlich ihr Auf- und Untergehen, deutlich hervorsticht. Das Verhalten des Mondes mit seiner periodischen Verzögerung des Auf- und Untergehens fällt bereits etwas in den Bereich der Unschärfe. Ganz verschwommen zeigt sich dagegen das Verhalten der Sterne. Ihre Bilder gehen nachts zwar auf, aber sie kreisen um eine Achse am Nachthimmel, bevor sie wieder verschwinden. Und zu verschiedenen Zeiten des Jahres sind verschiedene Sternbilder zu sehen – das jedoch in jährlicher Wiederholung. Die Beobachtung des Sternenverhaltens in diesem Modell muss unklar bleiben, solange das Verhalten der Sonne als momentaner Fokus deutlich erkennbar bleiben soll. Legt man jedoch den Fokus auf die Sternenbahn, dann beginnt das tägliche Auf- und Untergehen der Sonne und des Mondes zu stören. Die am Himmel um eine Achse kreisenden Sternenbilder und ihr Wandel im Laufe des Jahres ergeben eine eigene Ordnung, sobald das Auf- und Untergehen der Sonne keine Bedeutung mehr zu haben braucht, somit im unscharfen Bereich des Gesamtbildes liegt. Jetzt zählen nur mehr die Stunden der Nacht, in denen der Sternenverlauf Nacht für Nacht kontinuierlich betrachtet werden kann und in sich eine Logik offenbart.
Diese Konzentration auf den nächtlichen Sternenhimmel muss wohl der Impuls für das Umdenken gefördert haben, das mit dem heliozentrischen Weltbild seinen Durchbruch feierte. Jetzt kreist die Erde um die Sonne, dreht sich auch um die eigene Achse und behält dabei noch den sie umkreisenden Mond im Blickfeld. Die Betrachtung des Sternenhimmels wird mit einem Schlag einfacher; nehmen die einzelnen Sterne und Galaxien nun doch fixe Plätze in einem großen Raum rund um unser kleines Sonnensystem ein. Das Kreisen der Erde um die Sonne bildet jetzt keine nennenswerte Unschärfe mehr, wenn das unvorstellbar große System der Sterne betrachtet wird. Liegt der Fokus jedoch auf der Erdenbahn um die Sonne und auf der Erdachsendrehung, rutschen Sonne, Mond und Sterne deshalb ebenfalls nicht in eine nennenswerte Unschärfe des Modells. Lediglich wenn der Sonnenauf- und Sonnenuntergang fokussiert wird, treten beim heliozentrischen Weltmodell Unschärfen an den Rändern auf. Es entspricht das wohl dem leichten Schwindelgefühl, dem man als Betrachter des Drehens in der Drehung verfallen könnte.

Das Werden eines Modells – Fortführung des Beispiels aus der Psychotherapie
Sigmund Freud arbeitet mit seiner Patientin, Fräulein Elisabeth v. R. Dabei bemerkt er, dass das Erinnern an bestimmte Situationen zunächst nicht gelingen will, dann aber von starken Affekten begleitet wird. Dieses Erinnern steigert zunächst einzelne Aspekte der Symptomatik von Elisabeth. Nach dem Aussprechen dieser Erinnerungen und dem Erkennen bestimmter Zusammenhänge sinkt die Intensität der Symptome aber oft deutlich ab. Die Heilung stellt sich jedoch erst dann ein, als die Patientin einen bestimmten (tabuisierten) Gedanken aufgreift. (4)
Soweit ist es Schilderung von Fakten, die Freud durch Beobachtung gewonnen hat und belegt.
Nun kommt Freuds Erklärung ins Spiel, worin das Modell aufleuchtet.
Für Freud ist der Fall Elisabeth v. R. ein Beispiel für den Prozess der Konversion, also jenes Vorgangs, bei dem durch einzelne körperliche Symptome ein seelischer Schmerz Ausdruck bekommt (5). Beachten wir, dass die Formulierung und die Definition der Konversion bereits im Bereich des Modells liegen. Eine Konversion ist für Freud im Weiteren eine Form von Abwehr. (5) Dabei werden bestimmte verbotene und unangenehme Vorstellungen verdrängt, also in ein Nicht-Erinnern abgedrängt und der Affekt, der diesen Vorstellungen „anhaftet“, wird zur Belebung oder Wiederbelebung von körperlichen Schmerzen herangezogen. Auch der Begriff der Abwehr ist keine direkte Realitäts-Erkenntnis, sondern gehört zum Modell. Freud geht aber weiter und versteht den körperlichen Schmerz als eine symbolische Darstellung des größeren, dahinterliegenden seelischen Schmerzes. Die Geh- und Stehbeschwerden der Patientin drücken nach Freud in körperlich-symbolischer Weise den Schmerz darüber aus, dass sich Elisabeth als alleinstehende junge Dame erlebte, die sich in einer für sie verbotenen (und daher bedrohlichen) Weise nach einer engeren familiären und sexuellen Beziehung gesehnt hatte, ohne in der Realisierung dieser Verlangen von der Stelle zu kommen. (5) Wir halten wiederum fest: auch Deutung des Körperschmerzes als Symbol ist Bestandteil seines Modells.
Was sind nun jene Fakten, die Freud halfen, seine Schlüsse zu ziehen?
Die Beobachtungen an der Patientin wurden oben bereits erwähnt. Dazu gesellen sich nun einige allgemeingültige und daher evidente Wahrheiten. Dass es seelischen Schmerz gibt, gilt als allgemein anerkannt. Außerdem sind Schmerzen nicht angenehm und werden, wenn möglich, vermieden. Dass es Verbotenes gibt und dass das stets die Tendenz hat, sich zu verbergen, ist ebenfalls eine allgemeine Tatsache. Schließlich kennen wir alle die Fähigkeit des Seelischen, sich im Körper Ausdruck zu verschaffen. Das im Weinen verzerrte Gesicht eines Neugeborenen und das Gegenteil, sein herzerwärmendes, gewinnendes Lächeln sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Dass allerdings so komplexe Vorgänge wie „Alleinstehen“ und „Nicht-weiter-kommen“ in Körpersymptomen Ausdruck finden, kann nicht mehr so ohne weiteres als direkt erfahrbare Erkenntnis eingestuft werden.
Die Schlüsse, die Freud für sein Modell zieht, ruhen auf den Brückenpfeilern der soeben beschriebenen Fakten. Bei den Schlüssen handelt es sich hier nun nicht um die in der aristotelischen Logik beschriebenen Ableitungsregeln. Unter „Schluss“ wird hier mehr ein multidimensionales Verknüpfungsgeschehen verstanden. Es sind somit nicht nur einfache, lineare Elemente, die miteinander verbunden werden. Vielmehr schwingen in den „Grunderkenntnissen“ viele assoziierte „Nebenerkenntnisse“ mit, die aber einzeln nicht aufgeführt werden.
Was sind solche „Schlüsse“ im geschilderten Fall Elisabeth v. R. ? (Es sei allerdings beachtet, dass die im Folgenden angeführten „Schlüsse“ von Sigmund Freud explizit so niemals formuliert wurden. Sie stellen lediglich Arbeits-Annahmen für diese Betrachtung dar.)
Ein paar Grunderkenntnisse: Manche Erinnerungen fallen, wie beobachtet, der Patientin schwer, sie wiederzuerlangen. Zudem sind sie, wenn sie endlich auftauchen, mit starken Affekten verbunden. Es sind zum einen seelisch schmerzhafte Erinnerungen, die „blockiert“ waren. Schmerzen sind unangenehm und werden, wenn möglich, gemieden. Daher der Schluss: Mit seelischen Schmerzen behaftete Erinnerung werden vor einem Bewusstwerden zurückgehalten.
Fortführende Grunderkenntnisse: Zum anderen waren auch affektbehaftete Gedanken, die um Verbotenes kreisten, für Elisabeth v. R. schwer erinnerbar. Verbotenes hat die Tendenz, sich zu verbergen. Solange die Gedanken noch nicht erinnerbar waren, hatte Elisabeth Schmerzen in den Beinen. Tauchten die Gedanken dann wieder auf, waren sie von einem starken Affekt begleitet. Nach solchem Wiedererinnern legten sich bisweilen die Bein-Schmerzen. Daher die Schlüsse: Auch verbotene, affektbehaftete Gedanken werden vor einem Bewusstwerden zurückgehalten, da Verbotenes sich gerne versteckt hält. Der somit „verdrängte“ starke Affekt bereitet Elisabeth v. R. Schmerzen in den Beinen. Die Wiedererinnerung und das Bearbeiten des Affekts sind die Gründe für die nachfolgende Linderung der Schmerzen.
Weitere Grunderkenntnisse: „Alleinstehend sein“ und „Nicht-weiter-kommen“ kann man z.B. in der Kunst der Pantomime in Körperhaltung darstellen. Fräulein Elisabeth v. R. ist alleinstehend und kommt nicht weiter. Freuds Schluss lautet daher: bei der Hysterie geschieht körperliche Darstellung von seelischem Befinden (wie bei der Kunst der Pantomime). Das Symptom des Körpers zeigt das seelische Leid.

