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Andreas Prescher

 
Klientenzentrierte Interaktion mit geistig behinderten Menschen

von Andreas Prescher
Geistige Behinderung – Was ist das?

Geistige Behinderung gehört zu dem was ich auf die Welt mitbringe – wie die Haarfarbe, die Körpergröße, das Temperament. Sie ist eine Eigenart, die mir bis zum Tode eigen ist. (Dörner und Plog)

Personen, die infolge von angeborenen Leiden, Geburtsfehlern, Krankheiten, Unfällen oder aus sonstigen Gründen dauernd oder langfristig an körperlichen, geistigen Gebrechen oder seelischen Störungen leiden und deshalb nicht ohne besondere Hilfen voll am Leben der Gemeinschaft teilhaben können. (Bertelsmann Lexikon)

Geistige Behinderung ist keine Krankheit, und weil sie keine Krankheit ist, setzen sich geistig behinderte Menschen so wie alle anderen mit ihrer Umgebung auseinander. Sie zeigen, was sie wollen und was ihnen nicht gefällt. Sie grenzen sich ab und wagen sich an Grenzen. Sie freuen sich, wenn sie erreichen, was sie wollen und sie werden wütend, wenn ihnen das nicht gelingt. In schwierigen Situationen versuchen sie die für sie bestmögliche Lösung zu finden und sie greifen zu den Strategien, die sie am schnellsten und effektivsten zu ihrem Ziel bringen – wie eben alle anderen auch! (Elbing)

Die Menschen, die von den sogenannten Normalen als geistig behindert beschrieben werden, verfügen über Fähigkeiten und Fertigkeiten, die uns zum großen Teil entweder nicht bekannt oder fremd sind. Sie sind äußerst kreativ (z.B. in der Art, sich immer wieder neue Verhaltensweisen zu erdenken, die die Eltern und Professionellen an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten führen). Viele geistig behinderte Menschen lügen nicht, alle haben ein unfehlbares Gespür für Unsicherheit.
Häufig verfügen sie über ein herausragendes Langzeitgedächtnis oder reproduzieren eine unglaubliche Menge von gespeicherten Daten.
Wie geistig behinderte Menschen denken, fühlen, wahrnehmen und ver- arbeiten, wissen wir nicht. Insofern ist der Schluss naheliegend, dass sie anders sind.
Therapeutische Konzepte, die den geistig behinderten Menschen ... "als handelndes Subjekt mit individuellen Ressourcen und eigener Verantwort- lichkeit ansehen, die sich weniger für die Ursachen der Behinderung in- teressieren, sondern stärker die aktuellen, individuellen und familiären Ressourcen therapeutisch zu nutzen suchen" (Hennicke&Rotthaus1993), entsprechen unserem Menschenbild und somit auch unserer therapeutischen Grundhaltung.
Aus diesen Gründen formulieren wir die Zuschreibung "geistig behindert" um in den Begriff "anders-fähig". (Rohmann)

 

Problem – Quellen im Zusammenleben

Geistig behinderte (anders-fähige) Menschen greifen wie alle Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt auf die bestmögliche Strategie zurück, die ihnen zur Verfügung steht. Die Wahl der bestmöglichen Strategie kann jedoch für dasselbe Anliegen sehr verschieden sein. Nicht behinderte Menschen können z.B. auf viele Weisen zum Ausdruck bringen, dass ihnen beispielsweise ein Essen nicht schmeckt und dass sie es als Zumutung empfinden, davon einen ganzen Teller zu essen. Wie aber können dies Menschen ausdrücken, die über keine Sprache verfügen und die sich außerdem einem nicht behinderten Menschen gegenüber sehen, der den Schlüssel zur Küche und folgende Auffassung hat: "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, und der Teller wird leer gegessen"? Den Teller an die Wand zu werfen oder aber ihn brav auszuessen und anschließend zu erbrechen, können unter diesen Umständen durchaus geeignete Maßnahmen sein. Allerdings um einen Preis: Nach solchen Aktionen (und vor allen Dingen, wenn sie einige Male erfolgreich waren) hängt um den Hals ein unsichtbares Schild: "Vorsicht! Verhaltensgestört!"

