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Sabine Fiala

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1.3 Die Geschichte von Dorian Gray

Das Bildnis des Dorian Gray (vgl. Oscar Wilde, 2000):
Ebenso wie Narzissos war Dorian Gray ein außergewöhnlich schöner junger Mann, der außerdem von besonders gütigem, rücksichtsvollem und anteilnehmendem Gemüt war.
Diese Eigenschaften erregten die Aufmerksamkeit eines bekannten Künstlers, der es übernahm, ein Portrait von ihm zu malen, ebenso wie von Lord Henry, einem Kunstliebhaber, der es zu seiner Aufgabe machte, Dorian in die Lebensart der feinen Gesellschaft einzuführen.
Durch dessen Schmeicheleien erzeugte Lord Henry in Dorian die Überzeugung, etwas Besonderes zu sein. Es sei seine Pflicht, sich sein gutes Aussehen zu bewahren. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, bestand darin, keinem starken Gefühl zu erlauben, seine Gemütsruhe zu stören oder die Oberfläche seines Körpers zu zeichnen. Dorian wurde von der Sorge um seine Erscheinung ganz in Anspruch genommen und bedauerte, dass das Gemälde ihn immer als einen fröhlichen, strahlenden und schönen jungen Mann zeigen würde, während er selbst den Prozessen des Alterns und Verfalls hingegeben sein würde. Er betete, dass es doch umgekehrt sein möge, und so kam es.
Er verlebte die Jahre, ohne dass sein Gesicht und sein Körper Spuren von Alter oder Leid zeigten. Mit fünfzig sah er aus, wie er mit zwanzig ausgesehen hatte. Keine Falte oder Furche, die die Sorgen und Nöte des Lebens widergespiegelt hätte, verunzierte sein Gesicht. Sein Geheimnis war das Bildnis, das alterte und die Hässlichkeit eines ohne Gefühl verbrachten Lebens zeigte. Aber Dorian versteckte das Bild und betrachtete es niemals.
Sein Leben verbrachte er aufgrund mangelnder Gefühle auf der Suche nach Sensationen.
Ohne sich der Wirklichkeit seines Lebens und seiner Verantwortung zu stellen, lebte er ohne Gewissensbisse ob der Spur der Verwüstung, die er in anderen auslöste.
Erst als er seine Neugier auf das Bild und seine wachsende innere Qual nicht mehr beherrschen konnte, enthüllte er sein verstecktes Bildnis und aus Entsetzen über seinen verzerrten, gequälten Ausdruck in dem gealterten Gesicht vernichtete er das Bild mit seinem Messer.
Ein Diener fand ihn am nächsten Morgen mit einem Messer im Herzen.
Die anfängliche äußere und innere Schönheit des Dorian Gray war echt, keine bloße Fassade. In seinem Fall war das Versprechen von Macht, Liebe, Reichtum oder Stellung eine Verführung, die (damals wie in der heutigen Kultur) ihn dazu gebracht hat, sich nicht mehr vom Leben berühren zu lassen, die inneren Ereignisse nicht an die Oberfläche des Bewusstseins bzw. des Körpers dringen zu lassen. Das Altern fand im Inneren statt.
 

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