Alle Erkenntnis ist relativ
Erkenntnis ist als solches – Erkenntnis.
Von einem erkennenden Subjekt aus gesehen, stellt sich die Frage
nach relativ und absolut nicht. Es wird etwas erkannt. Der Akt des
Bewusstwerdens eines Zusammenhanges oder eines einfachen
Gegenstandes ist evident. Erkenntnis ist erfolgt – und das war es.
Die Frage nach relativ und absolut stellt sich erst, wenn zwei oder
mehrere Subjekte ihre jeweilige Erkenntnis miteinander vergleichen.
Hier gesellt sich zum jeweiligen Erkenntnis-Prozess ein
Kommunikations-Geschehen.
Ich als Erkennender, um ein Beispiel zu nennen, sehe, höre, fühle
und weiß nur das, was ich selbst erkenne. Was mein Gegenüber
erkennt, sagt er mir und über die ihrerseits betrachtungswürdigen
Medien der Sprache oder der Schrift erfahre ich, was der Andere
erkennt und so meine ich dann, zu wissen, was genau er erkannt hat.
Aber in diesem letzteren „Wissen“ steckt sehr viel Relativität drin.
Das lässt sich an einem einfachen Sachverhalt zeigen.
Von der Blume auf dem Tisch, an dem wir Betrachter einander
gegenübersitzen, nehme ich ganz selbstverständlich an, dass sie
meinem Gegenüber genauso erscheint, wie ich sie sehe. Aber mit
dieser Annahme bin ich vorschnell. Abgesehen davon, dass schon der
Blickwinkel auf die Blume ein anderer ist, nehme ich das Bild als
solches nur subjektiv wahr. Ich habe nämlich keinerlei Chance, zu
erfahren, wie die Gestalt und die Farben der Blume meinem Gegenüber
erscheinen. Sieht er das Rot der Blüte genauso wie ich oder
erscheint es ihm so, wie bei mir ein Grün aussieht? Da nun alle die
Blüte als rot bezeichnen, sagen auch wir beide „rot“ dazu, ohne zu
wissen, wie sich das beim jeweiligen Partner wirklich „ansieht“.
Das Verblüffende daran ist: Würde mein Gegenüber anstelle des Rots,
das ich sehe, ein Grün gemäß meinen Maßstäben sehen, könnte ich ihn
dennoch nicht einen Lügner nennen, da er den einen Gegenstand, den
wir beide betrachten lediglich so wahrnimmt, wie er es eben tut.
Woher sollte ich überdies wissen, dass ich mit meiner Empfindung
„richtig“ liege. Vielleicht ist ja genau meine Rot-Empfindung der
Irrtum und ich sollte eigentlich grün sehen, tue es aber nicht.
Wir können festhalten: Wahrnehmung ist in ihrem existenziellen
Geschehen ein zutiefst subjektiver Akt. Wir stoßen hier an eine
absolute Kommunikations-Barriere. Das Urerleben, das einer
Wahrnehmung zugrunde liegt, ist ganz auf das Individuum beschränkt,
das diese Wahrnehmung hat. Jeder kann zwar mit anderen, welche
dieselben Dinge wahrnehmen, über diese Wahrnehmungen „sprechen“ und
aus den Bestätigungen, die jeder erhält, kann er den Schluss ziehen,
dass seine eigene Wahrnehmung „richtig“ ist; aber was genau die
Anderen so eigentlich sehen, hören, fühlen und somit erfahren und
wahrnehmen, erfährt unser Betrachter nicht.
Wahrnehmung ist somit relativ; ist bezogen auf den Betrachter.
Gedankenmodell – eine Konsequenz der Relativität von Erkenntnis
Ohne eine umfassende Definition von Modell voranzustellen, sehen wir
uns doch gleich einige Aspekte an, die dieses Thema betreffen. Wagen
wir den Versuch, die Definition von Modell im folgenden Text
lediglich implizit zu behandeln.
Am Schluss der Betrachtung können wir dann entscheiden, ob es eine
explizite Definition noch braucht.
Gedankenmodell und dahinterliegende
Wahrheit
Gedankenmodelle sind im Wesentlichen Modelle.
Sie stellen keineswegs – auch wenn sie das gerne möchten – ein
durchgängiges und getreues Abbild von Realität dar. Vielmehr treffen
ihre Aussagen in der Regel jeweils nur an gewissen Punkten genau zu,
während das Umfeld dieser Punkte eher darauf ausgerichtet bleibt,
den jeweiligen Betrachtungspunkt gut darzustellen und ihn stimmig
erscheinen zu lassen.
Für einen stimmigen Punkt im Modell ist nun vorausgesetzt, dass er
in gewisser Weise durch eine „existenzielle Erfahrung“ des
Modell-Autors abgesichert ist. Hätten alle diese Punkte keine solche
Erfahrung hinter sich, stünde hinter dem gesamten Modell keine
Legitimation durch Realität und das Modell wäre wertlos.
Sobald der Fokus von einem solchen Betrachtungspunkt weicht und auf
einen anderen gelegt wird, rückt ein anderer Aspekt des Modells in
den Mittelpunkt des Interesses. (Es sollte auch der durch eine
direkte „existenzielle Erfahrung“ legitimiert sein. – Die nun
folgende Betrachtung mag zunächst sperrig aussehen. Sie wird weiter
unten durch Beispiele verdeutlicht.)
Geschieht so ein Fokus-Wechsel, rückt der frühere Betrachtungspunkt
in das Umfeld des neuen ab und wird gleichsam etwas „unscharf“. Der
vorige Punkt verliert auch seine frühere Schlüssigkeit teilweise,
weil etwa die neue existenzielle Erfahrung (des Betrachters) zu ihm
jetzt nicht mehr so passt. Als Umfeld für den neuen
Betrachtungspunkt muss der alte Punkt wie jedes Umfeld einer
stringenten Darstellung des neuen Fokus dienen. Somit muss es sich
der frühere Betrachtungspunkt und sein Umfeld unter Umständen
gefallen lassen, etwas verzerrt und abgeändert zu werden. Die zuvor
erfolgte existenzielle Erfahrung muss – gegebenenfalls auch stark –
verblassen, damit eine optimale Unterstützung des Verständnisses des
neuen Fokus und seiner existenziellen Erfahrung möglich wird.
Wovon konkret ist hier die Rede?
Ein Modell als Wiedergabe eines Realitäts-Zusammenhangs muss viele
unterschiedliche Aspekte „unter einen Hut bringen“. Je nach
Blickrichtung rückt eine andere Wahrheit in den Vordergrund und
verdrängt zuvor beachtete Wahrheiten. Ist der Umfang der
dargestellten Realität sehr groß, kann es zu erheblichen
Widersprüchen innerhalb der Darlegung kommen. Die wechselnden
Aussagen können leicht als „Wankelmut“ oder „Charakter-Schwäche“
aufgefasst werden, auch wenn sie lediglich die jeweils gültige
Wahrheit zu einer Erfahrung eines Teilaspektes des Ganzen
wiedergeben.
Um diese Gesetzmäßigkeit zu verdeutlichen, sei hier eine kleine
Anekdote eingefügt.
Zum Pastor kommt ein Bauer, der ihn um Rat wegen seiner zänkischen
Frau fragen will. Nachdem er dies und jenes an Beispielen
geschildert hatte, fragt er den Pastor, wer von beiden den nun Recht
habe. Der denkt nach und sagt dann: Na, du hast Recht! Der Bauer
geht zufrieden nach Hause, sagt seiner Frau, was der Pastor ihm
gesagt habe und nun geht diese wutentbrannt zum Pastor, um ihm
vorzuwerfen, wie er sich denn so in Dinge einmischen könne, ohne den
anderen Teil gehört zu haben? Nachdem der Pastor also auch ihr eine
Weile zugehört hat, sagt er schließlich: „Frau, da hast du Recht“
und die Bäuerin geht, nun ihrerseits zufrieden. Aus der Küche kommt
nun des Pastors Frau und sagt, er habe doch nicht erst dem Bauern
und dann seiner Frau Recht geben können, das widerspreche sich doch!
„Da hast du Recht“, entgegnet ihr der Pastor und macht sich zur
Vorbereitung der Sonntagspredigt an die Lektüre jener Bibelstelle,
wonach man dem Kaiser geben soll, was des Kaisers ist.
Ein Vergleich aus dem Bereich der Optik
Im Grunde haben wir es hier mit dem Phänomen der Bilddarstellung
eines Weitwinkel-Objektives zu tun. Dort, wo das Zentrum des
erhaltenen Bildes liegt, dort stimmen die Proportionen. Das Umfeld
des Zentrums ist als Ganzes zu sehen, was dem Modell als Ganzen
entspricht. Rund um das Zentrum beginnt sich das Bild jedoch zu
verzerren und je weiter weg ein Bildteil vom Zentrum liegt, desto
stärker fällt diese Verzerrung aus.
Warum muss das so sein?
Verwendet man ein „normales“ Objektiv anstelle eines
Weitwinkel-Objektives erhält man ein im Großen und Ganzen richtig
proportioniertes Bild. (Im Millimeterbereich und darunter werden
allerdings auch hier Verzerrungen gegen den Bildrand feststellbar
sein.) Das Bild zeigt jedoch von vorne herein einen begrenzten
Ausschnitt. Es wird somit nicht das ganze Modell gezeigt. Um mit
Hilfe einer „normalen“ Brennweite ein Gesamtbild zu erhalten,
müssten mehrere Fotos nebeneinander gemacht und diese anschließend
passgenau zu einem Gesamtpanorama zusammengefügt werden. In der
Fotografie lässt sich das einigermaßen leicht realisieren.
Bei einem Gedanken-Modell, also einer Theorie oder einer Hypothese,
ist das anders. Hier stellt eine von vorne herein fragmentierende
Vorgehensweise eine große Herausforderung dar. Wer koordiniert die
vielen, nebeneinander auftauchenden Teilbilder, also Teilergebnisse
der wissenschaftlichen Arbeit? Wer entscheidet, ob diese
Bildausschnitte in ihrer Größenordnung zueinander passen?
Unterschiedliche Dimensionen ergeben kein homogenes Gesamtbild und
Messungen im Bereich von Lichtjahren sind mit Messungen im
Nanometer-Bereich in der Regel nicht kompatibel, um ein einfaches
Beispiel zu nennen. Wer bestimmt, ob die behandelten Inhalte noch in
irgendeinem Zusammenhang zueinander stehen?
