Das Bildnis des Dorian Gray (vgl. Oscar Wilde, 2000):
Ebenso wie Narzissos war Dorian Gray ein außergewöhnlich schöner
junger Mann, der außerdem von besonders gütigem,
rücksichtsvollem und anteilnehmendem Gemüt war.
Diese Eigenschaften erregten die Aufmerksamkeit eines bekannten
Künstlers, der es übernahm, ein Portrait von ihm zu malen,
ebenso wie von Lord Henry, einem Kunstliebhaber, der es zu
seiner Aufgabe machte, Dorian in die Lebensart der feinen
Gesellschaft einzuführen.
Durch dessen Schmeicheleien erzeugte Lord Henry in Dorian die
Überzeugung, etwas Besonderes zu sein. Es sei seine Pflicht,
sich sein gutes Aussehen zu bewahren. Eine Möglichkeit, dies zu
erreichen, bestand darin, keinem starken Gefühl zu erlauben,
seine Gemütsruhe zu stören oder die Oberfläche seines Körpers zu
zeichnen. Dorian wurde von der Sorge um seine Erscheinung ganz
in Anspruch genommen und bedauerte, dass das Gemälde ihn immer
als einen fröhlichen, strahlenden und schönen jungen Mann zeigen
würde, während er selbst den Prozessen des Alterns und Verfalls
hingegeben sein würde. Er betete, dass es doch umgekehrt sein
möge, und so kam es.
Er verlebte die Jahre, ohne dass sein Gesicht und sein Körper
Spuren von Alter oder Leid zeigten. Mit fünfzig sah er aus, wie
er mit zwanzig ausgesehen hatte. Keine Falte oder Furche, die
die Sorgen und Nöte des Lebens widergespiegelt hätte,
verunzierte sein Gesicht. Sein Geheimnis war das Bildnis, das
alterte und die Hässlichkeit eines ohne Gefühl verbrachten
Lebens zeigte. Aber Dorian versteckte das Bild und betrachtete
es niemals.
Sein Leben verbrachte er aufgrund mangelnder Gefühle auf der
Suche nach Sensationen.
Ohne sich der Wirklichkeit seines Lebens und seiner
Verantwortung zu stellen, lebte er ohne Gewissensbisse ob der
Spur der Verwüstung, die er in anderen auslöste.
Erst als er seine Neugier auf das Bild und seine wachsende
innere Qual nicht mehr beherrschen konnte, enthüllte er sein
verstecktes Bildnis und aus Entsetzen über seinen verzerrten,
gequälten Ausdruck in dem gealterten Gesicht vernichtete er das
Bild mit seinem Messer.
Ein Diener fand ihn am nächsten Morgen mit einem Messer im
Herzen.
Die anfängliche äußere und innere Schönheit des Dorian Gray war
echt, keine bloße Fassade. In seinem Fall war das Versprechen
von Macht, Liebe, Reichtum oder Stellung eine Verführung, die
(damals wie in der heutigen Kultur) ihn dazu gebracht hat, sich
nicht mehr vom Leben berühren zu lassen, die inneren Ereignisse
nicht an die Oberfläche des Bewusstseins bzw. des Körpers
dringen zu lassen. Das Altern fand im Inneren statt.