Die Bedeutung von Gedankenmodellen
Die wenigen, Freud unterstellten, exemplarischen Schlüsse haben gezeigt, wie sie symbiotisch mit den „Urerkenntnissen“ Schritt um Schritt ein Gedankenmodell wachsen lassen. Meist geschieht diese Modell-Werdung unbeabsichtigt und vom Forschenden unbeachtet. Das Modell leitet das wissenschaftliche Tun an und wird umgekehrt gleichzeitig dadurch erweitert.
Bei der expliziten Formulierung einer Hypothese oder, wenn diese ausgereift ist, einer Theorie tritt das Modell offiziell in Erscheinung. Gegebenenfalls erhält es einen Namen und muss sich fortan auch unter den kritischen Augen anderer Wissenschaftler bewähren.
Bleiben wir jedoch zunächst noch bei den Motiven, die ein Modell entstehen lassen.
Wie wir beim psychotherapeutischen Beispiel der Elisabeth v. R. gesehen haben, sind die auffindbaren Fakten und die Modell-Schlussfolgerungen eng miteinander verwoben. Auf den ersten Blick ist es oft nicht leicht, beides voneinander zu unterscheiden.
Wenn wir uns nun fragen, was von beidem mehr Anziehungskraft besitzt, würden wir zunächst spontan für die Fakten stimmen. Ein Faktum ist im allgemeinen nachprüfbar und es steht, unserer bisherigen Definition zufolge, erlebte Realität dahinter. Stellen wir uns nun vor, wir würden einem Freund der Reihe nach die Nummernschilder aller Autos vorlesen, die auf einem Parkplatz einer Shopping-City stehen. Es wäre das eine eindeutige Wiedergabe von Fakten. Wir brauchten nicht lange zu warten, bis uns der Freund ins Wort fallen und etwa sagen würde: „Worauf willst du hinaus? Was willst du mir mit der Aufzählung der Nummernschilder sagen?“ Er würde uns solange nicht in Ruhe lassen, bis er von uns einen Grund unseres Tun, eine Erklärung für unsere Mitteilung, eine Intention für unsere Aktion erfahren würde. Erklärung und Intention sind jedoch Aspekte, die Modellen näher stehen als einfachen Fakten. Wenn wir dem Freund nun erzählen, dass wir eine Studie über das Kaufverhalten in dieser Stadt durchführen und – in Missachtung jeglichen Datenschutzes – mittels der Autonummern jetzt feststellen, wer gerade um diese Zeit im Schopping-Center verweilt, dann hat der Freund einen Bezugsrahmen für unser Tun und versteht es. Dieser Rahmen ist aber nichts weiter als eine besondere Art von Modell.
Welche Mitteilung hat nun die größere Anziehungskraft auf den Freund ausgeübt? Es waren nicht die Fakten. Und später, wenn wir tatsächlich diese Untersuchung durchgeführt und abgeschlossen haben, werden wiederum nicht die einzelnen Rohdaten im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern man wird sich auf unsere Gesamtaussage konzentrieren und auf die Empfehlungen, die unsere Studie ausspricht.
Das alles gehört zum Modell und nicht zu den Fakten.

Die Größenordnung von Gedankenmodellen und ihre Vielfalt
Modelle bauen auf Fakten auf und Modelle werden von denkenden und forschenden Menschen getragen.
Aus den bisherigen Ausführungen ist bereits deutlich geworden, dass es nicht nur ein Modell gibt und dass die Bildung eines Modells zunächst einen subjektiven Akt eines Modell-Autors darstellt. Indem die forschenden Wissenschaftler oder, allgemeiner ausgedrückt, die denkenden Menschen miteinander kommunizieren und die gefundenen Schlüsse aufeinander abstimmen, entsteht ein allgemein anerkanntes Modell.
Da Gedankenmodelle Grunderkenntnisse miteinander verbinden, ist es klar, dass es für die verschiedenen Erkenntnis-Bereiche verschiedenste Modelle geben muss. Einerseits kann ein Erkenntnisgebiet von mehreren, untereinander konkurrierenden Modellen abgedeckt sein – etwa in der Wirtschaftswissenschaft – anderseits gibt es für jeden abgegrenzten Wissensbereich mindestens ein geeignete Modell – wofür sicherlich jedes, in Universitäten und Hochschulen gelehrte Fachgebiet ein Beispiel abgibt.
Auch was den Umfang und den Aussage-Wirkbereich von Modellen anbelangt, gibt es keine Einschränkung. Von der alles umfassenden Weltanschauung, von Kosmos- und Evolutionstheorien, über Religionssysteme und Staatphilosophien, bis hin zu kleinsten Erklärungsmodellen mit einem sehr eingeschränkten Wirkungsbereich findet sich jede Größenordnung und jede Ausführungsqualität.
Einen Spezial-Fall stellt die Sprache selbst dar. Man würde in ihr zunächst kein Modell vermuten, aber auch sie erfüllt die Kriterien: Die Wörter und Begriffe stellen die „Grunderkenntnis“ dar – sie schaffen also den Bezug zur Realität. Die Verbindung der Begriffe zu Sätzen, die Herstellung von Bezügen zwischen den einzelnen Worten, somit die Logik, die in der Sprache Ausdruck findet und in der Grammatik festgelegt ist, sind die „Schlüsse“ in diesem Modell. Sprache leitete den Sprechenden mittels fester Regeln an und entsteht ihrerseits erst durch den Akt des Sprechens.