Hier stoßen wir unvermutet wieder auf unser Gesamt-Modell und seine
Aufgabensetzung.
Ist nicht gerade das die Aufgabe eines Modells, einen großen und
groben Überblick des ganzen Wissensgebiets zu bewerkstelligen? Mit
Hilfe des Modells sollen die zuvor angesprochenen Teilaspekte einer
Forschung in ihrer Größenordnung und inhaltlichen Zugehörigkeit
zueinander richtig positioniert und gewichtet werden können.
Dabei muss nun in Kauf genommen werden, dass das Modell im Ganzen in
seiner Wiedergabe nur im jeweils gewählten Fokus scharf, richtig
proportioniert und in den gezeigten Details befriedigend schlüssig
ist. In den vom Fokus abseits liegenden Bereichen muss ein Modell
Abstriche in der Genauigkeit machen. Damit aber ermöglicht es eine
stringente Darstellung des aktuellen Fokus bei gleichzeitiger
Erhaltung des Überblicks.
Ein Beispiel eines Modells aus dem Bereich
der Psychotherapie – Einführung
Die Seele ist nicht nur bei Arthur Schnitzler ein „weites Land“.
Als Sigmund Freud 1892 die Behandlung der 24-jährigen Elisabeth v.
R. (ein von Freud gewähltes Synonym) (1) begann, diagnostizierte er
bald ein hysterisches Leiden, bestehend aus Schwächegefühlen und
Schmerzen in den Beinen. Eine Anregung seines Kollegen Josef Breuer
aufgreifend, konzentrierte er sich bei der Behandlung auf das
Wiedererinnern von Situationen, die mit heftigen und unangenehmen
Affekten verknüpft waren und die die Patientin deshalb „unterdrückt“
hatte, wie diese Pioniere der Psychotherapie-Forschung es
ausdrückten. Eine solche Situation wiederzuerleben und sie in Worte
zu fassen, konnte helfen, Symptome zu mildern oder ganz verschwinden
zu lassen. Den heilenden Ausschlag gab bei diesem Fall der
wiedererinnerte Moment, als Elisabeth v. R. am Totenbett ihrer
Schwester den – allem Anschein nach – tabuisierten Gedanken hatte,
dass der (auch von ihr geliebte) Mann ihrer Schwester nun frei wäre
und ihr Mann werden könnte (Freud 1895, S. 127 f.)(2).
Interessant ist der Abschluss dieses Falles, wie Freud ihn darstellt
(Freud 1895, S. 128 ff).(2)
Er versuchte der Patientin in mehrfacher Weise „Gelegenheit zu
geben, sich der seit langer Zeit aufgespeicherten Erregung durch
`Abreagieren’ zu entledigen“. Auch sprach er mit Elisabeth v. R. und
ihrer Mutter über die augenblickliche Lebenssituation und über die
nächste Zukunft des Mädchens. Einige Zeit später konnte Freud seine
ehemalige Patientin auf einem Hausball „im raschen Tanze
dahinfliegen ... sehen“ und erfuhr, dass sie sich „aus freier
Neigung mit einem Fremden verheiratet (hat).“(3)
Von Fakten zum Modell
Fakten sind jene Punkte, in denen die Baumeister von Modellen für
sich selbst eine existenzielle Grunderfahrung von Realität orten
können. Somit sind Fakten die Grundpfeiler von Gedankenmodellen.
Welche Fakten liegen für dieses Beispiel auf dem Tisch?
Da ist zunächst das an Schwäche und Schmerzen in den Beinen leidende
Fräulein Elisabeth v. R. Ihr affektverstärktes Erinnern von
bestimmten Situationen gehört ebenfalls dazu. Auch die Beobachtung,
dass auf solches Erinnern hin manchmal Symptome abschwächen oder
ganz verschwinden, ist Fakt. Unter anderem gelingt es Fräulein
Elisabeth v. R. einen besonders klaren, aber verborgenen Gedanken
wieder ans Licht zu fördern – auch ein Faktum. Schließlich gibt es
noch jene Gespräche über die momentane Lage der Mutter und der
Tochter und die Ausblicke auf die nächste Zukunft. Auch diese
therapeutische Kommunikation ist Fakt.
Welche Passagen aus der oben erfolgten Darstellung deuten auf das
Vorhandensein eines zugrunde liegenden Modells hin und zeigen auf,
dass Freud nicht im modellfreien Raum agiert?
Einen Hinweis geben die Termini „unterdrückt“ und „verdrängt“.
Unangenehme Affekte und die mit ihnen verbundenen Lebenssituationen
werden deshalb vergessen, weil sie die betreffende Person nicht
aushält. Weil die Gedanken und Affekte nicht sein dürfen, müssen sie
weg. Diese Erklärung klingt schlüssig. Sie ist jedoch kein simples
Fakt mehr, sondern sie ist Schlussfolgerung, die einem
zugrundeliegenden Modell entspringt.
Dass das Erinnern und Artikulieren von affektbehafteten, vergessenen
Situationen zeitlich mit einer Symptombesserung zusammengefallen
ist, ist Faktum – so haben wir festgestellt. Warum das jedoch
gewirkt hat und ob ein „Abreagieren“ der „seit langer Zeit
aufgespeicherten Erregung“ die eigentliche Abhilfe geschafft hat,
ist hingegen Folgerung aus einem Modell. Ob nicht gleichermaßen und
sogar vorrangig Gespräche über die momentane Lebenslage und die
angepeilte Zukunft für Abhilfe gesorgt haben, bleibt dahingestellt.
Aussagen, die letzteres behaupten, gehören ebenfalls zu einem
Modell, vermutlich jedoch zu einem ganz anderen.
An dem psychotherapie-geschichtlichen Fallbeispiel können wir
ersehen, wie Fakten und Modelle zusammenhängen. Der agierende
Psychotherapeut bzw. die forschenden Wissenschaftler stoßen zunächst
auf Tatbestände, die sie wahrnehmen und auf die sie reagieren.
Bereits in der Selektion ihrer Wahrnehmung, aber vor allem in der
Auswahl ihrer Reaktionen werden sie von einem Modell geleitet, wenn
dies auch den betroffenen Personen in der Regel nicht bewusst ist. –
Diese letzte Behauptung wollen wir als Vorgriff in unserer Erklärung
akzeptieren. Unter (unbeachteter) Anleitung eines solchen Modells
lassen sich die gesammelten, zugrunde liegenden Fakten meist leicht
in einen Zusammenhang zueinander stellen. Es zeigt sich hier ein
erkenntnistheoretisch interessantes Zirkel-Geschehen: Die gefundenen
Zusammenhänge erweitern das Modell, während die verdeckte Führung
durch das Modell die Sammlung und Auswahl der Fakten beeinflusst.
Das Modell wächst im Fortgang der Forschung.
Ein Modell ordnet – und schränkt ein
Ab einer gewissen Größe des angesammelten Materials und der
gefundenen bzw. hergestellten Zusammenhänge lässt sich der Drang
nach expliziter Formulierung des Modells nicht mehr unterbinden.
Nunmehr, da Stück für Stück der Einzelerkenntnisse zusammengetragen
sind, braucht es die Ordnungskraft eines Modells, wenn verhindert
werden soll, dass sich die vielen Einzel-Erkenntnisse wie das Laub
eines Mischwaldes im Herbstwind in alle Richtungen zerstreuen.
Mit der Formulierung des Modells begeben sich die gesammelten
Fakt-Erkenntnisse jedoch in ein Korsett, in dem sie die
uneingeschränkte Freiheit ihrer gegenseitigen Verknüpfbarkeit
einbüßen. Verknüpft ein gewisses Modell das eine Fakt mit einem
anderen in einer gewissen Weise und schafft so eine schlüssige – in
diesem Modell schlüssige! – Erklärung, so tut dies ein anderes
Modell vielleicht auf eine andere Art. Die Fakten sind dieselben,
die Erklärungen klaffen unter Umständen erheblich auseinander.
In dem angeführten Fall entscheidet ein Therapeut durch die
Zugehörigkeit zu einer Schule, wie er die Wirkung seiner
Intervention deutet und versteht.
Wer der psychoanalytischen Richtung angehört, verbindet mit der
Wiedererinnerung einer affektbeladenen Situation und mit dem
Abreagieren der aufgespeicherten Erregung die Erklärung einer
zugrunde liegenden allgemeinen Triebstruktur und deutet die
Besserung eines Symptoms als eine Entladung inner-trieblicher
Spannungen, die für ihn die Ursache des Symptoms dargestellt hatten.
Wer hingegen der Personenzentrierten Richtung angehört, erkennt im
Wiedererinnern auch schmerzlicher Situationen ein Erstarken des
Selbst und ein Wirken der „Selbstaktualisierung“ des Patienten und
schreibt das Zurückgehen des Symptoms dieser Stärkung der ganzen
Persönlichkeit zu. Triebstrukturen, einschränkendes Vaterimago und
dergleichen mehr spielen bei dieser Erklärung keine Rolle.
Wer allerdings dem Zweig der Existenzanalyse und Logotherapie
angehört, weiß um die Trotzmacht der geistigen Dimension einer
Person und stellt diese Kraft dem physischen und psychischen
Geschehen gegenüber. Dass aus dieser geistigen Ressource ein
Aufarbeiten von schmerzlichen Situationen möglich ist; dass die
Geschichte des Patienten in ein anderes Licht getaucht werden und
durch eine neue Sinnorientierung auf den weiteren Lebensweg
einwirken kann; dass also Zukunftsaspekte größere Bedeutung haben
können, als Vergangenheitsbewältigung; das alles bietet dieses
Modell für einen Therapieerfolg als Erklärungshintergrund an.
Die Verantwortung eines Modells für die sie
beherbergenden Erkenntnisse
Ein Modell verbindet Erkenntnisse miteinander zu einem Ganzen.
Wenn die Einzel-Erkenntnis noch in direkter Berührung des
Forschenden mit der Realität zustande gekommen ist, so befindet sich
die Schlussfolgerung und damit die Verbindung mehrerer Erkenntnisse
miteinander bereits auf einer Metaebene. Auch dieser Verknüpfung von
„Urerkenntnissen“ liegt ein existenzielles Geschehen zugrunde,
nämlich der Denk- und Verstehensprozess des Forschers. Letztere
„Realität“ ist jedoch in höherem Maße als subjektiv zu bezeichnen,
als es für die „Urerkenntnis“ zugetroffen hat. Sie spielt sich
nämlich ausschließlich im Denken des Forschenden ab. Außerdem kommt
hier der Kommunikations-Prozess zum Tragen, der zwischen mehreren
„Erkennenden“ stattfindet, wenn sie ihre Schlussfolgerungen
miteinander vergleichen.
