Nach dem griechischen Mythos war Narzissos ein hübscher junger
Schauspieler, in den sich die Nymphe Echo verliebte. Hera, die
Gemahlin des Zeus, hatte Echo die Sprache genommen; Echo konnte
nur noch die letzten Silben der Wörter wiederholen, die sie
hörte. Da sie ihrer Liebe zu Narzissos nicht Ausdruck geben
konnte, wurde sie von ihm verschmäht und starb an gebrochenem
Herzen. Nun bestraften die Götter Narzissos, weil er Echo so
gefühllos behandelt hatte, und ließen ihn sich in sein eigenes
Abbild verlieben. Der Seher Teiresias hatte vorhergesagt,
Narzissos werde so lange leben, bis er sich selbst erblicke.
Eines Tages, als Narzissos sich über das klare Wasser einer
Quelle beugte, erblickte er sein Spiegelbild im Wasser. Er
verliebte sich leidenschaftlich in sein Abbild und weigerte
sich, den Ort zu verlassen. Er starb vor Schwäche und
verwandelte sich in eine Blume- die Narzisse, die in
Quellgründen wächst.
Narzissos ließ sich täuschen von seinem Spiegelbild, in dem es
nur den vollkommenen, groß-artigen Teil von ihm spiegelt, nicht
aber die anderen Seiten. Seine Rückseite z.B., und sein Schatten
bleiben ihm verborgen, gehören nicht zum geliebten Spiegelbild,
werden ausgeklammert.
Dieses Stadium des Entzückens ist mit der Grandiosität zu
vergleichen, wie das nächste – die verzehrende Sehnsucht nach
sich selbst – mit der Depression. Narzissos wollte nichts
anderes als der schöne Jüngling sein, verleugnete sein wahres
Selbst, wollte sich mit dem schönen Bild vereinigen. Das führte
zur Selbstaufgabe, zum Tod bzw. zur Verwandlung in die Blume.
Dieser Tod ist eine logische Konsequenz der Fixierung auf das
falsche Selbst. Denn nicht nur die schönen, guten, gefälligen
Gefühle lassen uns lebendig sein, sondern oft gerade die
unbequemen, unangepassten wie Scham, Ohnmacht, Neid, Eifersucht
und Trauer vertiefen unser Da-Sein, und gewähren uns
entscheidende Einsichten.
Der Narzissos ist in sein idealisiertes Bild verliebt, aber
weder der grandiose noch der depressive Narzissos kann sich
wirklich lieben. Seine Begeisterung für sein falsches Selbst
verunmöglicht ihm nicht nur die Objektliebe, sondern auch und
vor allem die Liebe zu dem einzigen Menschen, der ihm voll und
ganz anvertraut ist - zu ihm selber (vgl. A. Lowen, S. 38f.).