Der Wahrheitsgehalt eines Modells
Modelle bauen auf Fakten auf und diese werden von Menschen verifiziert.
In der Regel liegt einem Modell eine Unzahl glaubwürdig erworbener Fakten zugrunde. Diese durch Menschen existenziell erworbenen Erfahrungspunkte bieten zunächst die Grundlage für die Möglichkeit der Wahrhaftigkeit eines Modells.
Allerdings nützen die besten Detail-Erkenntnisse nichts, wenn zwischen ihnen wahllos irgendwelche sinnwidrigen Zusammenhänge hergestellt werden oder die Tatsachen in ihrer Kombination zueinander bewusst und mutwillig verdreht werden. Auch dient es nicht dem Wahrheitsgehalt eines Modells, wenn korrekt erhaltene Tatsachen miteinander verbunden werden, die in ihrem Inhalt oder in ihrer Dimension überhaupt nicht zueinander passen. Wenn die Schlüsse in einem Modell nichts taugen, machen die zugrundeliegenden korrekt ermittelten Tatsachen das nicht wett.
Dass es an der Glaubwürdigkeit der zusammengetragenen Tatsachen liegen kann, wenn es einem Modell an Wahrheitsgehalt mangelt, macht die andere Seite der Medaille aus. In beiden Fällen muss der anteilige Umfang der schadhaften Elemente – Tatsachen oder Schlüsse – darüber entscheiden, ob das Modell repariert werden kann oder ob es durch ein gänzlich neues ersetzt werden muss.

Der Missbrauch von Modellen
Gegen den bewussten Missbrauch von Modellen zur Erlangung eines Vorteils oder zur Erhaltung von Macht kann nicht viel unternommen werden, außer stets kritische Wachheit zu bewahren.
Mit einem trügerischen Modell lässt sich jeder beliebige Zusammenhang erklären. Eine bewusste Täuschung liegt auch dann vor, wenn das Phänomen der unscharfen Bereiche abseits eines Betrachtungspunktes innerhalb eines Modells gänzlich geleugnet wird; wenn also erklärt wird, das Modell liefere von jedem Fokus aus für alle seine Aspekte stets korrekte, klare Aussagen.
Die Geschichte ist voll von Geistesströmungen und Lehrmeinungen, die in ihrer Zeit akzeptiert wurden und mit deren Hilfe die Mächtigen ihnen opportun erscheinende Verhältnisse aufrecht zu erhalten versuchten. Dazu gehört als ein Jahrhunderte dauerndes, trauriges Kapitel der Aberglaube an Hexen und die Verfolgung von Frauen, die in irgendeiner Weise auffielen oder einfach nur verleumdet wurden. Ein krankes religiöses Modell machte das möglich. Ein anderer, Jahrtausende alter juristischer Modell-Fehler mit gravierenden Auswirkungen bescherte der Menschheit das Übel der Sklaverei und Ausbeutung unterprivilegierter Gruppen. Formell ist diese Modell-Schwäche spätestens mit der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen ausgemerzt worden. Informell lebt sie allerdings traurigerweise bis heute fort.
Auch das schon erwähnte geozentrische Weltbild gibt ein Beispiel für einen Machtmissbrauch mit Hilfe eines Modells ab. In wissenschaftlicher Unschuld wahrscheinlich bereits vor der Antike formuliert, half dieses Modell zunächst, das Geschehen um Erde und Gestirne bruchstückhaft zu verstehen. Als aber seine eingebauten und gravierenden Unschärfen gegenüber dem – bereits auch seit der Antike auftauchenden – konkurrierenden heliozentrischen Modell mit aller Vehemenz verteidigt wurden; als strikt geleugnet wurde, dass das Modell überhaupt Unschärfen hat, die einer durchgängigen Erklärung astronomischer Zusammenhänge im Wege stehen; als in Inquisitions-Prozessen Astronomen, die das Konkurrenz-Modell vertraten, zum Abschwören oder aber zum Tode verurteilt wurden; als solches geschah, war der Missbrauch dieses Modells zum Zwecke des Machterhalts manifest. Interessant ist in diesem Zusammenhang, welcher Aspekt des geozentrischen Modells für die damals Mächtigen so wertvoll war. Eine Erde, die absolut den Mittelpunkt des Universums darstellt, verhilft den auf dieser Erde im Mittelpunkt stehenden, eben den Mächtigen, zu einer Macht- und Pracht-Korona ungeahnten Ausmaßes. Dafür nehmen sie gerne in Kauf, dass die beobachteten Bahnen der Gestirne nur unbefriedigende Erklärung finden und dass die Orientierungskarten mit Hilfe des nächtlichen Himmels für die christliche Seefahrt umständlich ausfallen und untauglich sind. Auch kommt das Beharren auf einem Modell einem Forschungs-Verbot gleich. Neue Erkenntnisse führen zu neuen Modellen. Modelle auf einem Gebiet können wiederum Auswirkung auf Modelle anderer Gebiete haben. Ein neues astronomisches Modell könnte auf ein bestehendes, vorherrschendes staatstheoretisches oder theologisches Modell abfärben und es untergraben. Macht aber fürchtet offenbar nichts mehr als Veränderung.


Modelle und Weltanschauung

Weltanschauliche Modelle – eine besondere Art
Tatsachen sind die Grundlage von Modellen. Die Erkenntnisse über die Fakten bilden die Brückenpfeiler der Modell-Schlüsse. Durch existenzielle Erfahrung des Modell-Autors sind diese Grunderkenntnisse als Realität abgesichert.
Im naturwissenschaftlichen Bereich bilden die üblichen Messungen und Beobachtungen diese „existenziellen Erfahrungen“ und sind allgemein approbiert. Anders verhält es sich bei weltanschaulichen Themen. Die geforderte existenzielle Erfahrung liegt augenscheinlich im subjektiven Bereich des Forschenden respektive Denkenden. Zwar unterscheidet sie sich darin nicht von der naturwissenschaftlichen Erfahrung, etwa einer Messung, nur dass bei letzterer die Kommunikation der Wissenschaftler über die allseits gemachte Erfahrung – diese Messung – trotz subjektiver Wahrnehmung zumeist keinem Zweifel über ihre Realität unterliegt.
Bei weltanschaulichen Fragen verhält es sich, wie gesagt, anders.
Ein weltanschauliches Modell baut auf subjektiven Erfahrungen auf und besteht aus subjektiven Schlüssen. Die Kommunikation über beide Elemente ist im Idealfall durch behutsame Annäherung der Diskutanten geprägt. Dabei werden zunächst die einzelnen Aspekte des jeweiligen Gedankengebäudes auf mögliche Übereinstimmungen abgehorcht. Um solche zu erzielen, müssen meist bereits beiderseits anerkannte Hilfsmodelle herangezogen werden. Der ganze Prozess nennt sich Begriffsabklärung und Standort-Bestimmung und an seinem Ende steht – im günstigsten Falle – ein Kommunique mit der Aufzählung gefundener Übereinstimmungen und verbleibender Differenzen.
Die Auseinandersetzung mit einem weltanschaulichen Modell erweist sich in jedem Fall als aufwändiger und persönlich fordernder als die Beschäftigung mit einem anderen, etwa materie-bezogenem Modell.
Unter die Kategorie „weltanschaulich“ kann dabei vieles fallen. Hierher gehören große philosophische System ebenso, wie kleine lebensphilosophische Aphorismen. Hier bestehen religiöse Lehren neben naturwissenschaftlichen Weltentstehungs-Theorien. Hier reihen sich ethische Grundsätze und gesellschaftstheoretische Lehrmeinungen neben psychotherapeutischen Schulen ein. Weder die regionale Herkunft des Modells noch seine Größe oder sein Alter spielen eine Rolle für die Anerkennung des Attributs „weltanschaulich“.
Auch die jeweilige Ausprägung von weltanschaulichen Modellen kann mannigfaltig ausfallen. Von der philosophischen Abhandlung, vom juristischen Grundsatzwerk einer Verfassung, über Heilsschriften und Offenbarungs-Botschaften, bis hin zu Sagen, Mythen, Legenden und Volksweisheiten spannt sich ein weiter Bogen möglicher Manifestationen. Auch beherbergt die Kunst, vor allem die Literatur, viele Formen solcher Modelle. Ein Roman kann ein weltanschauliches Modell ebenso abgeben, wie eine Science Fiction Vision.
Das Besondere dieser Kategorie von Modellen ist ihre Anziehungskraft. Wer sich auf ein weltanschauliches Modell einlässt, kommt nicht umhin, die eigenen, ganz persönlichen Anschauungen mit ins Spiel zu bringen. Damit aber kommt der Mensch mit seinen ureigenen existenziellen Fragen in Berührung und nimmt – bewusst oder unbewusst – zu ihnen Stellung.