Bei diesen Schlussfolgerungen, die Stück für Stück das Modell
ergeben, ist somit größte Sorgfalt und Genauigkeit geboten. Baut
doch meist ein Schluss auf einem anderen auf. Stimmt die tragende
Etage nicht, kann die darüber liegende kaum zutreffend sein.
Anderseits hat so ein Gedankengebäude auch Platz für Toleranzen. Ist
der eine oder andere Schluss nicht ganz exakt, können solche
Fehlschlüsse dennoch zwischen korrekten, tragenden Schlüssen
dergestalt eingebaut sein, dass das Gedankengebäude als Ganzes hält.
Auch bei einer Bewertung von Schlüssen muss im Übrigen das Verhalten
von Fokus und Umgebung mit berücksichtigt werden. Wir haben es
bereits beleuchtet. Das ganze Gedanken-Gebäude, das große Modell,
kann nur mit dem „Weitwinkel-Objektiv“ erfasst werden. Da, worauf
der Fokus liegt, sollten die Aussagen präzise und stimmig sein –
vorausgesetzt die zugrunde liegenden „Urerkenntnisse“ halten einer
Überprüfung Stand. Aspekte, die nicht zu diesem Fokus gehören, sind
zwar noch im Blickfeld, stellen sich aber zum Teil (sehr) verzerrt
dar – und zwar solange, bis der Fokus auf sie gesetzt wird. Dann
aber verzerren sich die soeben zuvor betrachteten Punkte.
Wie stark diese Verzerrung der Umgebung eines scharf eingestellten
Fokus ausfällt, hängt von der Qualität des erstellten Modells ab und
somit davon, wie genau und wie weitblickend die verbindenden
Schlüsse gezogen wurden. Je besser in dieser Hinsicht ein Modell da
steht, desto weniger Verzerrung muss an den Rändern in Kauf genommen
werden, obwohl der gleiche Umfang im Bilde bleibt. Je schlechter
aber ein Modell gebaut ist, desto mehr Verzerrung zeigt sich schon
in unmittelbarer Nähe des Fokus und der konkret gemachten Erfahrung.
Beispiele für Fokus und Unschärfe an zwei
Modellen
Wie das in der Praxis aussieht, können wir an zwei Modellen der
Astronomie ersehen.
Das geozentrische Weltbild beherrschte bis in die Renaissance das
Denken des Abendlandes. Man stellte sich die Erde als Mittelpunkt
des Universums vor und ließ Sonne, Mond und Sterne um sie
herumkreisen. Die Hauptmotivation für diese Darstellung ist rasch
ausgemacht. Am Morgen geht die Sonne im Osten auf und am Abend im
Westen unter. Der Mond tut in sich verschiebenden Abständen
dasselbe. Jedes Kind kann somit unschwer eine Skizze von diesem
Geschehen auf ein Blatt Papier malen. Die Sonne ist nun auch der
Fokus, bei dem eine Grunderkenntnis, nämlich ihr Auf- und
Untergehen, deutlich hervorsticht. Das Verhalten des Mondes mit
seiner periodischen Verzögerung des Auf- und Untergehens fällt
bereits etwas in den Bereich der Unschärfe. Ganz verschwommen zeigt
sich dagegen das Verhalten der Sterne. Ihre Bilder gehen nachts zwar
auf, aber sie kreisen um eine Achse am Nachthimmel, bevor sie wieder
verschwinden. Und zu verschiedenen Zeiten des Jahres sind
verschiedene Sternbilder zu sehen – das jedoch in jährlicher
Wiederholung. Die Beobachtung des Sternenverhaltens in diesem Modell
muss unklar bleiben, solange das Verhalten der Sonne als momentaner
Fokus deutlich erkennbar bleiben soll. Legt man jedoch den Fokus auf
die Sternenbahn, dann beginnt das tägliche Auf- und Untergehen der
Sonne und des Mondes zu stören. Die am Himmel um eine Achse
kreisenden Sternenbilder und ihr Wandel im Laufe des Jahres ergeben
eine eigene Ordnung, sobald das Auf- und Untergehen der Sonne keine
Bedeutung mehr zu haben braucht, somit im unscharfen Bereich des
Gesamtbildes liegt. Jetzt zählen nur mehr die Stunden der Nacht, in
denen der Sternenverlauf Nacht für Nacht kontinuierlich betrachtet
werden kann und in sich eine Logik offenbart.
Diese Konzentration auf den nächtlichen Sternenhimmel muss wohl der
Impuls für das Umdenken gefördert haben, das mit dem
heliozentrischen Weltbild seinen Durchbruch feierte. Jetzt kreist
die Erde um die Sonne, dreht sich auch um die eigene Achse und
behält dabei noch den sie umkreisenden Mond im Blickfeld. Die
Betrachtung des Sternenhimmels wird mit einem Schlag einfacher;
nehmen die einzelnen Sterne und Galaxien nun doch fixe Plätze in
einem großen Raum rund um unser kleines Sonnensystem ein. Das
Kreisen der Erde um die Sonne bildet jetzt keine nennenswerte
Unschärfe mehr, wenn das unvorstellbar große System der Sterne
betrachtet wird. Liegt der Fokus jedoch auf der Erdenbahn um die
Sonne und auf der Erdachsendrehung, rutschen Sonne, Mond und Sterne
deshalb ebenfalls nicht in eine nennenswerte Unschärfe des Modells.
Lediglich wenn der Sonnenauf- und Sonnenuntergang fokussiert wird,
treten beim heliozentrischen Weltmodell Unschärfen an den Rändern
auf. Es entspricht das wohl dem leichten Schwindelgefühl, dem man
als Betrachter des Drehens in der Drehung verfallen könnte.
Das Werden eines Modells – Fortführung des
Beispiels aus der Psychotherapie
Sigmund Freud arbeitet mit seiner Patientin, Fräulein Elisabeth v.
R. Dabei bemerkt er, dass das Erinnern an bestimmte Situationen
zunächst nicht gelingen will, dann aber von starken Affekten
begleitet wird. Dieses Erinnern steigert zunächst einzelne Aspekte
der Symptomatik von Elisabeth. Nach dem Aussprechen dieser
Erinnerungen und dem Erkennen bestimmter Zusammenhänge sinkt die
Intensität der Symptome aber oft deutlich ab. Die Heilung stellt
sich jedoch erst dann ein, als die Patientin einen bestimmten
(tabuisierten) Gedanken aufgreift. (4)
Soweit ist es Schilderung von Fakten, die Freud durch Beobachtung
gewonnen hat und belegt.
Nun kommt Freuds Erklärung ins Spiel, worin das Modell aufleuchtet.
Für Freud ist der Fall Elisabeth v. R. ein Beispiel für den Prozess
der Konversion, also jenes Vorgangs, bei dem durch einzelne
körperliche Symptome ein seelischer Schmerz Ausdruck bekommt (5).
Beachten wir, dass die Formulierung und die Definition der
Konversion bereits im Bereich des Modells liegen. Eine Konversion
ist für Freud im Weiteren eine Form von Abwehr. (5) Dabei werden
bestimmte verbotene und unangenehme Vorstellungen verdrängt, also in
ein Nicht-Erinnern abgedrängt und der Affekt, der diesen
Vorstellungen „anhaftet“, wird zur Belebung oder Wiederbelebung von
körperlichen Schmerzen herangezogen. Auch der Begriff der Abwehr ist
keine direkte Realitäts-Erkenntnis, sondern gehört zum Modell. Freud
geht aber weiter und versteht den körperlichen Schmerz als eine
symbolische Darstellung des größeren, dahinterliegenden seelischen
Schmerzes. Die Geh- und Stehbeschwerden der Patientin drücken nach
Freud in körperlich-symbolischer Weise den Schmerz darüber aus, dass
sich Elisabeth als alleinstehende junge Dame erlebte, die sich in
einer für sie verbotenen (und daher bedrohlichen) Weise nach einer
engeren familiären und sexuellen Beziehung gesehnt hatte, ohne in
der Realisierung dieser Verlangen von der Stelle zu kommen. (5) Wir
halten wiederum fest: auch Deutung des Körperschmerzes als Symbol
ist Bestandteil seines Modells.
Was sind nun jene Fakten, die Freud halfen, seine Schlüsse zu
ziehen?
Die Beobachtungen an der Patientin wurden oben bereits erwähnt. Dazu
gesellen sich nun einige allgemeingültige und daher evidente
Wahrheiten. Dass es seelischen Schmerz gibt, gilt als allgemein
anerkannt. Außerdem sind Schmerzen nicht angenehm und werden, wenn
möglich, vermieden. Dass es Verbotenes gibt und dass das stets die
Tendenz hat, sich zu verbergen, ist ebenfalls eine allgemeine
Tatsache. Schließlich kennen wir alle die Fähigkeit des Seelischen,
sich im Körper Ausdruck zu verschaffen. Das im Weinen verzerrte
Gesicht eines Neugeborenen und das Gegenteil, sein herzerwärmendes,
gewinnendes Lächeln sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Dass
allerdings so komplexe Vorgänge wie „Alleinstehen“ und „Nicht-weiter-kommen“
in Körpersymptomen Ausdruck finden, kann nicht mehr so ohne weiteres
als direkt erfahrbare Erkenntnis eingestuft werden.
Die Schlüsse, die Freud für sein Modell zieht, ruhen auf den
Brückenpfeilern der soeben beschriebenen Fakten. Bei den Schlüssen
handelt es sich hier nun nicht um die in der aristotelischen Logik
beschriebenen Ableitungsregeln. Unter „Schluss“ wird hier mehr ein
multidimensionales Verknüpfungsgeschehen verstanden. Es sind somit
nicht nur einfache, lineare Elemente, die miteinander verbunden
werden. Vielmehr schwingen in den „Grunderkenntnissen“ viele
assoziierte „Nebenerkenntnisse“ mit, die aber einzeln nicht
aufgeführt werden.
Was sind solche „Schlüsse“ im geschilderten Fall Elisabeth v. R. ?
(Es sei allerdings beachtet, dass die im Folgenden angeführten
„Schlüsse“ von Sigmund Freud explizit so niemals formuliert wurden.
