www.personcentered.net

Inhaltsverzeichnis

Sabine Fiala

nächste Seite

 

1.2 Die Sage von Narzissos

Nach dem griechischen Mythos war Narzissos ein hübscher junger Schauspieler, in den sich die Nymphe Echo verliebte. Hera, die Gemahlin des Zeus, hatte Echo die Sprache genommen; Echo konnte nur noch die letzten Silben der Wörter wiederholen, die sie hörte. Da sie ihrer Liebe zu Narzissos nicht Ausdruck geben konnte, wurde sie von ihm verschmäht und starb an gebrochenem Herzen. Nun bestraften die Götter Narzissos, weil er Echo so gefühllos behandelt hatte, und ließen ihn sich in sein eigenes Abbild verlieben. Der Seher Teiresias hatte vorhergesagt, Narzissos werde so lange leben, bis er sich selbst erblicke.
Eines Tages, als Narzissos sich über das klare Wasser einer Quelle beugte, erblickte er sein Spiegelbild im Wasser. Er verliebte sich leidenschaftlich in sein Abbild und weigerte sich, den Ort zu verlassen. Er starb vor Schwäche und verwandelte sich in eine Blume- die Narzisse, die in Quellgründen wächst.
Narzissos ließ sich täuschen von seinem Spiegelbild, in dem es nur den vollkommenen, groß-artigen Teil von ihm spiegelt, nicht aber die anderen Seiten. Seine Rückseite z.B., und sein Schatten bleiben ihm verborgen, gehören nicht zum geliebten Spiegelbild, werden ausgeklammert.

Dieses Stadium des Entzückens ist mit der Grandiosität zu vergleichen, wie das nächste – die verzehrende Sehnsucht nach sich selbst – mit der Depression. Narzissos wollte nichts anderes als der schöne Jüngling sein, verleugnete sein wahres Selbst, wollte sich mit dem schönen Bild vereinigen. Das führte zur Selbstaufgabe, zum Tod bzw. zur Verwandlung in die Blume.
Dieser Tod ist eine logische Konsequenz der Fixierung auf das falsche Selbst. Denn nicht nur die schönen, guten, gefälligen Gefühle lassen uns lebendig sein, sondern oft gerade die unbequemen, unangepassten wie Scham, Ohnmacht, Neid, Eifersucht und Trauer vertiefen unser Da-Sein, und gewähren uns entscheidende Einsichten.
Der Narzissos ist in sein idealisiertes Bild verliebt, aber weder der grandiose noch der depressive Narzissos kann sich wirklich lieben. Seine Begeisterung für sein falsches Selbst verunmöglicht ihm nicht nur die Objektliebe, sondern auch und vor allem die Liebe zu dem einzigen Menschen, der ihm voll und ganz anvertraut ist - zu ihm selber (vgl. A. Lowen, S. 38f.).
 

Inhaltsverzeichnis

Sabine Fiala

nächste Seite