Eine besondere Ausprägung in einem Gedankenmodell – die Arbeitshypothese
Weltanschauliche Modelle bevorzugen in besonderem Maße eine Modell-Ausprägung – die Arbeitshypothese. Bei diesem Charakterzug eines Modells tauchen anstelle von – durch Erfahrung – abgesicherten Erkenntnissen subjektiv gesetzte Annahmen auf. Als provisorische Platzhalter der jetzt nicht – und vielleicht auch in Zukunft nie – verfügbaren Grunderkenntnisse geben sie die Möglichkeit, dennoch jetzt bereits Schlussfolgerungen zu formulieren und ein Modell zu bauen. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Schlüssen. Die Aussagen des Modells schweben im Bewusstsein ihrer schwachen Realitäts-Fundierung im freien Raum und hoffen darauf, ihrerseits evident zu erscheinen und direkt anerkannt zu werden.
Meist sind die gesetzten Annahmen von so grundsätzlicher Natur, dass damit gerechnet werden kann, genügend viele Menschen zu finden, die solche vorausgesetzte Grunderkenntnisse bereits gewonnen haben. Oder aber es wird damit spekuliert, dass die Menschen das Vorhandensein solcher Grunderkenntnisse ungeprüft glauben und die Annahmen ohne eigene Erfahrung als real akzeptieren.
Naturgemäß haben seit alters her die Religionen und die Volksweisheiten mit solchen Mitteln ihre Modelle gebaut. In Mythen und Legenden, in Epen und Heldensagen, in Märchen, Parabeln und Gleichnissen finden sich gleichmäßig verteilt die großen und die kleinen „Wahrheiten“, die übermittelt werden sollen. Diese Modelle „wissen“, dass, wenn es ihnen gelingt, die Wahrheiten selbst als evidente Realität erscheinen zu lassen, sie sich um die zugrunde liegenden Erkenntnisse und ihren Realitätsbezug keine Sorgen zu machen brauchen.

Modell-Themen und ein Beispiel
Was sind nun die Themen, die in solchen weltanschaulichen Modellen Behandlung finden?
Wie bereits erwähnt, sprechen die Fragen den Menschen in der Regel im existenziellen Kern an. Damit berühren sie die Menschen direkt.
Woher kommt die Welt? Wie ist sie entstanden? Wohin geht alles Sein? Gibt es einen Plan? Gibt es ein Ziel, auf das alles hinausläuft?
Was ist der Mensch? Wieweit reicht seine Macht? Wo sind seine Grenzen? Was soll der Mensch erreichen? Was hat es mit Unsterblichkeit auf sich? Was ist Leid, Schuld, Tod? Gibt es Freiheit? Gibt es Bestimmung? Erfährt der Mensch Schutz und Hilfe auf seinem Lebensweg? Gibt es Glück? Hat das Leben einen Sinn?

Wählen wir als einfach zu analysierendes Beispiel den Schöpfungsbericht der Bibel (Buch Genesis).
Dass es die Erde und alles auf ihr gibt, ist evidente Erkenntnis. Dass diese Erde irgendwie nachvollziehbar zustande gekommen sein muss, ist eine gesetzte Annahme, der man jedoch große allgemeine Akzeptanz zutraut. Zwischen diesen beiden „Grunderkenntnissen“ spannt nun der biblische „Schöpfungsbericht“ seine Schlussfolgerungen, die da lauten: es gibt eine übergeordnete Kraft, nämlich Gott, und der hat die Erschaffung und die Ausgestaltung der Erde und aller Dinge auf ihr in sechs „Schöpfungstagen“ bewerkstelligt.
Es wird nicht nur ein Dass der Erschaffung konstatiert, sondern es wird auch das Wie dieses Vorgangs zu erklären versucht und in Nebenschlüssen – das sind die Erzählungen der Schöpfungstage – wird sogar beleuchtet, warum die Ausgestaltung der Schöpfung so ausfallen ist, wie sie vorgefunden wird.
Welchen Aspekt dieses weltanschaulichen, religiösen Modells sich ein Betrachter herausgreift, bleibt ihm überlassen. Abgesehen von der Existenz-Aussage über Gott und der grundsätzlichen Schöpfungs-Aussage durch ihn bleibt uns heute kein Aspekt mehr übrig, der diesem Modell sonst noch entnommen werden könnte. Es gehört zu den Anachronismen, wenn Sekten und Fundamentalisten dennoch diesen Schöpfungsbericht auch heute noch wörtlich auszulegen versuchen und darüber Streitgespräche führen. Dass sich auch die amerikanische Schule der Kreationisten mit den Anhängern der Darwinistischen Lehre über die grundsätzliche Frage eines Schöpfungs-Aktes als solchen in die Haare geraten, zeigt, welch brisante Fragen dieses Modell behandelt. Aber auch dieser Streit sollte als Anachronismus gewertet werden – nicht unbedingt allein der Position der Kreationisten wegen.

Darstellung von Gedankenmodellen in Kurzfassungen
Modelle müssen nicht immer in breiter Ausführung vorgelegt werden. Gerade bei weltanschaulichen Themen gibt es oftmals eine knappe Kurzfassung, die der Literaturgattung Lyrik nahe steht. Es sind dies Weisheitssprüche und Aphorismen.
Anthony de Mello hat eine reiche Sammlung an Weisheitsgeschichten zusammengetragen. Einige davon sollen nun zeigen, wie eine Kurzfassung von Weltanschauungs-Modellen aussehen kann.