Sie stellen lediglich Arbeits-Annahmen für diese Betrachtung dar.)
Ein paar Grunderkenntnisse: Manche Erinnerungen fallen, wie
beobachtet, der Patientin schwer, sie wiederzuerlangen. Zudem sind
sie, wenn sie endlich auftauchen, mit starken Affekten verbunden. Es
sind zum einen seelisch schmerzhafte Erinnerungen, die „blockiert“
waren. Schmerzen sind unangenehm und werden, wenn möglich, gemieden.
Daher der Schluss: Mit seelischen Schmerzen behaftete Erinnerung
werden vor einem Bewusstwerden zurückgehalten.
Fortführende Grunderkenntnisse: Zum anderen waren auch
affektbehaftete Gedanken, die um Verbotenes kreisten, für Elisabeth
v. R. schwer erinnerbar. Verbotenes hat die Tendenz, sich zu
verbergen. Solange die Gedanken noch nicht erinnerbar waren, hatte
Elisabeth Schmerzen in den Beinen. Tauchten die Gedanken dann wieder
auf, waren sie von einem starken Affekt begleitet. Nach solchem
Wiedererinnern legten sich bisweilen die Bein-Schmerzen. Daher die
Schlüsse: Auch verbotene, affektbehaftete Gedanken werden vor einem
Bewusstwerden zurückgehalten, da Verbotenes sich gerne versteckt
hält. Der somit „verdrängte“ starke Affekt bereitet Elisabeth v. R.
Schmerzen in den Beinen. Die Wiedererinnerung und das Bearbeiten des
Affekts sind die Gründe für die nachfolgende Linderung der
Schmerzen.
Weitere Grunderkenntnisse: „Alleinstehend sein“ und „Nicht-weiter-kommen“
kann man z.B. in der Kunst der Pantomime in Körperhaltung
darstellen. Fräulein Elisabeth v. R. ist alleinstehend und kommt
nicht weiter. Freuds Schluss lautet daher: bei der Hysterie
geschieht körperliche Darstellung von seelischem Befinden (wie bei
der Kunst der Pantomime). Das Symptom des Körpers zeigt das
seelische Leid.
Die Bedeutung von Gedankenmodellen
Die wenigen, Freud unterstellten, exemplarischen Schlüsse haben
gezeigt, wie sie symbiotisch mit den „Urerkenntnissen“ Schritt um
Schritt ein Gedankenmodell wachsen lassen. Meist geschieht diese
Modell-Werdung unbeabsichtigt und vom Forschenden unbeachtet. Das
Modell leitet das wissenschaftliche Tun an und wird umgekehrt
gleichzeitig dadurch erweitert.
Bei der expliziten Formulierung einer Hypothese oder, wenn diese
ausgereift ist, einer Theorie tritt das Modell offiziell in
Erscheinung. Gegebenenfalls erhält es einen Namen und muss sich
fortan auch unter den kritischen Augen anderer Wissenschaftler
bewähren.
Bleiben wir jedoch zunächst noch bei den Motiven, die ein Modell
entstehen lassen.
Wie wir beim psychotherapeutischen Beispiel der Elisabeth v. R.
gesehen haben, sind die auffindbaren Fakten und die
Modell-Schlussfolgerungen eng miteinander verwoben. Auf den ersten
Blick ist es oft nicht leicht, beides voneinander zu unterscheiden.
Wenn wir uns nun fragen, was von beidem mehr Anziehungskraft
besitzt, würden wir zunächst spontan für die Fakten stimmen. Ein
Faktum ist im allgemeinen nachprüfbar und es steht, unserer
bisherigen Definition zufolge, erlebte Realität dahinter. Stellen
wir uns nun vor, wir würden einem Freund der Reihe nach die
Nummernschilder aller Autos vorlesen, die auf einem Parkplatz einer
Shopping-City stehen. Es wäre das eine eindeutige Wiedergabe von
Fakten. Wir brauchten nicht lange zu warten, bis uns der Freund ins
Wort fallen und etwa sagen würde: „Worauf willst du hinaus? Was
willst du mir mit der Aufzählung der Nummernschilder sagen?“ Er
würde uns solange nicht in Ruhe lassen, bis er von uns einen Grund
unseres Tun, eine Erklärung für unsere Mitteilung, eine Intention
für unsere Aktion erfahren würde. Erklärung und Intention sind
jedoch Aspekte, die Modellen näher stehen als einfachen Fakten. Wenn
wir dem Freund nun erzählen, dass wir eine Studie über das
Kaufverhalten in dieser Stadt durchführen und – in Missachtung
jeglichen Datenschutzes – mittels der Autonummern jetzt feststellen,
wer gerade um diese Zeit im Schopping-Center verweilt, dann hat der
Freund einen Bezugsrahmen für unser Tun und versteht es. Dieser
Rahmen ist aber nichts weiter als eine besondere Art von Modell.
Welche Mitteilung hat nun die größere Anziehungskraft auf den Freund
ausgeübt? Es waren nicht die Fakten. Und später, wenn wir
tatsächlich diese Untersuchung durchgeführt und abgeschlossen haben,
werden wiederum nicht die einzelnen Rohdaten im Mittelpunkt des
Interesses stehen, sondern man wird sich auf unsere Gesamtaussage
konzentrieren und auf die Empfehlungen, die unsere Studie
ausspricht.
Das alles gehört zum Modell und nicht zu den Fakten.
Die Größenordnung von Gedankenmodellen und
ihre Vielfalt
Modelle bauen auf Fakten auf und Modelle werden von denkenden und
forschenden Menschen getragen.
Aus den bisherigen Ausführungen ist bereits deutlich geworden, dass
es nicht nur ein Modell gibt und dass die Bildung eines Modells
zunächst einen subjektiven Akt eines Modell-Autors darstellt. Indem
die forschenden Wissenschaftler oder, allgemeiner ausgedrückt, die
denkenden Menschen miteinander kommunizieren und die gefundenen
Schlüsse aufeinander abstimmen, entsteht ein allgemein anerkanntes
Modell.
Da Gedankenmodelle Grunderkenntnisse miteinander verbinden, ist es
klar, dass es für die verschiedenen Erkenntnis-Bereiche
verschiedenste Modelle geben muss. Einerseits kann ein
Erkenntnisgebiet von mehreren, untereinander konkurrierenden
Modellen abgedeckt sein – etwa in der Wirtschaftswissenschaft –
anderseits gibt es für jeden abgegrenzten Wissensbereich mindestens
ein geeignete Modell – wofür sicherlich jedes, in Universitäten und
Hochschulen gelehrte Fachgebiet ein Beispiel abgibt.
Auch was den Umfang und den Aussage-Wirkbereich von Modellen
anbelangt, gibt es keine Einschränkung. Von der alles umfassenden
Weltanschauung, von Kosmos- und Evolutionstheorien, über
Religionssysteme und Staatphilosophien, bis hin zu kleinsten
Erklärungsmodellen mit einem sehr eingeschränkten Wirkungsbereich
findet sich jede Größenordnung und jede Ausführungsqualität.
Einen Spezial-Fall stellt die Sprache selbst dar. Man würde in ihr
zunächst kein Modell vermuten, aber auch sie erfüllt die Kriterien:
Die Wörter und Begriffe stellen die „Grunderkenntnis“ dar – sie
schaffen also den Bezug zur Realität. Die Verbindung der Begriffe zu
Sätzen, die Herstellung von Bezügen zwischen den einzelnen Worten,
somit die Logik, die in der Sprache Ausdruck findet und in der
Grammatik festgelegt ist, sind die „Schlüsse“ in diesem Modell.
Sprache leitete den Sprechenden mittels fester Regeln an und
entsteht ihrerseits erst durch den Akt des Sprechens.
Der Wahrheitsgehalt eines Modells
Modelle bauen auf Fakten auf und diese werden von Menschen
verifiziert.
In der Regel liegt einem Modell eine Unzahl glaubwürdig erworbener
Fakten zugrunde. Diese durch Menschen existenziell erworbenen
Erfahrungspunkte bieten zunächst die Grundlage für die Möglichkeit
der Wahrhaftigkeit eines Modells.
Allerdings nützen die besten Detail-Erkenntnisse nichts, wenn
zwischen ihnen wahllos irgendwelche sinnwidrigen Zusammenhänge
hergestellt werden oder die Tatsachen in ihrer Kombination
zueinander bewusst und mutwillig verdreht werden. Auch dient es
nicht dem Wahrheitsgehalt eines Modells, wenn korrekt erhaltene
Tatsachen miteinander verbunden werden, die in ihrem Inhalt oder in
ihrer Dimension überhaupt nicht zueinander passen. Wenn die Schlüsse
in einem Modell nichts taugen, machen die zugrundeliegenden korrekt
ermittelten Tatsachen das nicht wett.
Dass es an der Glaubwürdigkeit der zusammengetragenen Tatsachen
liegen kann, wenn es einem Modell an Wahrheitsgehalt mangelt, macht
die andere Seite der Medaille aus. In beiden Fällen muss der
anteilige Umfang der schadhaften Elemente – Tatsachen oder Schlüsse
– darüber entscheiden, ob das Modell repariert werden kann oder ob
es durch ein gänzlich neues ersetzt werden muss.
Der Missbrauch von Modellen
Gegen den bewussten Missbrauch von Modellen zur Erlangung eines
Vorteils oder zur Erhaltung von Macht kann nicht viel unternommen
werden, außer stets kritische Wachheit zu bewahren.
Mit einem trügerischen Modell lässt sich jeder beliebige
Zusammenhang erklären. Eine bewusste Täuschung liegt auch dann vor,
wenn das Phänomen der unscharfen Bereiche abseits eines
Betrachtungspunktes innerhalb eines Modells gänzlich geleugnet wird;
wenn also erklärt wird, das Modell liefere von jedem Fokus aus für
alle seine Aspekte stets korrekte, klare Aussagen.
Die Geschichte ist voll von Geistesströmungen und Lehrmeinungen, die
in ihrer Zeit akzeptiert wurden und mit deren Hilfe die Mächtigen
ihnen opportun erscheinende Verhältnisse aufrecht zu erhalten
versuchten. Dazu gehört als ein Jahrhunderte dauerndes, trauriges
Kapitel der Aberglaube an Hexen und die Verfolgung von Frauen, die
in irgendeiner Weise auffielen oder einfach nur verleumdet wurden.