Es gibt eine weitere Quelle, die das Zusammenleben oft schwierig macht. Sie entspringt aus dem Umstand, dass geistig behinderte (anders-fähige) Menschen in sehr schwierigen Lebenssituationen bestimmte Bewältigungsstrategien entwickeln und diese Strategien auch später noch beibehalten, wenn sich ihre Lebensumstände längst geändert haben. Sie können beispielsweise als Kinder gelernt haben: Den spontanen Widerwillen einer anderen Person, mit einem behinderten Menschen in Kontakt zu treten, überwinden sie am besten dadurch, dass sie mit einem entwaffnenden sonnigen Lachen die betreffende Personen in den Arm nehmen. Als Jugendlicher und Erwachsener behalten sie diese einstmals erfolgreiche Strategie bei. Was früher einmal eine gute Idee war, wird nun zur Beeinträchtigung und ihre einstmals erfolgreiche Strategie beginnt, sie zusätzlich zu behindern. Sie geben sich wie zu groß geratene Kinder und werden auch von der Umgebung gerne so behandelt. Damit ist die einstmals erfolgreiche Lösung zum Bumerang für die eigene Entwicklung geworden.
Gute Lösungen zu entwickeln, die später als Bumerang zurückkommen, ist nun keineswegs geistig behinderten (anders-fähigen) Menschen vorbehalten. Die Menschen, die mit ihnen leben und arbeiten, haben in ihrem eigenen Leben ebenfalls einmal Lösungen entwickelt, die jetzt (nicht nur) im Kontakt mit geistig behinderten (anders-fähigen) Menschen ebenfalls zum Handicap werden. Auf diese Weise kann es geschehen, dass sich geistig behinderte (anders-fähige) Menschen wie nicht behinderte Menschen gegenseitig in ihrer Entwicklung behindern und in ihrer Persönlichkeitsentfaltung lähmen. Aktenkundig wird diese wechselseitige Lähmung in der Regel als Verhaltensauffälligkeit oder -störung, die man schließlich dem geistig behinderten (anders-fähigen) Menschen attestiert - zumal dann, wenn die nicht behinderten Menschen, die mit ihnen leben und arbeiten, Profis sind, die gelernt haben, für bestimmte Erscheinungen medizinische oder psychologische Begriffe zu benutzen.
 

Was macht klientenzentrierten Umgang aus?

 

Mit Grenzen hatte ich ein paar Probleme, bevor ich diese in mein Mind-Map aufnehmen wollte. Sind Grenzen im Sinne meiner Klienten?

Nach ein paar Überlegungen wurde mir dann aber bewusst, dass es sich bei meiner Arbeit um keinen therapeutischen oder ähnlichen Prozess handelt, sondern um Berufsalltag. Ich arbeite mit keinem einzelnen Klienten sondern ich bin Gruppenprozessen ausgeliefert. Innerhalb dieser Gruppenprozesse stehen die Bedürfnisse aller Gruppenmitglieder an erster Stelle. Ohne festgelegte Gruppenregeln kann in solchen Situationen kein kontinuierlicher Arbeitsprozess entstehen.

Jedes Gruppenmitglied sollte auch, unabhängig seiner Behinderung, lernen, welche Konsequenzen es haben kann, sich außerhalb dieser Grenzen zu bewegen. Es kann z.B. nicht angehen, dass ein Gruppenmitglied permanent die Getränke seiner Arbeitskollegen austrinkt. In solchen oder ähnlichen Situationen bin ich auch als Autoritätsperson gefordert.

Das Bewusstsein einer gegenseitigen Akzeptanz ist mir hierbei besonders wichtig.

Selbstbestimmung möchte ich meinen Klienten in allen möglichen Situationen bieten, die der Berufsalltag bereit hält. Wenn die Arbeitsaufträge es erlauben und es in der Gruppe zu keinen Streitigkeiten deshalb kommen sollte, dürfen sich Klienten bei mir Arbeiten oder Arbeitsschritte aussuchen, welche ihnen im Moment am meisten Spaß bereiten.

Ziel dieser Vorgehensweise ist die Motivation der Klienten. Ich selbst gehe an eine selbstgewählte Aufgabe motivierter, als an eine aufdiktierte Tätigkeit. Gleichfalls trainiere ich damit die Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung meiner Klienten. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Klienten sich für genau die Tätigkeit entscheiden, die sie weder über- noch unterfordern.

In unserer Werkstatt bieten wir unseren Klienten im Arbeitstrainingsbereich sogar die Möglichkeit, Ausbildungsschwerpunkte selbst zu entscheiden. Das heißt, alle müssen innerhalb des ersten Jahres ein Praktikum in jeder der vier Produktionsabteilungen absolvieren. Zum Beginn des zweiten Jahres dürfen sie sich für zwei Abteilungen entscheiden, in denen sie dann schwerpunktmäßig weiter ausgebildet werden. Am Ende des Arbeitstrainingsbereiches werden sie in eine der Abteilungen wechseln, für die sie sich selbst entschieden haben.