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Einem Schüler, der sich derartig um Erleuchtung bemühte, dass er körperlich hinfällig wurde, sagte der Meister: „Ein Lichtstrahl kann ergriffen werden – aber nicht mit deinen Händen. Erleuchtung kann erreicht werden – aber nicht durch deine Anstrengung.“
Der erstaunte Schüler sagte: „Aber rietet Ihr mir nicht, ich sollte streben, leer zu werden? Das versuche ich doch.“
„Du bist also jetzt voller Anstrengung, leer zu sein!“ sagte der Meister lachend. (6)
Die Weltanschauung hinter diesem Spruch kennt nicht nur eine materielle, irdische Dimension und ist auch nicht auf lineares Geschehen begrenzt. Einen möglichen Wirkzusammenhang beschränkt das offenbar zugrunde liegende Modell nicht bloß auf simple Kausalketten von Ursache und Wirkung. Es scheint sich vielmehr um ein komplexes, multidimensionales Weltbild zu handeln, das hier hervorleuchtet. Wird eine Aktion auch genau berechnet und zielt sie direkt auf ein Ziel ab, kann die Erreichung dieses Zieles dennoch ausbleiben, da die eigentliche zielerreichende Handlung nicht verstanden und daher auch nicht gesetzt wird.
Übrigens: Das genaue Aussehen des Modells lässt sich aus der Kurzversion naturgemäß nicht rekonstruieren. Lediglich die im Fokus liegende Kernaussage zeigt sich.

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Ein alter Mann konnte stundenlang still in der Kirche sitzen. Eines Tages fragte ihn ein Priester, worüber Gott mit ihm spräche. „Gott spricht nicht. Er hört nur zu“, war die Antwort. „Was redest du dann mit ihm?“ „Ich spreche auch nicht. Ich höre nur zu.“(7)
Wenn es ein Modell schaffen sollte, den Dualismus von Subjekt und Objekt und von Rede und Gegenrede zu überwinden; wenn so ein Modell die Einheit in der Getrenntheit darstellen sollte; wenn gezeigt werden sollte, wie Übereinstimmung trotz Widerspruch möglich sein kann, dann müsste es das hinter dieser Geschichte stehende Modell sein.

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Ein Schriftsteller kam ins Kloster, um ein Buch über den Meister zu schreiben. „Die Leute sagen, Ihr seid ein Genie. Stimmt das?“ fragte er.
„Das könnte man wohl sagen“, antwortete der Meister nicht gerade bescheiden.
„Und was macht einen zum Genie?“ „Die Fähigkeit zu erkennen.“ „Was erkennen?“
„Den Schmetterling in einer Raupe, den Adler in einem Ei, den Heiligen in einem selbstsüchtigen Menschenwesen.“(8)
Es gibt eine Psychotherapie-Schule, die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl, von der noch die Rede sein wird. Sie legt großes Augenmerk nicht sosehr auf das Faktische, also das bereits Gegebene, als vielmehr auf das Fakultative – das Mögliche, das sich entwickeln Könnende. Ein ähnliches Modell kann hinter dieser Weisheitsgeschichte vermutet werden.

Die Beschäftigung mit Kurzfassungen von Modellen wirft ein erhellendes Licht auf einen interessanten literarischen und sprachlichen Aspekt. Warum schaffen es wenige, knappe Worte, uns große Zusammenhänge nahe zu bringen und ein tiefes Verständnis in uns zu erwecken?
Die Antwort könnte in dem Umstand liegen, dass die wenigen Worte – auch bei Lyrik trifft das zu – mit ihrer enthaltenen Kernaussage einen Blick auf das darunter liegende, große Gedankenmodell freigeben. Durch die unausgesprochene Akzeptanz dieses erratenen, zugrunde liegenden Modells wird das tiefe Verständnis ausgelöst.

Die Gier nach Erklärungen
Die Auseinandersetzung mit Gedankenmodellen wirft nun die Frage auf, warum sich in allen Bereichen so mühelos Modelle ausmachen lassen. Es scheint als sei unser ganzes Denken in Modellen strukturiert. Schon die alte „Schöpfungsgeschichte“ der Bibel hat den unstillbaren Durst nach Erklärungen aufgezeigt. Das menschliche Denken „giert“ nach Bildung von Kausal-Zusammenhängen. Kein offener Spalt, keine Erkenntnislücke darf übrig bleiben, die nicht mit einer passenden Erklärung überbrückt wird.
Dabei ist es schlechtesten Falls nebensächlich, von welcher Wahrheits-Qualität das Erklärungs-Moment ist. Notfalls wird die bestpassendste Antwort genommen. Besser irgend eine Deutung als gar keine, scheint das Motto zu lauten. Man kennt dieses Phänomen auch auf juristischem Gebiet. Bei einer über ein Verbrechen aufgebrachten Menschenmenge wird schnell der Ruf nach Bestrafung laut. Ein Schuldiger muss her! Ist der Fall noch nicht eindeutig geklärt, wird der am meisten Verdächtige genommen. Lynchjustiz funktioniert nach diesem Muster.
Woher kommt der starke Wunsch nach Erklärungen?
Könnte es damit zusammenhängen, dass unser ganzes Leben mit seinem Wollen, Planen, Handeln, mit seinen Einstellungen und seiner Grundhaltung – im Ganzen ein Modell darstellt?