Ein krankes religiöses Modell machte das möglich. Ein anderer,
Jahrtausende alter juristischer Modell-Fehler mit gravierenden
Auswirkungen bescherte der Menschheit das Übel der Sklaverei und
Ausbeutung unterprivilegierter Gruppen. Formell ist diese
Modell-Schwäche spätestens mit der Menschenrechts-Charta der
Vereinten Nationen ausgemerzt worden. Informell lebt sie allerdings
traurigerweise bis heute fort.
Auch das schon erwähnte geozentrische Weltbild gibt ein Beispiel für
einen Machtmissbrauch mit Hilfe eines Modells ab. In
wissenschaftlicher Unschuld wahrscheinlich bereits vor der Antike
formuliert, half dieses Modell zunächst, das Geschehen um Erde und
Gestirne bruchstückhaft zu verstehen. Als aber seine eingebauten und
gravierenden Unschärfen gegenüber dem – bereits auch seit der Antike
auftauchenden – konkurrierenden heliozentrischen Modell mit aller
Vehemenz verteidigt wurden; als strikt geleugnet wurde, dass das
Modell überhaupt Unschärfen hat, die einer durchgängigen Erklärung
astronomischer Zusammenhänge im Wege stehen; als in
Inquisitions-Prozessen Astronomen, die das Konkurrenz-Modell
vertraten, zum Abschwören oder aber zum Tode verurteilt wurden; als
solches geschah, war der Missbrauch dieses Modells zum Zwecke des
Machterhalts manifest. Interessant ist in diesem Zusammenhang,
welcher Aspekt des geozentrischen Modells für die damals Mächtigen
so wertvoll war. Eine Erde, die absolut den Mittelpunkt des
Universums darstellt, verhilft den auf dieser Erde im Mittelpunkt
stehenden, eben den Mächtigen, zu einer Macht- und Pracht-Korona
ungeahnten Ausmaßes. Dafür nehmen sie gerne in Kauf, dass die
beobachteten Bahnen der Gestirne nur unbefriedigende Erklärung
finden und dass die Orientierungskarten mit Hilfe des nächtlichen
Himmels für die christliche Seefahrt umständlich ausfallen und
untauglich sind. Auch kommt das Beharren auf einem Modell einem
Forschungs-Verbot gleich. Neue Erkenntnisse führen zu neuen
Modellen. Modelle auf einem Gebiet können wiederum Auswirkung auf
Modelle anderer Gebiete haben. Ein neues astronomisches Modell
könnte auf ein bestehendes, vorherrschendes staatstheoretisches oder
theologisches Modell abfärben und es untergraben. Macht aber
fürchtet offenbar nichts mehr als Veränderung.
Modelle und Weltanschauung
Weltanschauliche Modelle – eine besondere
Art
Tatsachen sind die Grundlage von Modellen. Die Erkenntnisse über die
Fakten bilden die Brückenpfeiler der Modell-Schlüsse. Durch
existenzielle Erfahrung des Modell-Autors sind diese
Grunderkenntnisse als Realität abgesichert.
Im naturwissenschaftlichen Bereich bilden die üblichen Messungen und
Beobachtungen diese „existenziellen Erfahrungen“ und sind allgemein
approbiert. Anders verhält es sich bei weltanschaulichen Themen. Die
geforderte existenzielle Erfahrung liegt augenscheinlich im
subjektiven Bereich des Forschenden respektive Denkenden. Zwar
unterscheidet sie sich darin nicht von der naturwissenschaftlichen
Erfahrung, etwa einer Messung, nur dass bei letzterer die
Kommunikation der Wissenschaftler über die allseits gemachte
Erfahrung – diese Messung – trotz subjektiver Wahrnehmung zumeist
keinem Zweifel über ihre Realität unterliegt.
Bei weltanschaulichen Fragen verhält es sich, wie gesagt, anders.
Ein weltanschauliches Modell baut auf subjektiven Erfahrungen auf
und besteht aus subjektiven Schlüssen. Die Kommunikation über beide
Elemente ist im Idealfall durch behutsame Annäherung der Diskutanten
geprägt. Dabei werden zunächst die einzelnen Aspekte des jeweiligen
Gedankengebäudes auf mögliche Übereinstimmungen abgehorcht. Um
solche zu erzielen, müssen meist bereits beiderseits anerkannte
Hilfsmodelle herangezogen werden. Der ganze Prozess nennt sich
Begriffsabklärung und Standort-Bestimmung und an seinem Ende steht –
im günstigsten Falle – ein Kommunique mit der Aufzählung gefundener
Übereinstimmungen und verbleibender Differenzen.
Die Auseinandersetzung mit einem weltanschaulichen Modell erweist
sich in jedem Fall als aufwändiger und persönlich fordernder als die
Beschäftigung mit einem anderen, etwa materie-bezogenem Modell.
Unter die Kategorie „weltanschaulich“ kann dabei vieles fallen.
Hierher gehören große philosophische System ebenso, wie kleine
lebensphilosophische Aphorismen. Hier bestehen religiöse Lehren
neben naturwissenschaftlichen Weltentstehungs-Theorien. Hier reihen
sich ethische Grundsätze und gesellschaftstheoretische Lehrmeinungen
neben psychotherapeutischen Schulen ein. Weder die regionale
Herkunft des Modells noch seine Größe oder sein Alter spielen eine
Rolle für die Anerkennung des Attributs „weltanschaulich“.
Auch die jeweilige Ausprägung von weltanschaulichen Modellen kann
mannigfaltig ausfallen. Von der philosophischen Abhandlung, vom
juristischen Grundsatzwerk einer Verfassung, über Heilsschriften und
Offenbarungs-Botschaften, bis hin zu Sagen, Mythen, Legenden und
Volksweisheiten spannt sich ein weiter Bogen möglicher
Manifestationen. Auch beherbergt die Kunst, vor allem die Literatur,
viele Formen solcher Modelle. Ein Roman kann ein weltanschauliches
Modell ebenso abgeben, wie eine Science Fiction Vision.
Das Besondere dieser Kategorie von Modellen ist ihre
Anziehungskraft. Wer sich auf ein weltanschauliches Modell einlässt,
kommt nicht umhin, die eigenen, ganz persönlichen Anschauungen mit
ins Spiel zu bringen. Damit aber kommt der Mensch mit seinen
ureigenen existenziellen Fragen in Berührung und nimmt – bewusst
oder unbewusst – zu ihnen Stellung.
Eine besondere Ausprägung in einem
Gedankenmodell – die Arbeitshypothese
Weltanschauliche Modelle bevorzugen in besonderem Maße eine
Modell-Ausprägung – die Arbeitshypothese. Bei diesem Charakterzug
eines Modells tauchen anstelle von – durch Erfahrung – abgesicherten
Erkenntnissen subjektiv gesetzte Annahmen auf. Als provisorische
Platzhalter der jetzt nicht – und vielleicht auch in Zukunft nie –
verfügbaren Grunderkenntnisse geben sie die Möglichkeit, dennoch
jetzt bereits Schlussfolgerungen zu formulieren und ein Modell zu
bauen. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Schlüssen. Die Aussagen des
Modells schweben im Bewusstsein ihrer schwachen Realitäts-Fundierung
im freien Raum und hoffen darauf, ihrerseits evident zu erscheinen
und direkt anerkannt zu werden.
Meist sind die gesetzten Annahmen von so grundsätzlicher Natur, dass
damit gerechnet werden kann, genügend viele Menschen zu finden, die
solche vorausgesetzte Grunderkenntnisse bereits gewonnen haben. Oder
aber es wird damit spekuliert, dass die Menschen das Vorhandensein
solcher Grunderkenntnisse ungeprüft glauben und die Annahmen ohne
eigene Erfahrung als real akzeptieren.
Naturgemäß haben seit alters her die Religionen und die
Volksweisheiten mit solchen Mitteln ihre Modelle gebaut. In Mythen
und Legenden, in Epen und Heldensagen, in Märchen, Parabeln und
Gleichnissen finden sich gleichmäßig verteilt die großen und die
kleinen „Wahrheiten“, die übermittelt werden sollen. Diese Modelle
„wissen“, dass, wenn es ihnen gelingt, die Wahrheiten selbst als
evidente Realität erscheinen zu lassen, sie sich um die zugrunde
liegenden Erkenntnisse und ihren Realitätsbezug keine Sorgen zu
machen brauchen.
Modell-Themen und ein Beispiel
Was sind nun die Themen, die in solchen weltanschaulichen Modellen
Behandlung finden?
Wie bereits erwähnt, sprechen die Fragen den Menschen in der Regel
im existenziellen Kern an. Damit berühren sie die Menschen direkt.
Woher kommt die Welt? Wie ist sie entstanden? Wohin geht alles Sein?
Gibt es einen Plan? Gibt es ein Ziel, auf das alles hinausläuft?
Was ist der Mensch? Wieweit reicht seine Macht? Wo sind seine
Grenzen? Was soll der Mensch erreichen? Was hat es mit
Unsterblichkeit auf sich? Was ist Leid, Schuld, Tod? Gibt es
Freiheit? Gibt es Bestimmung? Erfährt der Mensch Schutz und Hilfe
auf seinem Lebensweg? Gibt es Glück? Hat das Leben einen Sinn?
Wählen wir als einfach zu analysierendes Beispiel den
Schöpfungsbericht der Bibel (Buch Genesis).
Dass es die Erde und alles auf ihr gibt, ist evidente Erkenntnis.
Dass diese Erde irgendwie nachvollziehbar zustande gekommen sein
muss, ist eine gesetzte Annahme, der man jedoch große allgemeine
Akzeptanz zutraut. Zwischen diesen beiden „Grunderkenntnissen“
spannt nun der biblische „Schöpfungsbericht“ seine
Schlussfolgerungen, die da lauten: es gibt eine übergeordnete Kraft,
nämlich Gott, und der hat die Erschaffung und die Ausgestaltung der
Erde und aller Dinge auf ihr in sechs „Schöpfungstagen“
bewerkstelligt.
Es wird nicht nur ein Dass der Erschaffung konstatiert, sondern es
wird auch das Wie dieses Vorgangs zu erklären versucht und in
Nebenschlüssen – das sind die Erzählungen der Schöpfungstage – wird
sogar beleuchtet, warum die Ausgestaltung der Schöpfung so ausfallen
ist, wie sie vorgefunden wird.