Ich glaube Echtheit im Umgang mit geistig behinderten (anders-fähigen) Menschen ist besonders wichtig. Am Anfang ist da sehr viel Angst. Angst sich auf den anderen, geistig behinderten (anders-fähige) Menschen einzulassen. Angst ihn nicht zu verstehen. Und schließlich die entscheidenden Frage: Liegt ein Scheitern der Beziehung an seinem oder an meinem eigenen Unvermögen?

Echtheit ist in soweit wichtig, da ich mir vorstellen kann, dass sich auch der geistig behinderte (anders-fähige) Mensch die Frage nach dem Unvermögen stellt und oft uns „Normale“ bei Missverstehen anzweifelt.
Auch empfinde ich es als wichtig in den eigenen Aussagen echt und eindeutig zu bleiben. Nicht jeder wird sprachliche Unterscheidungen wie Ironie etc. verstehen können. Ergebnis wäre vermutlich eine Hilflosigkeit, welche der Beziehung eher schaden würde.

Es gibt bei geistig behinderten (anders-fähigen) Menschen eine unzählige Vielfalt an Verhaltensschemata, welche selbst den tolerantesten Menschen an die Grenzen der Weißglut treiben können. In meiner Gruppe gibt es den Mitarbeiter S.
S. stellt den ganzen lieben langen Tag eine Frage nach der anderen. Da ich das Gefühl habe, dass diese Fragen auf irgend eine Art und Weise wichtig für ihn sind, versuche ich diese Fragen ehrlich und offen zu beantworten. Um aber auch mir gegenüber echt zu bleiben, versuche ich in Situationen in denen ich die Fragerei nicht mehr ertragen kann, ihm die Situation wertschätzend darzustellen, biete ihm aber auch die Möglichkeit sich vielleicht die Frage selbst zu beantworten.

In meiner Arbeit sehe ich zu diesem Punkt an erster Linie die Akzeptanz den anderen so sein zu lassen wie er ist. Ich möchte ihm das Gefühl vermitteln, dass ich ihn so wie er ist als Mensch akzeptiere, mit seinem Anderssein und seinen Behinderungen.

Wenn er nicht sprechen möchte, bzw. nur das allernötigste, dann ist das für mich okay. Ich werde natürlich versuchen die Beziehung zu ihm so zu gestallten, dass er etwas mehr als bisher redet. Im konkreten Fall sieht es sogar so aus, dass der Betreffende in meiner Abteilung Telefondienst führt und alle Gespräche annehmen darf. Dieser Erfolg hat sich aber nicht aus der Tatsache entwickelt, dass ich ihn zum Sprechen überredet habe, sondern ist auf fast nicht nachvollziehbare Weise freiwillig entstanden.

Akzeptanz bedeutet für mich auch, dass ich nicht defizitorientiert arbeiten möchte. Die Fähigkeiten die der Mitarbeiter in meiner Abteilung mitbringt sind viel wert, werden als wertvoll anerkannt. Alles was ich noch tun kann ist diese Fähigkeiten weiter auszubauen. „Du bist in der Montage von diesen Teilen sehr gut. Vielleicht schaffen wir es noch, dass du die Qualitätsendkontrolle für diese Arbeit übernehmen kannst.“

Dörner und Plog schreiben: „Beim geistig Behinderten ist es besonders klar Die Haltung >Ich verstehe dich< ist unmöglich. Der Andere ist zu fremd...
...also ist nur die Haltung möglich >Ich verstehe dich nicht, aber vielleicht – innerhalb unserer Beziehung – verstehe ich mich auf dich.<“
Mir ist es wichtig dem behinderten Menschen deutlich zu machen, dass es mir daran liegt ihn zu verstehen. Auch wenn seine Verhaltensweisen zu unklar werden.