Modell, menschlicher Lebensweg und Psychotherapie

Erweiterung des Modell-Begriffs auf die menschliche Existenz
Lässt sich der Begriff des Gedankenmodells auch auf den Menschen selbst, sein Leben, sein Sein ausdehnen?
Führen wir uns zunächst die Hauptmerkmale unseres (impliziten) Modell-Begriffs nochmals vor Augen.
Zunächst braucht es eine existenzielle Realitäts-Erfahrung. In einem subjektiven Vorgang werden sodann die „erfahrenen“ Realitäts-Bezüge in Schlüssen miteinander verbunden. In immer neuen, zirkulären Erfahrungs- und Erschließungs-Prozessen und in kommunikativer Abstimmung von „Mitdenkenden“ und „Miterfahrenden“ entsteht letztendlich ein komplexes Ganzes – das Gedankenmodell.
Beim ersten Element, den existenziellen Realitäts-Erfahrungen, bleibt das menschliche Leben den Nachweis keinen Moment lang schuldig. Das Leben besteht vielmehr Stunde um Stunde und Minute um Minute aus einer endlos langen Kette von aneinandergereihten und einander abwechselnden Konfrontationen mit der Realität.
Was das zweite Element betrifft, die Schlussfolgerungen, so sind dies, auf das Menschenleben umgelegt, nicht nur Gedanken, sondern es gehört auch das Wollen dazu, das Planen, die Haltungen und die Einstellung. Die Schlüsse sind hier, mit einem Wort gesagt, die „Ent-schlüsse“.
Grundgelegt wird das Modell eines Menschenlebens biologisch aus ererbten Faktoren, psychologisch müssen mitgebrachte Charakterzüge dazugezählt werden und sozilogisch prägt der Umgang der ersten Bezugspersonen, der Eltern, wohl am meisten. Sollte jetzt aber das Bild entstehen, das Modell einer menschlichen Existenz ist rein schicksalhaft gegeben und wird ausschließlich von äußeren Faktoren bestimmt, dann wäre ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Aspekt außer Acht gelassen worden. Zwar nicht vom ersten Moment an, aber sehr bald in seiner Entwicklung trifft der Mensch nämlich Entscheidungen – zunächst kleine, später dann größere und schließlich weitreichende. In Freiheit wählt schon das Kleinkind das eine Spielzeug und lässt das andere liegen. Es interessiert sich für die eine Rutsche und das eine Klettergerät am Spielplatz und verschmäht die Schaukel. Die Situationen werden mit zunehmendem Alter komplexer, die Entscheidungen schwieriger. Mit all dem wächst auch das Modell des Lebens. Der Mensch gestaltet es in dem gleichen Maße, in dem es ihn in seinen Entscheidungen leitet und lenkt. Auch hier wirkt also das evolutionäre Zirkelgeschehen wie bei jedem Gedankenmodell – nur dass hier die Schlüsse, über Gedanken hinausgehend, auch Lebensent-schlüsse sind.
In welchem Ausmaß bestimmt nun das Lebens-Modell die Existenz des Menschen? Übernimmt es die Rolle des unsichtbaren Schicksals? Legt es dem Menschen Schienen, auf denen er seinen Weg zurückzulegen hat, ob es ihm gefällt oder nicht? Oder hat der Mensch Freiheit, trotz seines Lebens-Modells zu handeln und zu entscheiden, wie er will?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits entscheidet der Mensch von Moment zu Moment, was er tut, was er sagt, wie er denkt und anderseits leiten ihn dabei die Grundsätze seines Lebens-Modells. Wo beginnt die freie Entscheidung und wo endet die Führung durch das Prinzip? Oder anders gefragt: Wann hört der Eigenanteil am Bau des Lebens-Modells auf und es beginnt stattdessen die Steuerung der Handelns durch die Leitsätze des nun gefestigten Modells? Ist das Lebens-Modell je fertig oder ändert es sich stets? Oder ändern sich nur gewisse Bereiche darin und andere bleiben konstant – ein Leben lang?
Grundsätze können geändert werden und Leitlinien verlassen – und neue können eingerichtet werden. Aber wie oft geschieht das? Ist das Lebens-Modell eher konstant und starr oder ist es im Fluss und passt sich ständig an? Welche Aufgabe hat es dann?
Die Fragen bleiben offen, das Leben dadurch spannend – und das Modell bleibt interessant!

„Erkenne dich selbst!“
Vielleicht erhält der alte Delphische Spruch vor dem Hintergrund des Lebens-Modells eine neue Bedeutung.
Was ist gemeint mit der Erkenntnis seiner selbst?
Das Modell des Lebens trägt einen eigenartigen Widerspruch in sich. Zwar leitet es den Menschen bei seinen Entschlüssen an und gibt ihm für sein Denken und Handeln Orientierung, aber gleichzeitig bleibt es ihm fremd und verborgen. Dieses Paradoxon verliert sein Geheimnis, wenn man in die Betrachtung das alte, geflügelte Wort mit hereinnimmt: „Den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen“. Aus der Innenansicht ist es in der Tat nicht leicht, einen Überblick zu erhalten. Und da es keinesfalls ratsam ist, das Leben „von außen her“ zu leben, was unweigerlich zu übertriebener Selbstbeobachtung und zu Zwanghaftigkeit führen würde und was somit einem „Nicht-leben“ gleichkäme, ist es nur natürlich, dass wir über den Entwurf im Ganzen keine Übersicht haben.
Genau hier scheint der Delphische Rat anzusetzen. Wir können ihn so deuten, dass er uns empfiehlt, das Modell des eigenen Leben in seinem Vollzug Stück für Stück zunächst einmal zu bemerken und die Grundsätze und Leitlinien dieses Modells von innen her so nach und nach zu verstehen. Dies versetzt uns dann in die Lage, Aspekte dieses Modells entweder gutzuheißen und sie zu behalten oder sie gegen andere auszutauschen, wenn sie sich nicht oder nur schlecht bewähren.


Anthony de Mello hat auch zu diesen Themen passende Weisheitsgeschichten anzubieten.

„Wie soll ich der Welt helfen?“
„Indem du sie verstehst“, sagte der Meister.
„Und wie soll ich sie verstehen?“
„Indem du dich von ihr abwendest.“
„Wie soll ich dann der Menschheit dienen?“
„Indem du dich selbst verstehst.“ (9)

Des Meisters gesprächige Stimmung ermunterte Seine Schüler zu der Frage: „Sagt uns, was habt Ihr durch Erleuchtung gewonnen? Wurdet Ihr göttlich?
„Nein.“
„Wurdet Ihr ein Heiliger?“
„Nein.“
„Was wurdet Ihr also?“
„Wach.“ (10)

Selbsterfahrung und Selbstaktualisierungstendenz
Auf Selbsterfahrung wird nach dem österreichischen Psychotherapie-Gesetz 1990 bei der Ausbildung sehr viel Wert gelegt. Namentlich in der Schule Klienten-/Personenzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers ist Selbsterfahrung ein Kernstück der Berufsvorbereitung.
Der Terminus Selbsterfahrung könnte einen zunächst auf den Gedanken bringen, es handle sich dabei um ein Kreisen um sich selbst, um eine Fokussierung auf das Ich, um eine egozentrische Nabelbeschau also. Als solches wäre Selbsterfahrung in der Tat mit Misstrauen zu betrachten. Sie würde das gesunde Gleichgewicht der Wahrnehmung stören, die normalerweise zwischen Innensicht und Außenwelt ausgewogen hin- und herpendelt. So eine Selbst-Fokussierung würde das Zugehen auf ein Du behindern oder unmöglich machen und stellte eine Art von Narzissmus dar.
Ist mit Selbsterfahrung solch ein Tun gemeint oder birgt der Begriff eine andere Intention?
Vielleicht kann das Modell der menschlichen Existenz hier weiterhelfen.
Wir haben gesehen, dass ein Lebensmodell die Summe der Realitäts-Erfahrungen mitsamt den Schlussfolgerungen daraus und den Ent-schlüssen, Haltungen und Einstellungen darstellt und dass es uns in unserem Lebensvollzug leitet und uns Orientierung gibt.
Nun arbeiten hier nicht nur einige wenige Gedanken, Ent-schlüsse und Willens-Impulse zusammen, sondern das Ganze ist ein sehr großes, komplexes Gebilde feinst gegliederter und verästelter Strebungen, eine tiefreichende Hierarchie bewusster und unbewusster bzw. automatisiert ablaufender Impulse. Gemeinhin fassen wir dieses psychische Geschehen unter den Begriffen Gewohnheiten, Verhalten, Stimmungen und Gefühle zusammen, aber auch Planung, Wille und Entscheidung gehören zu dieser Begriffswelt.
Das ganze Modell arbeitet, wenn wir agieren, genauso, wie wenn wir re-agieren. Besonders in der Interaktion mit unserer Umwelt kommen viele seiner Aspekte zum Tragen.
Aus diesem Gesichtspunkt können wir Selbsterfahrung als eine Labor-Situation betrachten, in der das Modell des Lebens in allen möglichen Lagen ausprobiert werden kann. Der Therapeut oder, im Falle einer Therapie-Gruppe, die Gruppenmitglieder bereiten mit ihrer Grundhaltung der bedingungsfreien Wertschätzung eine förderliche Arbeitsatmosphäre, mit Empathie, d.i. Einfühlung, ermöglichen sie das Aufeinander-Zugehen und mit Kongruenz, also mit Aufrichtigkeit zu sich selbst und mit Echtheit, gewährleisten sie, dass Abgrenzung und Konfrontation möglich bleibt.
Unter diesen Voraussetzungen kann der „Leben erprobende“ Klient einige der Aspekte seines Modells genauer kennen lernen; kann sein Tun, sein Reagieren und Agieren testend versuchen, kann es abwandeln oder es beibehalten und ist dabei stets im Dialog mit den anderen, von denen er erfährt, was er da tut und wie das bei ihnen ankommt. Dass das ein heikler Prozess ist, der mit Sorgfalt begleitet und von Fürsorge geprägt sein muss, scheint klar zu sein. Natürlich ist diese „Labor-Situation“ nicht aus den Lebensbezügen herausgenommen. Vielmehr ist dieses „Erproben von Leben“ das Leben selber. Somit gehört auch die Arbeit in der Therapie- oder der Gruppen-Selbsterfahrung direkt zum Leben dazu. Wodurch also gilt: Auch die Lebenserprobung ist ein Aspekt des Lebensmodells – das Leben wird nicht nur gelebt, der Lebensvollzug kann auch „erkannt“ werden.
Wir haben es somit offenbar mit einer anderen Form von „erkenne dich selbst“ zu tun.