Welchen Aspekt dieses weltanschaulichen, religiösen Modells sich ein
Betrachter herausgreift, bleibt ihm überlassen. Abgesehen von der
Existenz-Aussage über Gott und der grundsätzlichen
Schöpfungs-Aussage durch ihn bleibt uns heute kein Aspekt mehr
übrig, der diesem Modell sonst noch entnommen werden könnte. Es
gehört zu den Anachronismen, wenn Sekten und Fundamentalisten
dennoch diesen Schöpfungsbericht auch heute noch wörtlich auszulegen
versuchen und darüber Streitgespräche führen. Dass sich auch die
amerikanische Schule der Kreationisten mit den Anhängern der
Darwinistischen Lehre über die grundsätzliche Frage eines
Schöpfungs-Aktes als solchen in die Haare geraten, zeigt, welch
brisante Fragen dieses Modell behandelt. Aber auch dieser Streit
sollte als Anachronismus gewertet werden – nicht unbedingt allein
der Position der Kreationisten wegen.
Darstellung von Gedankenmodellen in
Kurzfassungen
Modelle müssen nicht immer in breiter Ausführung vorgelegt werden.
Gerade bei weltanschaulichen Themen gibt es oftmals eine knappe
Kurzfassung, die der Literaturgattung Lyrik nahe steht. Es sind dies
Weisheitssprüche und Aphorismen.
Anthony de Mello hat eine reiche Sammlung an Weisheitsgeschichten
zusammengetragen. Einige davon sollen nun zeigen, wie eine
Kurzfassung von Weltanschauungs-Modellen aussehen kann.
--
Einem Schüler, der sich derartig um Erleuchtung bemühte, dass er
körperlich hinfällig wurde, sagte der Meister: „Ein Lichtstrahl kann
ergriffen werden – aber nicht mit deinen Händen. Erleuchtung kann
erreicht werden – aber nicht durch deine Anstrengung.“
Der erstaunte Schüler sagte: „Aber rietet Ihr mir nicht, ich sollte
streben, leer zu werden? Das versuche ich doch.“
„Du bist also jetzt voller Anstrengung, leer zu sein!“ sagte der
Meister lachend. (6)
Die Weltanschauung hinter diesem Spruch kennt nicht nur eine
materielle, irdische Dimension und ist auch nicht auf lineares
Geschehen begrenzt. Einen möglichen Wirkzusammenhang beschränkt das
offenbar zugrunde liegende Modell nicht bloß auf simple Kausalketten
von Ursache und Wirkung. Es scheint sich vielmehr um ein komplexes,
multidimensionales Weltbild zu handeln, das hier hervorleuchtet.
Wird eine Aktion auch genau berechnet und zielt sie direkt auf ein
Ziel ab, kann die Erreichung dieses Zieles dennoch ausbleiben, da
die eigentliche zielerreichende Handlung nicht verstanden und daher
auch nicht gesetzt wird.
Übrigens: Das genaue Aussehen des Modells lässt sich aus der
Kurzversion naturgemäß nicht rekonstruieren. Lediglich die im Fokus
liegende Kernaussage zeigt sich.
--
Ein alter Mann konnte stundenlang still in der Kirche sitzen. Eines
Tages fragte ihn ein Priester, worüber Gott mit ihm spräche. „Gott
spricht nicht. Er hört nur zu“, war die Antwort. „Was redest du dann
mit ihm?“ „Ich spreche auch nicht. Ich höre nur zu.“(7)
Wenn es ein Modell schaffen sollte, den Dualismus von Subjekt und
Objekt und von Rede und Gegenrede zu überwinden; wenn so ein Modell
die Einheit in der Getrenntheit darstellen sollte; wenn gezeigt
werden sollte, wie Übereinstimmung trotz Widerspruch möglich sein
kann, dann müsste es das hinter dieser Geschichte stehende Modell
sein.
--
Ein Schriftsteller kam ins Kloster, um ein Buch über den Meister zu
schreiben. „Die Leute sagen, Ihr seid ein Genie. Stimmt das?“ fragte
er.
„Das könnte man wohl sagen“, antwortete der Meister nicht gerade
bescheiden.
„Und was macht einen zum Genie?“ „Die Fähigkeit zu erkennen.“ „Was
erkennen?“
„Den Schmetterling in einer Raupe, den Adler in einem Ei, den
Heiligen in einem selbstsüchtigen Menschenwesen.“(8)
Es gibt eine Psychotherapie-Schule, die Logotherapie und
Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl, von der noch die Rede sein
wird. Sie legt großes Augenmerk nicht sosehr auf das Faktische, also
das bereits Gegebene, als vielmehr auf das Fakultative – das
Mögliche, das sich entwickeln Könnende. Ein ähnliches Modell kann
hinter dieser Weisheitsgeschichte vermutet werden.
Die Beschäftigung mit Kurzfassungen von Modellen wirft ein
erhellendes Licht auf einen interessanten literarischen und
sprachlichen Aspekt. Warum schaffen es wenige, knappe Worte, uns
große Zusammenhänge nahe zu bringen und ein tiefes Verständnis in
uns zu erwecken?
Die Antwort könnte in dem Umstand liegen, dass die wenigen Worte –
auch bei Lyrik trifft das zu – mit ihrer enthaltenen Kernaussage
einen Blick auf das darunter liegende, große Gedankenmodell
freigeben. Durch die unausgesprochene Akzeptanz dieses erratenen,
zugrunde liegenden Modells wird das tiefe Verständnis ausgelöst.
Die Gier nach Erklärungen
Die Auseinandersetzung mit Gedankenmodellen wirft nun die Frage auf,
warum sich in allen Bereichen so mühelos Modelle ausmachen lassen.
Es scheint als sei unser ganzes Denken in Modellen strukturiert.
Schon die alte „Schöpfungsgeschichte“ der Bibel hat den unstillbaren
Durst nach Erklärungen aufgezeigt. Das menschliche Denken „giert“
nach Bildung von Kausal-Zusammenhängen. Kein offener Spalt, keine
Erkenntnislücke darf übrig bleiben, die nicht mit einer passenden
Erklärung überbrückt wird.
Dabei ist es schlechtesten Falls nebensächlich, von welcher
Wahrheits-Qualität das Erklärungs-Moment ist. Notfalls wird die
bestpassendste Antwort genommen. Besser irgend eine Deutung als gar
keine, scheint das Motto zu lauten. Man kennt dieses Phänomen auch
auf juristischem Gebiet. Bei einer über ein Verbrechen aufgebrachten
Menschenmenge wird schnell der Ruf nach Bestrafung laut. Ein
Schuldiger muss her! Ist der Fall noch nicht eindeutig geklärt, wird
der am meisten Verdächtige genommen. Lynchjustiz funktioniert nach
diesem Muster.
Woher kommt der starke Wunsch nach Erklärungen?
Könnte es damit zusammenhängen, dass unser ganzes Leben mit seinem
Wollen, Planen, Handeln, mit seinen Einstellungen und seiner
Grundhaltung – im Ganzen ein Modell darstellt?
Modell, menschlicher Lebensweg und Psychotherapie
Erweiterung des Modell-Begriffs auf die
menschliche Existenz
Lässt sich der Begriff des Gedankenmodells auch auf den Menschen
selbst, sein Leben, sein Sein ausdehnen?
Führen wir uns zunächst die Hauptmerkmale unseres (impliziten)
Modell-Begriffs nochmals vor Augen.
Zunächst braucht es eine existenzielle Realitäts-Erfahrung. In einem
subjektiven Vorgang werden sodann die „erfahrenen“ Realitäts-Bezüge
in Schlüssen miteinander verbunden. In immer neuen, zirkulären
Erfahrungs- und Erschließungs-Prozessen und in kommunikativer
Abstimmung von „Mitdenkenden“ und „Miterfahrenden“ entsteht
letztendlich ein komplexes Ganzes – das Gedankenmodell.
Beim ersten Element, den existenziellen Realitäts-Erfahrungen,
bleibt das menschliche Leben den Nachweis keinen Moment lang
schuldig. Das Leben besteht vielmehr Stunde um Stunde und Minute um
Minute aus einer endlos langen Kette von aneinandergereihten und
einander abwechselnden Konfrontationen mit der Realität.
Was das zweite Element betrifft, die Schlussfolgerungen, so sind
dies, auf das Menschenleben umgelegt, nicht nur Gedanken, sondern es
gehört auch das Wollen dazu, das Planen, die Haltungen und die
Einstellung. Die Schlüsse sind hier, mit einem Wort gesagt, die „Ent-schlüsse“.
Grundgelegt wird das Modell eines Menschenlebens biologisch aus
ererbten Faktoren, psychologisch müssen mitgebrachte Charakterzüge
dazugezählt werden und sozilogisch prägt der Umgang der ersten
Bezugspersonen, der Eltern, wohl am meisten. Sollte jetzt aber das
Bild entstehen, das Modell einer menschlichen Existenz ist rein
schicksalhaft gegeben und wird ausschließlich von äußeren Faktoren
bestimmt, dann wäre ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Aspekt
außer Acht gelassen worden. Zwar nicht vom ersten Moment an, aber
sehr bald in seiner Entwicklung trifft der Mensch nämlich
Entscheidungen – zunächst kleine, später dann größere und
schließlich weitreichende. In Freiheit wählt schon das Kleinkind das
eine Spielzeug und lässt das andere liegen. Es interessiert sich für
die eine Rutsche und das eine Klettergerät am Spielplatz und
verschmäht die Schaukel. Die Situationen werden mit zunehmendem
Alter komplexer, die Entscheidungen schwieriger. Mit all dem wächst
auch das Modell des Lebens. Der Mensch gestaltet es in dem gleichen
Maße, in dem es ihn in seinen Entscheidungen leitet und lenkt. Auch
hier wirkt also das evolutionäre Zirkelgeschehen wie bei jedem
Gedankenmodell – nur dass hier die Schlüsse, über Gedanken
hinausgehend, auch Lebensent-schlüsse sind.
In welchem Ausmaß bestimmt nun das Lebens-Modell die Existenz des
Menschen? Übernimmt es die Rolle des unsichtbaren Schicksals? Legt
es dem Menschen Schienen, auf denen er seinen Weg zurückzulegen hat,
ob es ihm gefällt oder nicht? Oder hat der Mensch Freiheit, trotz
seines Lebens-Modells zu handeln und zu entscheiden, wie er will?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits entscheidet
der Mensch von Moment zu Moment, was er tut, was er sagt, wie er
denkt und anderseits leiten ihn dabei die Grundsätze seines
Lebens-Modells. Wo beginnt die freie Entscheidung und wo endet die
Führung durch das Prinzip? Oder anders gefragt: Wann hört der
Eigenanteil am Bau des Lebens-Modells auf und es beginnt stattdessen
die Steuerung der Handelns durch die Leitsätze des nun gefestigten
Modells? Ist das Lebens-Modell je fertig oder ändert es sich stets?