- Klientin C. zeigt von einer Sekunde auf die andere einen totalen Stimmungswechsel. Eben noch lustig sitzt sie Tränen überströmt, den Kopf in die Arme vergraben auf ihrem Stuhl. Es gab keine beobachtbare Situation als Auslöser.
- Klient T. liebt es Dinge zu stapeln bis sie umfallen um leise in sich zu lachen.
- Klientin G. wechselt von einer Sekunde auf die andere ihren Freund. Sie stellt fest, dass sie jetzt lieber mit S. zusammen ist als mit V. Klient V. reagiert erst eifersüchtig beglückwünscht später aber S. zu seiner neuen Freundin.
- Klient M. nutzt jede sich ihm bietende Gelegenheit sich selbst zu verletzen. Sitzt er in der Nähe eines Tisches lässt er sich sofort mit dem Kopf auf die Tischkante fallen.
- Klient F. drückt sich (fast ständig) Daumen und Zeigefinger tief in die Augenhöhlen, so dass die Augen selbst fast herausfallen.

Es gibt ein Vielzahl von Verhaltensweisen die für mich nicht zu verstehen sind, die aber mein Interesse wecken sie zu verstehen. Dieses Interesse lässt sich gut in dem Satz: „Nimm mich mit, bei dem was du tust, bist, denkst und fühlst.“ ausdrücken. Allerdings musste ich auch akzeptieren lernen, dass ich durchaus nicht alles verstehen muss.

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Bei der Beispielsuche für die einzelnen Punkte ist mir immer wieder erneut aufgefallen, wie eng diese Faktoren zusammengehören. Dass Emphatie eng mit Akzeptanz und Echtheit verbunden ist und einzeln kaum aufzufinden sind, sondern zu einer gesamten Einstellung verschmelzen müssen.


Mir ist ein Text einer Freundin in die Hände gefallen, die ihre Gedanken zum Umgang mit schwer geistig behinderten Menschen, wie ich finde treffend formulierte. Diese Zeilen möchte ich ohne Erklärungen einfach als Abschluss dieser Ausarbeitung anhängen und möchte jedem empfehlen sich auf dieses Abenteuer einmal selbst einzulassen.

Ich gehe mit dir spazieren. Schweigend laufen wir nebeneinander her. Plötzlich reißt du dich los und stürzt dich ins nächste Gebüsch, ich bleibe stehen und warte bis du aus diesem Abenteuer in deinem neuentdeckten Urwald, glücklich mit dir und deinen Entdeckungen zufrieden, zu mir auf den Weg zurückkehrst. Von nun an hüpfst du fröhlich neben mir her und ich lasse mich, ohne den genauen Grund deiner Freude wirklich zu kennen, einfach von dir mitreißen. Wir werden schneller und plötzlich wieder langsamer. Wir springen an uns entgegen kommenden Spaziergängern vorbei und manchmal, wenn du gerade Lust dazu hast, gehst du völlig unvermittelt auf eine fremden Hund zu, so dass es mir selbst ganz unheimlich wird und ich gebannt und angstvoll auf das Zufassen des Hundes und deinen Schmerzenschrei warte. Doch nichts der gleichen geschieht. Der Hund und du, ihr habt eine für uns Umstehende unhörbare Abmachung getroffen, ihr bedürft keiner Worte um euch zu verständigen, immer wieder aufs neue schwer, dies zu begreifen und hinzunehmen, den immer wieder siegt das Bewusstsein, dass ich ja eigentlich für dich verantwortlich bin und dich wieder wohlbehalten zu Hause abliefen sollte. Wir laufen weiter und langsam legt sich der Schreck bei mir und ich gebe mich wieder unbefangen deinen Ideen, die in deiner ureigenen Welt entstehen hin, ohne jemals ein Wort der Erklärung von dir zu bekommen. Doch seit wir uns kennen hab ich mit jedem Tag mehr begriffen, dass um zueinander zu finden es keiner Worte bedarf. Im Gegenteil: Wenn ein Mensch spürt, dass ein anderer ihn annehmen will und ihn so akzeptiert wie er ist, sind mit einem mal alle äußeren Grenzen überwunden. Sprache, Artikulation von Wünschen und Vorstellungen sind alles Mittel um einen Menschen, der einen selbst nicht richtig kennt, seine Welt nahe zubringen. Um sich mit einem Menschen auch ohne Worte zu verstehen braucht es im Grunde nur den Mut sich auf ihn einzulassen und auf einmal ist er nicht mehr ein Bewohner für dessen Wohlbefinden du verantwortlich bist, sondern ein guter Freund der dich in seine Welt reinspickeln lässt, dir die Hand reicht und dich vergessen lässt, wer von uns Beiden eigentlich der Behinderte und Schutzbedürftige ist.

Miriam Baghai, 1996

Andreas Prescher