Interessant wäre es auch, der Frage nachzugehen, ob das andere große Merkmal der Schule der Personenzentrierten Psychotherapie ebenfalls mit dem existenziellen Lebens-Modell in Zusammenhang zu bringen ist: das Konzept der Selbstaktualisierung.
Dieses Prinzip besagt im Kern, dass der Mensch von sich ein Selbstkonzept hat. Es sind dies die Annahmen, die eine Person über seine Eigenschaften und Fähigkeiten hat und wie sie diese bewertet. Die Selbstaktualisierungstendenz, die dem Menschen grundsätzlich zu eigen ist, führt nun die erlebten Person-Erfahrungen an die im Innern getragenen, eigenen Annahmen heran und bringt so die Entwicklung und die Veränderung des Selbst voran. (11)

Eine andere Psychotherapie-Schule als Beispiel für ein Gedankenmodell
Eine andere Psychotherapie-Schule gibt ein gutes Beispiel für ein knapp und klar formuliertes Modell ab und enthält ihrerseits einen Ansatz, der die Gedanken über ein Lebens-Modell stützt, sie sogar erweitert.
Es handelt sich um die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Emil Frankl. W. Soucek bezeichnete diese Richtung als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ und Giambattista Torello behauptete einmal, sie sei das letzte vollständige System in der Geschichte der Psychotherapie (12). Das Gedankengut ihres Gründers Viktor E. Frankl umfasst im Verhältnis zum Gehalt verhältnismäßig wenige Aussagen. Die Realitäts-Erfahrungen, auf denen diese Schlüsse ruhen, sind zudem von tiefer existenzieller Ausrichtung und fordern den Betrachter somit zu intensiver, subjektiver Stellungnahme heraus. Damit wird das Konzept dieser Schule zu einem Parade-Beispiel eines weltanschaulichen Modells.
Was sind nun die wichtigsten Aspekte darin?
Menschliche Existenz wird zunächst in ihrem Sein mehrdimensional verstanden. Obwohl der Mensch eine Einheit ist, lassen sich dennoch die physische, also körperliche, die psychische und schließlich die geistige Dimension in seinem Sein ausmachen. Das Verhältnis dieser Dimensionen zueinander ist als eine nicht lineare, nicht räumlich und zeitlich zu denkende Verschmelzung zu verstehen, die ein gegenseitig aufeinander Einwirken einschließt. Nach diesem „schwierigen“ Teil Frankl´schen Denkens folgen vergleichsweise einfache Gedankengänge. In der Freiheit seiner Existenz im Hier und Jetzt kann und soll ein Mensch versuchen, sinnvoll zu handeln und damit Sinn in der Welt zu verwirklichen. Hierbei fordern den Menschen für ihn einmalige Situationen heraus, denen er in seine eigenen Einzigartigkeit begegnet. Die Sinn-Momente entstehen nicht im Innern des Menschen und werden auch nicht von ihm erfunden, sondern sie treten von außen an ihn heran und fordern ihn heraus. So bleibt der Mensch stets auf das Überschreiten seiner eigenen Grenzen, also auf eine Transzendenz hin, ausgerichtet. Die Möglichkeiten, die die Zukunft ihm bietet, bringt der Mensch in freien Wahl des existenziellen Jetzt zur Verwirklichung und schafft damit, wenn auch vergangene, so doch: Realität.
Bei all diesem Tun leitet den Menschen, der an der Schwelle der Weltimmanenz steht – dort wo diese zur Transzendenz überführt – ein unbekannter Übersinn. Dieser wurzelt in der Transzendenz, welche dem Menschen ebenfalls unbekannt bleibt.
Wenn wir das existenzielle Modell des menschlichen Lebens, von dem bisher die Rede war, um die transzendentale Dimension erweitern; wenn wir die Grundeinstellung und die resultierende Haltung, die dem Modell eigen sind, aus der Weltimmanenz in die Transzendenz „hinaufheben“, dann können wir dieses Lebens-Modell direkt mit dem Frankl´schen Gedanken des Übersinns in Zusammenhang bringen. Für das Erfassen dieses Übersinns aber und für das Verstehen des existenziellen Lebensmodells gilt dann wohl gleichermaßen, dass der Versuch, Verständnis zu erlangen, zwar erlaubt und legitim ist, dass die Erlangung von einigem, geschweige denn aber von vollem Verständnis jedoch letztlich unmöglich bleiben wird.
„Erkenne dich selbst“ somit auch hier.