Oder ändern sich nur gewisse Bereiche darin und andere bleiben
konstant – ein Leben lang?
Grundsätze können geändert werden und Leitlinien verlassen – und
neue können eingerichtet werden. Aber wie oft geschieht das? Ist das
Lebens-Modell eher konstant und starr oder ist es im Fluss und passt
sich ständig an? Welche Aufgabe hat es dann?
Die Fragen bleiben offen, das Leben dadurch spannend – und das
Modell bleibt interessant!
„Erkenne dich selbst!“
Vielleicht erhält der alte Delphische Spruch vor dem Hintergrund des
Lebens-Modells eine neue Bedeutung.
Was ist gemeint mit der Erkenntnis seiner selbst?
Das Modell des Lebens trägt einen eigenartigen Widerspruch in sich.
Zwar leitet es den Menschen bei seinen Entschlüssen an und gibt ihm
für sein Denken und Handeln Orientierung, aber gleichzeitig bleibt
es ihm fremd und verborgen. Dieses Paradoxon verliert sein
Geheimnis, wenn man in die Betrachtung das alte, geflügelte Wort mit
hereinnimmt: „Den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen“. Aus der
Innenansicht ist es in der Tat nicht leicht, einen Überblick zu
erhalten. Und da es keinesfalls ratsam ist, das Leben „von außen
her“ zu leben, was unweigerlich zu übertriebener Selbstbeobachtung
und zu Zwanghaftigkeit führen würde und was somit einem „Nicht-leben“
gleichkäme, ist es nur natürlich, dass wir über den Entwurf im
Ganzen keine Übersicht haben.
Genau hier scheint der Delphische Rat anzusetzen. Wir können ihn so
deuten, dass er uns empfiehlt, das Modell des eigenen Leben in
seinem Vollzug Stück für Stück zunächst einmal zu bemerken und die
Grundsätze und Leitlinien dieses Modells von innen her so nach und
nach zu verstehen. Dies versetzt uns dann in die Lage, Aspekte
dieses Modells entweder gutzuheißen und sie zu behalten oder sie
gegen andere auszutauschen, wenn sie sich nicht oder nur schlecht
bewähren.
Anthony de Mello hat auch zu diesen Themen passende
Weisheitsgeschichten anzubieten.
„Wie soll ich der Welt helfen?“
„Indem du sie verstehst“, sagte der Meister.
„Und wie soll ich sie verstehen?“
„Indem du dich von ihr abwendest.“
„Wie soll ich dann der Menschheit dienen?“
„Indem du dich selbst verstehst.“ (9)
Des Meisters gesprächige Stimmung ermunterte Seine Schüler zu der
Frage: „Sagt uns, was habt Ihr durch Erleuchtung gewonnen? Wurdet
Ihr göttlich?
„Nein.“
„Wurdet Ihr ein Heiliger?“
„Nein.“
„Was wurdet Ihr also?“
„Wach.“ (10)
Selbsterfahrung und
Selbstaktualisierungstendenz
Auf Selbsterfahrung wird nach dem österreichischen
Psychotherapie-Gesetz 1990 bei der Ausbildung sehr viel Wert gelegt.
Namentlich in der Schule Klienten-/Personenzentrierte Psychotherapie
nach Carl Rogers ist Selbsterfahrung ein Kernstück der
Berufsvorbereitung.
Der Terminus Selbsterfahrung könnte einen zunächst auf den Gedanken
bringen, es handle sich dabei um ein Kreisen um sich selbst, um eine
Fokussierung auf das Ich, um eine egozentrische Nabelbeschau also.
Als solches wäre Selbsterfahrung in der Tat mit Misstrauen zu
betrachten. Sie würde das gesunde Gleichgewicht der Wahrnehmung
stören, die normalerweise zwischen Innensicht und Außenwelt
ausgewogen hin- und herpendelt. So eine Selbst-Fokussierung würde
das Zugehen auf ein Du behindern oder unmöglich machen und stellte
eine Art von Narzissmus dar.
Ist mit Selbsterfahrung solch ein Tun gemeint oder birgt der Begriff
eine andere Intention?
Vielleicht kann das Modell der menschlichen Existenz hier
weiterhelfen.
Wir haben gesehen, dass ein Lebensmodell die Summe der
Realitäts-Erfahrungen mitsamt den Schlussfolgerungen daraus und den
Ent-schlüssen, Haltungen und Einstellungen darstellt und dass es uns
in unserem Lebensvollzug leitet und uns Orientierung gibt.
Nun arbeiten hier nicht nur einige wenige Gedanken, Ent-schlüsse und
Willens-Impulse zusammen, sondern das Ganze ist ein sehr großes,
komplexes Gebilde feinst gegliederter und verästelter Strebungen,
eine tiefreichende Hierarchie bewusster und unbewusster bzw.
automatisiert ablaufender Impulse. Gemeinhin fassen wir dieses
psychische Geschehen unter den Begriffen Gewohnheiten, Verhalten,
Stimmungen und Gefühle zusammen, aber auch Planung, Wille und
Entscheidung gehören zu dieser Begriffswelt.
Das ganze Modell arbeitet, wenn wir agieren, genauso, wie wenn wir
re-agieren. Besonders in der Interaktion mit unserer Umwelt kommen
viele seiner Aspekte zum Tragen.
Aus diesem Gesichtspunkt können wir Selbsterfahrung als eine
Labor-Situation betrachten, in der das Modell des Lebens in allen
möglichen Lagen ausprobiert werden kann. Der Therapeut oder, im
Falle einer Therapie-Gruppe, die Gruppenmitglieder bereiten mit
ihrer Grundhaltung der bedingungsfreien Wertschätzung eine
förderliche Arbeitsatmosphäre, mit Empathie, d.i. Einfühlung,
ermöglichen sie das Aufeinander-Zugehen und mit Kongruenz, also mit
Aufrichtigkeit zu sich selbst und mit Echtheit, gewährleisten sie,
dass Abgrenzung und Konfrontation möglich bleibt.
Unter diesen Voraussetzungen kann der „Leben erprobende“ Klient
einige der Aspekte seines Modells genauer kennen lernen; kann sein
Tun, sein Reagieren und Agieren testend versuchen, kann es abwandeln
oder es beibehalten und ist dabei stets im Dialog mit den anderen,
von denen er erfährt, was er da tut und wie das bei ihnen ankommt.
Dass das ein heikler Prozess ist, der mit Sorgfalt begleitet und von
Fürsorge geprägt sein muss, scheint klar zu sein. Natürlich ist
diese „Labor-Situation“ nicht aus den Lebensbezügen herausgenommen.
Vielmehr ist dieses „Erproben von Leben“ das Leben selber. Somit
gehört auch die Arbeit in der Therapie- oder der
Gruppen-Selbsterfahrung direkt zum Leben dazu. Wodurch also gilt:
Auch die Lebenserprobung ist ein Aspekt des Lebensmodells – das
Leben wird nicht nur gelebt, der Lebensvollzug kann auch „erkannt“
werden.
Wir haben es somit offenbar mit einer anderen Form von „erkenne dich
selbst“ zu tun.
Interessant wäre es auch, der Frage nachzugehen, ob das andere große
Merkmal der Schule der Personenzentrierten Psychotherapie ebenfalls
mit dem existenziellen Lebens-Modell in Zusammenhang zu bringen ist:
das Konzept der Selbstaktualisierung.
Dieses Prinzip besagt im Kern, dass der Mensch von sich ein
Selbstkonzept hat. Es sind dies die Annahmen, die eine Person über
seine Eigenschaften und Fähigkeiten hat und wie sie diese bewertet.
Die Selbstaktualisierungstendenz, die dem Menschen grundsätzlich zu
eigen ist, führt nun die erlebten Person-Erfahrungen an die im
Innern getragenen, eigenen Annahmen heran und bringt so die
Entwicklung und die Veränderung des Selbst voran. (11)
Eine andere Psychotherapie-Schule als
Beispiel für ein Gedankenmodell
Eine andere Psychotherapie-Schule gibt ein gutes Beispiel für ein
knapp und klar formuliertes Modell ab und enthält ihrerseits einen
Ansatz, der die Gedanken über ein Lebens-Modell stützt, sie sogar
erweitert.
Es handelt sich um die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor
Emil Frankl. W. Soucek bezeichnete diese Richtung als die „Dritte
Wiener Schule der Psychotherapie“ und Giambattista Torello
behauptete einmal, sie sei das letzte vollständige System in der
Geschichte der Psychotherapie (12). Das Gedankengut ihres Gründers
Viktor E. Frankl umfasst im Verhältnis zum Gehalt verhältnismäßig
wenige Aussagen. Die Realitäts-Erfahrungen, auf denen diese Schlüsse
ruhen, sind zudem von tiefer existenzieller Ausrichtung und fordern
den Betrachter somit zu intensiver, subjektiver Stellungnahme
heraus. Damit wird das Konzept dieser Schule zu einem
Parade-Beispiel eines weltanschaulichen Modells.
Was sind nun die wichtigsten Aspekte darin?
Menschliche Existenz wird zunächst in ihrem Sein mehrdimensional
verstanden. Obwohl der Mensch eine Einheit ist, lassen sich dennoch
die physische, also körperliche, die psychische und schließlich die
geistige Dimension in seinem Sein ausmachen. Das Verhältnis dieser
Dimensionen zueinander ist als eine nicht lineare, nicht räumlich
und zeitlich zu denkende Verschmelzung zu verstehen, die ein
gegenseitig aufeinander Einwirken einschließt. Nach diesem
„schwierigen“ Teil Frankl´schen Denkens folgen vergleichsweise
einfache Gedankengänge. In der Freiheit seiner Existenz im Hier und
Jetzt kann und soll ein Mensch versuchen, sinnvoll zu handeln und
damit Sinn in der Welt zu verwirklichen. Hierbei fordern den
Menschen für ihn einmalige Situationen heraus, denen er in seine
eigenen Einzigartigkeit begegnet. Die Sinn-Momente entstehen nicht
im Innern des Menschen und werden auch nicht von ihm erfunden,
sondern sie treten von außen an ihn heran und fordern ihn heraus. So
bleibt der Mensch stets auf das Überschreiten seiner eigenen
Grenzen, also auf eine Transzendenz hin, ausgerichtet. Die
Möglichkeiten, die die Zukunft ihm bietet, bringt der Mensch in
freien Wahl des existenziellen Jetzt zur Verwirklichung und schafft
damit, wenn auch vergangene, so doch: Realität.
Bei all diesem Tun leitet den Menschen, der an der Schwelle der
Weltimmanenz steht – dort wo diese zur Transzendenz überführt – ein
unbekannter Übersinn. Dieser wurzelt in der Transzendenz, welche dem
Menschen ebenfalls unbekannt bleibt.
Wenn wir das existenzielle Modell des menschlichen Lebens, von dem
bisher die Rede war, um die transzendentale Dimension erweitern;
wenn wir die Grundeinstellung und die resultierende Haltung, die dem
Modell eigen sind, aus der Weltimmanenz in die Transzendenz „hinaufheben“,
dann können wir dieses Lebens-Modell direkt mit dem Frankl´schen
Gedanken des Übersinns in Zusammenhang bringen. Für das Erfassen
dieses Übersinns aber und für das Verstehen des existenziellen
Lebensmodells gilt dann wohl gleichermaßen, dass der Versuch,
Verständnis zu erlangen, zwar erlaubt und legitim ist, dass die
Erlangung von einigem, geschweige denn aber von vollem Verständnis
jedoch letztlich unmöglich bleiben wird.
„Erkenne dich selbst“ somit auch hier.
Abschließende Überlegungen
Relativität der Erkenntnis und Versuch
einer Modell-Definition
Erkenntnis ist subjektiv. Vom Objekt her auf das Subjekt hin
relativ.
Wenn zwei oder mehrere Subjekte untereinander über ihre Erkenntnisse
kommunizieren, werden aus den subjektiven Erkenntnissen
objektivierte. Als jeweilige Erkenntnisse sind sie immer noch
subjektiv, relativiert auf das Subjekt, das sie hat. Aber als
miteinander verglichene, erhalten diese Subjekt-Erkenntnisse einen
objektiven Status. Freilich läuft diese Kommunikation der Subjekte
völlig unbemerkt ab. Wir setzen schlichtweg voraus, dass die von uns
wahrgenommenen Objekte von den Mitmenschen ebenfalls und
gleichgestaltig gesehen werden und meist liegen wir damit richtig.
Und ist dem einmal nicht so, sind wir „verblüfft“ und fallen aus
allen Wolken.
Des Weiteren bemerken wir zumeist nicht, dass wir in Modellen denken
und bei unserer Wahrnehmung von Modellen angeleitet sind. Diese
Komplexe voll vorgeformter Schlussfolgerungen, die unsere primären
Berührungspunkte mit Realität, die „Urerkenntnisse“, untereinander
verbinden, fallen uns gar nicht mehr auf – so sehr sind sie in
unserer Wahrnehmung mit der Realität selbst verschmolzen.
Versuchen wir nun eine prozedurale Definition von Gedankenmodell zu
finden:
Erkenntnis, diese subjektive Berührung mit der Realität, und auf ihr
aufbauend eine oder mehrere Schluss-Folgerungen, abgestimmt mit
anderen Erkenntnis-Trägern, stellt das Fundament dar, auf dem sich
weitere (subjektive) Erkenntnisse durch (objektivierende)
Schluss-Folgerungen verbinden lassen. So wächst ein Modell. Hat das
Gedankenmodell einmal einen gewissen Umfang angenommen und lässt
sich sein „Charakter“ bereits erkennen, bestimmt es seinen eigenen
Aufbau ab sofort durch (unbemerkte) Anleitung der nachfolgenden
Gedanken und durch prägende Führung bei der Erstellung der weiteren
Schluss-Folgerungen selbst mit.
Modelle sind nicht selbst Objekte der Realität. Sie sind lediglich
„Bewusstwerdungs-Prozesse“ über Realität.
Modelle sind nicht die Gegenstände, die wir sehen; sie sind auch
nicht die Augen, mit denen wir sehen; sie sind am ehesten die
Brillen, durch die hindurch wir Reales sehen. (In diesem hinkenden
Vergleich sind Brillen allerdings ein Muss und keine Option.)
Gedankenmodell – einige Fragen und
Antworten
Gedankenmodelle führen uns Realität vor Augen und können komplex
sein. Wie oft sind sie auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen?
Modelle haben unter anderem die Aufgabe, für Ordnung und Kontinuität
zu sorgen. Daher sind ihre Schlüsse in der Regel auf längerfristigen
Bestand hin ausgelegt. Da sich sowohl Erkenntnisse aus der Realität,
als auch Bedingungen innerhalb der Realität mit der Zeit ändern
können, müssen auch Modelle in angemessenen Abständen angepasst
werden. Dafür gibt es einige Namen: Revision, Review, Reform,
Renovierung, Besinnung, Exerzitien, Einkehrtag, Parteitag,
Regierungsklausur, ...
Hat es Sinn, ein bestehendes Gedankenmodell, das sich bewährt hat,
zu verändern?
Außerhalb des angeratenen Überprüfungs-Zyklus kann es sich als
notwendig herausstellen, ein bewährtes Modell von Grund auf zu
überarbeiten. Dies kann dadurch gegeben sein, dass sich während der
Lebenszeit dieses Modells die Aspekte seiner Realität kontinuierlich
verändert und erweitert haben, sodass ein flickwerk-artiges Anpassen
dem Gedankenmodell als ganzen nicht mehr gerecht wird. Hier heißt
das Schlagwort: Re-Design.
Sollte es sich jedoch ergeben, dass von einem verwandten Modell für
ein bestehendes, bewährtes Gedankenmodell mit einem Male gewisse
passende Zusatz-Informationen zur Verfügung stehen, muss der Versuch
als sinnvoll angesehen werden, diese in das bisherige Modell homogen
zu integrieren.
Modelle geben Anleitung bei Gedanken und Handlungen; das ist eine
ihrer Aufgaben. Ist die persönliche Freiheit somit eingeschränkt,
sobald ein Gedankenmodell zur Anwendung kommt?
Wenn den Schluss-Folgerungen, den Leitlinien und den Anordnungen
eines Modells Folge geleistet wird, schränkt dies den
Handlungsspielraum naturgemäß ein. Gerade das ist die eigentliche
Aufgabe eines Gedankenmodells, eine ordnende Struktur anzubieten, um
die Abwicklung von Aktionen zu erleichtern.
Worin jedoch weiterhin Freiheit besteht, das sind einerseits die
Auswahl des Modells bzw. gewisser Aspekte aus einem Modell und
anderseits die Möglichkeit, ein einmal gewähltes Modell durch ein
anderes, passenderes zu ersetzen. Somit bleibt die persönliche
Freiheit gewahrt.
Können von Modellen Gefahren aus gehen?
Wenn ein Gedankenmodell Fehlschlüsse eingebaut hat, kann das bei
seiner Anwendung negative Auswirkungen haben. Der Fehler liegt hier
beim Autor des Modells. Wird jedoch ein grundsätzlich korrektes
Gedankenmodell für etwas herangezogen, wofür es nicht zuständig ist
oder wofür es wegen fehlender Detail-Ausstattung nicht genügen kann,
dann liegt ein Modell-Missbrauch vor. Hier liegt das Fehlverhalten
beim Modell-Anwender.
Somit sind Gedankenmodelle ihres Hanges zur Komplexität wegen stets
mit größter Sorgfalt aufzubauen und mit eben derselben Sorgfalt auch
auszuwählen.
Wenn Gedankenmodelle sowohl wartungs-intensiv, als auch komplex, als
auch in der Anwendung gefährlich sein können, wäre es dann nicht
besser, zu versuchen, ohne sie auszukommen?
Auch wenn es möglich wäre, ohne Modelle zu leben, bliebe die
Realität komplex und das Leben selbst gefährlich. Modelle kann man
jedoch nicht ausblenden; sie können nicht weggelassen werden; sie
sind einfach da und stehen zwischen uns und der von uns
wahrgenommenen Realität. Diese Brille kann nicht abgenommen werden!
Was ist das größte Missverständnis im Zusammenhang mit einem
Gedankenmodell?
Dass seine Beziehung zur Realität, zum Autor und zum Modell-Anwender
verkannt oder missdeutet wird. Wenn etwa das Modell als solches und
sein Einfluss übersehen werden, wird auch die Möglichkeit übersehen,
mit der Wirklichkeit anders umzugehen, als es gerade geschieht. Oder
wenn nicht begriffen wird, dass beim Umgang mit Wirklichkeit Deutung
im Spiel ist, versperrt sich in einer weltanschaulichen
Konfrontation oftmals verhängnisvoll ein rettender Ausweg vor der
Katastrophe des „Recht-haben-müssens“ um jeden Preis.
Schluss-Bemerkung
Ein Gedankenmodell zeigt uns die Realität.
Ein Gedankenmodell ist die Realität aber nicht selbst.
Ein Gedankenmodell ist ein Modell.
Die Wirklichkeit ist etwas ganz anderes.
Literatur
1) Die Darstellung des Falles „Elisabeth v. R.“ als Behandlung durch
Sigmund Freud ist zur Gänze folgendem Werk entnommen:
Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die
Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 81 ff.
2) Freud, Sigmund (1895a) Beiträge. In J. Breuer & S. Freud (1895),
40-148, 204-246
3) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die
Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 83.
4) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die
Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 81-82.
5) Thomas Slunecko, Gernot Sonneck (Hrsg.) Einführung in die
Psychotherapie Wien, Facultas-Univ.-Verl., 1999 - Seite 84-85
6) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist –
Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im
Breisgau 1994, 2004. Seite 268
7) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist –
Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im
Breisgau 1994, 2004. Seite 330
8) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist –
Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im
Breisgau 1994, 2004. Seite 291
9) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist –
Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im
Breisgau 1994, 2004. Seite 292
10) Anthony de Mello (1994) Wo das Glück zu finden ist –
Weisheitsgeschichten für jeden Tag – Verlag Herder, Freiburg im
Breisgau 1994, 2004. Seite 293
11) P. Frenzel, W.W. Keil, P.F. Schmid, N. Stölzl (Hrsg) (2001)
Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie Fakultas Univ.-Verlag
Wien, Seite 67 f.
12) Elisabeth Lukas (2002) Lehrbuch der Logotherapie Profil Verlag
GmbH München, Wien. Seite 14 u. 16.
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