Abschließende Überlegungen

Relativität der Erkenntnis und Versuch einer Modell-Definition
Erkenntnis ist subjektiv. Vom Objekt her auf das Subjekt hin relativ.
Wenn zwei oder mehrere Subjekte untereinander über ihre Erkenntnisse kommunizieren, werden aus den subjektiven Erkenntnissen objektivierte. Als jeweilige Erkenntnisse sind sie immer noch subjektiv, relativiert auf das Subjekt, das sie hat. Aber als miteinander verglichene, erhalten diese Subjekt-Erkenntnisse einen objektiven Status. Freilich läuft diese Kommunikation der Subjekte völlig unbemerkt ab. Wir setzen schlichtweg voraus, dass die von uns wahrgenommenen Objekte von den Mitmenschen ebenfalls und gleichgestaltig gesehen werden und meist liegen wir damit richtig. Und ist dem einmal nicht so, sind wir „verblüfft“ und fallen aus allen Wolken.
Des Weiteren bemerken wir zumeist nicht, dass wir in Modellen denken und bei unserer Wahrnehmung von Modellen angeleitet sind. Diese Komplexe voll vorgeformter Schlussfolgerungen, die unsere primären Berührungspunkte mit Realität, die „Urerkenntnisse“, untereinander verbinden, fallen uns gar nicht mehr auf – so sehr sind sie in unserer Wahrnehmung mit der Realität selbst verschmolzen.
Versuchen wir nun eine prozedurale Definition von Gedankenmodell zu finden:
Erkenntnis, diese subjektive Berührung mit der Realität, und auf ihr aufbauend eine oder mehrere Schluss-Folgerungen, abgestimmt mit anderen Erkenntnis-Trägern, stellt das Fundament dar, auf dem sich weitere (subjektive) Erkenntnisse durch (objektivierende) Schluss-Folgerungen verbinden lassen. So wächst ein Modell. Hat das Gedankenmodell einmal einen gewissen Umfang angenommen und lässt sich sein „Charakter“ bereits erkennen, bestimmt es seinen eigenen Aufbau ab sofort durch (unbemerkte) Anleitung der nachfolgenden Gedanken und durch prägende Führung bei der Erstellung der weiteren Schluss-Folgerungen selbst mit.
Modelle sind nicht selbst Objekte der Realität. Sie sind lediglich „Bewusstwerdungs-Prozesse“ über Realität.
Modelle sind nicht die Gegenstände, die wir sehen; sie sind auch nicht die Augen, mit denen wir sehen; sie sind am ehesten die Brillen, durch die hindurch wir Reales sehen. (In diesem hinkenden Vergleich sind Brillen allerdings ein Muss und keine Option.)

Gedankenmodell – einige Fragen und Antworten
Gedankenmodelle führen uns Realität vor Augen und können komplex sein. Wie oft sind sie auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen?
Modelle haben unter anderem die Aufgabe, für Ordnung und Kontinuität zu sorgen. Daher sind ihre Schlüsse in der Regel auf längerfristigen Bestand hin ausgelegt. Da sich sowohl Erkenntnisse aus der Realität, als auch Bedingungen innerhalb der Realität mit der Zeit ändern können, müssen auch Modelle in angemessenen Abständen angepasst werden. Dafür gibt es einige Namen: Revision, Review, Reform, Renovierung, Besinnung, Exerzitien, Einkehrtag, Parteitag, Regierungsklausur, ...

Hat es Sinn, ein bestehendes Gedankenmodell, das sich bewährt hat, zu verändern?
Außerhalb des angeratenen Überprüfungs-Zyklus kann es sich als notwendig herausstellen, ein bewährtes Modell von Grund auf zu überarbeiten. Dies kann dadurch gegeben sein, dass sich während der Lebenszeit dieses Modells die Aspekte seiner Realität kontinuierlich verändert und erweitert haben, sodass ein flickwerk-artiges Anpassen dem Gedankenmodell als ganzen nicht mehr gerecht wird. Hier heißt das Schlagwort: Re-Design.
Sollte es sich jedoch ergeben, dass von einem verwandten Modell für ein bestehendes, bewährtes Gedankenmodell mit einem Male gewisse passende Zusatz-Informationen zur Verfügung stehen, muss der Versuch als sinnvoll angesehen werden, diese in das bisherige Modell homogen zu integrieren.

Modelle geben Anleitung bei Gedanken und Handlungen; das ist eine ihrer Aufgaben. Ist die persönliche Freiheit somit eingeschränkt, sobald ein Gedankenmodell zur Anwendung kommt?
Wenn den Schluss-Folgerungen, den Leitlinien und den Anordnungen eines Modells Folge geleistet wird, schränkt dies den Handlungsspielraum naturgemäß ein. Gerade das ist die eigentliche Aufgabe eines Gedankenmodells, eine ordnende Struktur anzubieten, um die Abwicklung von Aktionen zu erleichtern.
Worin jedoch weiterhin Freiheit besteht, das sind einerseits die Auswahl des Modells bzw. gewisser Aspekte aus einem Modell und anderseits die Möglichkeit, ein einmal gewähltes Modell durch ein anderes, passenderes zu ersetzen. Somit bleibt die persönliche Freiheit gewahrt.

Können von Modellen Gefahren aus gehen?
Wenn ein Gedankenmodell Fehlschlüsse eingebaut hat, kann das bei seiner Anwendung negative Auswirkungen haben. Der Fehler liegt hier beim Autor des Modells. Wird jedoch ein grundsätzlich korrektes Gedankenmodell für etwas herangezogen, wofür es nicht zuständig ist oder wofür es wegen fehlender Detail-Ausstattung nicht genügen kann, dann liegt ein Modell-Missbrauch vor. Hier liegt das Fehlverhalten beim Modell-Anwender.
Somit sind Gedankenmodelle ihres Hanges zur Komplexität wegen stets mit größter Sorgfalt aufzubauen und mit eben derselben Sorgfalt auch auszuwählen.

Wenn Gedankenmodelle sowohl wartungs-intensiv, als auch komplex, als auch in der Anwendung gefährlich sein können, wäre es dann nicht besser, zu versuchen, ohne sie auszukommen?
Auch wenn es möglich wäre, ohne Modelle zu leben, bliebe die Realität komplex und das Leben selbst gefährlich. Modelle kann man jedoch nicht ausblenden; sie können nicht weggelassen werden; sie sind einfach da und stehen zwischen uns und der von uns wahrgenommenen Realität. Diese Brille kann nicht abgenommen werden!

Was ist das größte Missverständnis im Zusammenhang mit einem Gedankenmodell?
Dass seine Beziehung zur Realität, zum Autor und zum Modell-Anwender verkannt oder missdeutet wird. Wenn etwa das Modell als solches und sein Einfluss übersehen werden, wird auch die Möglichkeit übersehen, mit der Wirklichkeit anders umzugehen, als es gerade geschieht. Oder wenn nicht begriffen wird, dass beim Umgang mit Wirklichkeit Deutung im Spiel ist, versperrt sich in einer weltanschaulichen Konfrontation oftmals verhängnisvoll ein rettender Ausweg vor der Katastrophe des „Recht-haben-müssens“ um jeden Preis.

Schluss-Bemerkung
Ein Gedankenmodell zeigt uns die Realität.
Ein Gedankenmodell ist die Realität aber nicht selbst.

Ein Gedankenmodell ist ein Modell.
Die Wirklichkeit ist etwas ganz anderes.


Literatur

1) Die Darstellung des Falles „Elisabeth v. R.“ als Behandlung durch Sigmund Freud ist zur Gänze folgendem Werk entnommen:
Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 81 ff.
2) Freud, Sigmund (1895a) Beiträge. In J. Breuer & S. Freud (1895), 40-148, 204-246
3) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 83.
4) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 81-82.
5) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 84-85
6) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist – Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1994, 2004. Seite 268
7) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist – Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1994, 2004. Seite 330
8) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist – Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1994, 2004. Seite 291
9) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist – Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1994, 2004. Seite 292
10) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist – Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1994, 2004. Seite 293
11) P. Frenzel, W.W. Keil, P.F. Schmid, N. Stölzl (Hrsg) (2001) Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie Fakultas Univ.-Verlag Wien, Seite 67 f.
12) Elisabeth Lukas (2002) Lehrbuch der Logotherapie Profil Verlag GmbH München, Wien. Seite 14 u. 16.
 

 

Alfred Köstler